Seite 3: Die Zone der Erinnerung - Zeugen der Zeitgeschichte

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Fantasie vs. Realität

Was die Stalker-Spiele so ungewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass damit nicht in erster Linie der Respekt vor den Fakten gemeint ist. Die Entwickler haben zwar Museen, Bücher sowie das Internet konsultiert und viele Informationen über den Unfall und seinen Folgen gesammelt – aber sie erlaubten sich große Freiheiten im Umgang damit. »Schlussendlich ist es eine fiktionale Geschichte – wenn auch auf der Basis realer Fakten«, erklärt Oleg Yavorski. Die historischen Tatsachen hat GSC mit fantastischen Elementen vermischt, angelehnt an den Roman Picknick am Wegesrand und Motive aus dem Film Stalker. Beide wurden nach dem Tschernobyl-GAU als »prophetisch« bezeichnet, weil sie von einer unbewohnbaren »Zone« sprachen – und damit die Ereignisse von 1986 vorweg nahmen. Doch die wichtigste Informations- und Inspirationsquelle waren weder Bücher noch Filme, sondern die lebenden Zeugen der Katastrophe. »Wir sind in die Umgebung von Tschernobyl gefahren, haben Fotos gemacht und mit den Leuten gesprochen, die dort gelebt haben oder immer noch arbeiten. Ihre Erfahrungen waren wichtig für uns – und sie haben uns davon abgehalten, mit unserer Fantasie zu sehr über die Stränge zu schlagen.«

Diese Aussage erstaunt angesichts der Merkwürdigkeiten und Monstrositäten, die die »Zone« der Stalker-Spiele heimsuchen: Wabernde Elektrofallen, psychotrope Sendeanlagen und blutsaugende Bestien säumen jeden Quadratmeter des verwilderten Gebiets. Yavorski begründet diese Abkehr von der Realität: »Wir wollten den Spielern Furcht einjagen. Wir betrachten das als übersteigerte Form des Horrors, der die Menschheit erwartet, wenn sie mit Kräften spielt, die sie nicht kontrollieren kann.«

Monster aus dem Unterbewußtsein

Doch auch wenn sie zur warnenden Botschaft passen, sind die widernatürlichen Kreaturen keine Erfindung der Entwickler. Vielmehr sind sie ein Schatten der weit verbreiteten Fotografien jener Zeit und der Erzählungen, mit denen die Opfer von Tschernobyl eine Katastrophe zu verarbeiten versuchten, die sich dem Auge und dem Verstand entzog. Die Journalistin Svetlana Alexijewitsch, die unmittelbar nach dem Unfall mit Bewohnern der Zone gesprochen hat, erinnert sich: »Am meisten erstaunte mich, dass es sich um die Selbstzerstörung des Denkens handelte. Während dieser Tage interessierte ich mich sehr für die irrationale Seite des Menschen. Das Bewusstsein war auf dem Rückzug, und das Unterbewusstsein begann zu arbeiten. Die Leute fürchteten sich vor Monstern, sie erzählten Geschichten über Kinder mit fünf Köpfen, über kopf- und flügellose Vögel.« Tatsächlich brachte die Strahlung Mutationen hervor, doch keine davon bedrohte Menschen direkt. Die Monster entströmten dem Unterbewusstsein – und fanden von dort aus den Weg in Stalker und die Spielerköpfe.

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Zwar finden sich in Stalker keine verunstalteten Vögel und Kinder, aber verwandte Kreaturen, die sich unschwer auf historische Vorbilder zurückführen lassen. Die telepathisch jagenden »Blind Dogs« etwa sind eine Spiegelung der ausgehungerten Hunde, die in der »Zone« zurückgelassen wurden und von Milizionären erschossen werden mussten. Und hinter den Gasmasken, die die Fratzen der auf allen Vieren kriechenden »Snorks« nur notdürftig verdecken, kommt eines der tragischsten Bilder der Katastrophe zum Vorschein: das der »Liquidatoren«, der Arbeiter, die mit notdürftigster Schutzkleidung ausgerüstet den Reaktor unmittelbar nach der Explosion säubern mussten, weil die dafür vorgesehenen Maschinen in der Strahlung versagten.

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