Das Spielejahr 2016 - Hol's der Teufel?

Ein Rückblick auf das Spielejahr 2016 – muss das sein? Heinrich Lenhardt würde lieber tief ins Sektglas gucken, um die Endlosfortsetzungen und AAA-Patzer der letzten zwölf Monate zu verdrängen.

Queen Elizabeth II., der ich mich seit Begutachtung der Netflix-Serie The Crown besonders verbunden fühle, verwendete 1992 den Begriff »annus horribilis«, zu Deutsch: Schreckensjahr. Gescheiterte Königskinderbeziehungen, abgebrannte Paläste, da darf man bei einer Rede zum 40. Thronjubiläum schon mal seinen Unmut zum Ausdruck bringen: »Es ist kein Jahr, auf das ich mit ungeteilter Freude zurückblicke«, sprach die Queen. Ein eleganter Satz, den ich mir gerne für meine 2016-Beurteilung ausborge.

Ein derart krudes Jahr sollte man eigentlich umtauschen können. Da war zum einen die deprimierende Menge an verstorbenen Musiklegenden, von David Bowie über Prince bis Leonard Cohen. Vom politischen Weltgeschehen mal ganz zu schweigen: Kriege, Terror, Brexit, Donald Trump - bitte unter der Decke verkriechen und ganz schnell abhaken.

Wenigstens können wir uns in Computerspielen von den unerfreulichen Seiten des Alltags erholen. Sollte man zumindest meinen. Denn eine Fülle verpasster Gelegenheiten und Beinahe-Meisterwerke macht den Software-Jahrgang 2016 erstaunlich unbefriedigend.

Der Autor
Heinrich Lenhardt (51) berichtet seit 1984 über Spiele und war schon bei der GameStar-Erstausgabe im Autorenteam. Er konzipierte und leitete eine Reihe von Spiele-Zeitschriften, darunter Power Play (1987), PC Player (1992) und buffed-Magazin (2007). In seiner Freizeit schreibt er E-Books wie »Lenhardts Spielejahr 1984« und plaudert beim Spieleveteranen-Podcast mit. Neben 1996 (Diablo, Quake, Tomb Raider) hält er 2004 für einen der besten PC-Spielejahrgänge, denn da erschienen Half-Life 2, World of Warcraft, Far Cry und Die Sims 2.

Jahr der verpatzten Beinahe-Klassiker

Normalerweise habe ich wenig Schwierigkeiten, ein persönliches Spiel des Jahres zu nennen, welches mich rundum fasziniert hat und das ich bedenkenlos weiterempfehle. Doch 2016 war ein »Ja, aber«-Jahr, bei denen ansatzweise großartige Titel durch selbstverschuldete Schludrigkeiten um höhere Weihen gebracht wurden.

Da führt Civilization 6 die Strategieserie in ihrem 25. Jahr forsch voran, fügt dem Spielablaufuhrwerk interessante neue Zahnrädchen bei - und ruiniert das große Ganze durch dubiose Künstliche Intelligenz. No Man's Sky fasziniert mit galaktischer Entdeckung und zaubert seufzerschöne Welten auf den Bildschirm - vergisst aber, seinem endlosen Rohstoffraffen Sinn und Zweck zu verleihen. Overwatch macht so ziemlich alles richtig, worauf es bei einem Online-Team-Shooter ankommt - aber Vollpreis ohne Story und Einzelspieler-Modus gehört sich nicht.

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Bei Watch Dogs 2 wird die San Francisco Bay Area zur einladenden Open-World-Spielwiese mit vielseitigen Aufgaben - verhunzt durch eine idiotische Hintergrundstory mit den anstrengendsten Charakteren des Jahres. Mafia 3 frustriert andersherum, da packen Story, Dialoge und Inszenierung der ersten Stunden - nur um dann mit Missionswiederholungen in So-Lala-Kulisse zu enttäuschen.

Selbst wenn ich das Highlight aus dem Konsolenlager miteinbeziehe, gibt es einen Haken: Uncharted 4 hat eine unglaublich unterhaltsame Story voller sympathischer Charaktere und witziger Dialoge, holt tolle Landschaftsgrafiken aus der PS4 und ist umfangreich … so umfangreich, dass die Wiederholungen der altbackenen Spielelemente umso unangenehmer auffallen. Mein Bedarf an Mauervorsprüngen ist bereits für das gesamte nächste Jahr gedeckt.

Watch Dogs 2 - Test-Video zur Hacker-Action Video starten 8:39 Watch Dogs 2 - Test-Video zur Hacker-Action

Ist das zu viel verlangt?

Vielleicht liegt es ja nur an mir. Wenn ich morgens (gnädigerweise vor Einsetzen der Kontaktlinsen) in den Badezimmerspiegel blicke, frage ich mich: Was ist aus mir geworden? Habe ich mich in eines dieser verbitterten Anspruchsdenken-Monster verwandelt, die alles verdammen, was nicht spielerische Perfektion und 100+ Stunden Inhalte liefert, am besten für unter 20 Euro? Und waren gestern schon so viele Bartstoppel grau?

Nein, ganz so schlimm ist es nicht (höchstens bei den Bartstoppeln). Meine Reue hält sich in Grenzen, das in die oben angesprochenen Titel investierte Geld war keine Verschwendung. Auch wenn ich nicht kapiere, wie bei den Entwicklungsstudios so offensichtliche Schwächen durchgehen konnten, habe ich meinen Spaß gehabt. Ein Versiegen der grundsätzlichen Spielelust ist nicht messbar, das beruhigt auch den Hausarzt.

Es fehlt mir nur das eine Spiel, bei dem ich voll überzeugt auf die Tischkante hauen kann, der rundum begeisternde Jahrgangsbeste ohne nachgeschobenes »ja, aber«. Vielleicht muss ich ihn nur noch spielen, auf meiner Nachholliste stehen klangvolle Namen wie Dishonored 2. Aber auch wenn diese Fortsetzung noch so gut gemacht ist wirkt die Berechenbarkeit des abgelaufenen Spielejahres irgendwie enttäuschend. Und fällt umso stärker auf, wenn wir uns an die Klasse von 1996 erinnern.

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2016 gegen 1996

Wir feierten dieses Jahr den 20. Geburtstag von Meilensteinen wie Quake und Diablo, Super Mario 64 und Tomb Raider. Das sind regelrechte Durchbruchspiele, die über Jahrzehnte ganze Genres definiert und mit technischen Glanzleistungen verblüfft haben. Welche Innovation von 2016 wird uns 2036 noch in Erinnerung sein? Der obligatorische Day-One-Monsterpatch? Die totale Vorbesteller-DLC-Verwirrung?

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Sind wir auch bei Spieleankündigungen in der »postfaktischen«-Welt des Trump-Zeitalters angekommen, wo - Hallo, Hello Games! - Versprochenes und Behauptetes nicht unbedingt im fertigen Produkt zu finden ist? Vielleicht muss man in Sachen Kreativität ja schon für originelle Nummerierungen wie Battlefield 1 dankbar sein, das (je nach Zählweise) mindestens schon der siebte Teil der Serie ist. Fortsetzungen und Remakes verdamme ich nicht pauschal, denn da kommen häufig wirklich gute Spiele heraus.

Aber es wird viel wiedergekäut und recycelt, beim Anblick einer icon-übersäten Open-World-Minimap denke ich inzwischen eher »oh, Arbeit« statt »ui, Abenteuer«. Wo ist das Pendant zu den Vorreitern von 1996, als vom Polygon-Shooter über das Action-Rollenspiel bis zum 3D-Action-Adventure wichtige Genrefundamente geschaffen wurden? Ist wirklich schon alles erfunden oder hat einfach die Kostenspirale bei der AAA-Entwicklung den Mut zum Neuartigen komplett ausradiert?

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Unaufgeregte Spiele-Wohlstandsgesellschaft

2016 dürfte als Jahr der routinierten Bequemlichkeit in die Annalen eingehen: Revolutionen sind ausverkauft, aber Komfort und Überfluss haben ja auch etwas für sich. Nach dem Preisverfall von AAA-Spielen kann man inzwischen den Wecker stellen; wer sich einige Monate geduldet, staubt viele Neuerscheinungen kräftig vergünstigt ab.

Abwarten hat zudem den Vorteil, dass inzwischen der eine oder andere Patch Performanceprobleme und ähnliche Kinderkrankheiten zumindest gelindert hat. Früher klagten wir vor allem über den Mangel an Geld, heute ist es der Mangel an Zeit. Das schlechte Gewissen beim Anblick der ungespielten Titel in der Steam-Sammlung verdient fast schon seinen eigenen Fachbegriff (»Wannspielstdumichtis«?).

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Ein Spieler des Jahres 1996 wäre durchaus in Versuchung, in die Zeitmaschine zu steigen. Denn die Zukunft beschert ihm vielleicht weniger epochale Innovationen, aber eine solide Grundversorgung mit Qualitätstiteln für relativ wenig Geld. (Doch dann verrät man ihm, dass der Namenspate des PC-Casinospiels Trump's Castle neuer US-Präsident ist, und schon kehrt er lieber nach 1996 zurück.)

Bitte ein aufregendes neues Jahr

Queen Elizabeth II dürfte die Sache mit dem »annus horribilis« womöglich bereut haben, denn nach ihrer Rede wurde es mit den königlichen Unannehmlichkeiten eher noch schlimmer. Und ganz so harsch möchte ich 2016 dann doch nicht verdammen: Es war ein in spielerischer Hinsicht selten mitreißendes, mitunter frustrierendes, aber auch ein gepflegt unterhaltsames Jahr.

Für 2017 wünsche ich mir dennoch mehr Begeisterungen und Überraschungen, mit weniger »Wie konnten die das vermasseln?«-Zähneknirschen. Bisherige Bleigießversuche produzierten jedoch verdächtig viele Ziffern: eine 7 für Resident Evil, eine 4 für Sniper Elite - auch 2017 scheint öfters auf Nummer sicher zu gehen.

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