Wenn man als Einzelkämpfer ganze Bataillone bezwingen will, empfiehlt sich selten der Frontalangriff. Immerhin haben uns vier Filme gelehrt, dass sogar Rambo seine Probleme nicht durchgehend mit dem schweren MG an der Hüfte zu lösen vermag. Ab und an, ist ein wenig Heimlichtuerei unvermeidlich.
Aber Spielehelden war es nicht immer gegeben, ihre zahlreichen Widersacher den Dolch im Gewande spüren zu lassen. Spiele, die der Aufforderung »Schleich dich!« etwas positives abgewinnen können, sind tatsächlich meist sogar etwas neuerer Bauart. Grund genug für den Darwinisten in uns, die Evolution des Schleichspiels ein mal genauer zu betrachten.
Castle Wolfenstein: Flucht aus dem Nazi-Schloss
Mike Godwin ist ein vielzitierter Mann. Laut dem nach ihm benannten »Godwins Gesetz« bemüht nämlich immer - ganz egal, bei welchem Thema - unweigerlich jemand einen Nazi-Vergleich. Die Frage ist bloß wann, niemals ob. In Internetdiskussionen trifft das mit beängstigender Regelmäßigkeit zu, bei Schleichspielen hingegen stellt sich diese Frage erst gar nicht. Denn die haben gewissermaßen mit den Nazis angefangen - oder besser gesagt: mit der Flucht vor ihnen.
Als Ausbrecher aus dem namensgebenden Castle Wolfenstein (1981) sprechen sowohl Zahl als auch Bewaffnung der Nazis so massiv gegen den Spieler, dass er direkte Auseinandersetzung mit den SS-Schergen vergessen kann. Wir umgehen die Patrouillen also in der 2D-Vogelperspektive und überraschen sie aus dem Hinterhalt. So geben die pixeligen Kerle keinen Laut von sich und außerdem noch ihre ganzen Habseligkeiten her. Wir stehlen allerdings nicht nur Waffen und Munition, sondern auch jede Menge typisch deutsche Schätze, die in Kisten überall in der Burg verteilt liegen. Uniformen helfen uns, unentdeckt zu bleiben, die Angriffspläne der Nazis bringen später die Kriegswende … und Sauerkraut und Bier geben eine nahrhafte, teutonische Mahlzeit ab.
Der Maßkrug ist jedoch Freund und Feind zugleich, denn wer sich im Kampf-Rausch mit den Wachen anlegt, sieht schneller den Game-Over-Bildschirm als er zackig »Achtung!« brüllen kann. Den erleben wir ohnehin ziemlich häufig, einfach ist die Flucht aus der Hakenkreuzburg nämlich nicht. In Deutschland kassiert die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien das Spiel wegen der verfassungsfeindlichen Pixelsymbole übrigens umgehend ein, erst 2012 wird es wieder vom Index entfernt.
Definiert allerdings hat sich Castle Wolfenstein in dieser Ur-Variante weniger durch zweidimensionale Hakenkreuze, sondern einen knüppelharten Schwierigkeitsgrad. Der Spieler ist - untypisch für die damalige Zeit - kein unbesiegbarer Rambo, sondern ein unterbewaffneter, ja beinahe wehrloser Underdog. Der Triumph über frustrierende Trial-and-Error-Passagen ist deshalb umso süßer; auch wenn das minutenlang minutiös geplante Vorgehen an einer anderen Stelle vielleicht in Sekundenschnelle in die Binsen geht.
Thief: Seilpfeil, Moospfeil, Wasserpfeil
Obwohl Castle Wolfenstein bereits alle Kernelemente der modernen Schleichspiele vereint, vergehen 17 Jahre (und mehrere bis heute indizierte Fortsetzungen), bis sich ein Erbe findet: Thief: The Dark Projekt (1998). Meisterdieb Garrett, mit dem wir in der Ego-Perspektive auf nächtliche Raubzüge gehen, teilt mit dem namenlosen Flüchtling von 1981 viel mehr als nur die Furcht vor der Gefängniszelle. Von den Wachen der reichen Herrschaften gesehen oder gehört zu werden, bedeutet für den Einbrecher in den meisten Fällen nämlich das vorzeitige Ende des Bruchs.
Denn während Garrett mit einem einzelnen Wächter noch gerade so fertigwird, reichen weder seine Kraft noch seine Schwertkunst aus, um es mit mehreren Gegnern gleichzeitig aufzunehmen. Auf direkte Konfrontationen sind Thief und seine Nachfolger (The Metal Age, 2000; Deadly Shadows, 2004) allerdings auch nicht ausgelegt, das beweist schon das beeindruckende Arsenal an Werkzeugen, mit denen wir uns vor Entdeckung schützen.
Ein Lichtkristall zeigt an, wie gut wir mit den Schatten verschmelzen, im Notfall helfen Wasserpfeile beim Ausschalten von störenden Lichtquellen. Verräterische Geräusche dämpfen wir mit Moos-, Fenstervorsprünge erklettern wir mithilfe von Seilpfeilen, Dietriche und Tränke erleichtern das Diebesleben ebenfalls enorm. Garretts Arsenal ist jedoch auch bitter nötig, um die patrouillierenden Wachen zu überlisten.
Die bemerken sogar, dass vorher verschlossene Türen offenstehen oder Fackeln gelöscht wurden - vielen modernen Kollegen sind sie intellektuell damit bis heute weit voraus. Damit die Spielmechanik des taktischen Schleichens funktionieren kann, neigen die Burschen allerdings auch zu teilweise absurder Spontanamnesie. Dass sie die Verfolgung des Meisterdiebs irgendwann aufgeben, ist nachvollziehbar; dass sie stellenweise das Wetter für rätselhaft verblichene Kollegen verantwortlich machen (»War wohl doch nur der Wind«), ist schrecklich großartig.
Die erinnerungswürdige KI verwehrt der Thief-Reihe jedoch nicht den verdienten Platz in der Ruhmeshalle der Schleichspiele. Castle Wolfenstein kann man mit einiger Berechtigung als das erste echte Schleichspiel überhaupt bezeichnen, Thief hingegen ist aber mit Sicherheit das einflussreichste. Vor allem die vielfältigen Interaktionsmöglichen mit der Umgebung und das waffenlose Ausschalten von Feinden zieht sich seitdem durch etliche Spiele, wie etwa System Shock 2 (1999) oder Bioshock (2007).
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