Seite 4: Die Zone der Erinnerung - Zeugen der Zeitgeschichte

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Zwischen Fakt und Fiktion

»Wenn die Gefahr unsichtbar ist, bekommt man Angst. Alles ist unsicher. Deshalb sind um Tschernobyl viele Gerüchte entstanden – was sich für das Erzählen unserer Geschichte als Vorteil erwiesen hat«, bestätigt Yavorski. Die Entstehung von Sagen, die an die Stelle von gesichertem Wissen traten, wurde noch geschürt im Kalter-Kriegs-Klima der ehemaligen Sowjetunion, wo sich Informationen nicht frei verbreiten konnten. Selbst um reale Objekte wucherten in der UdSSR Legenden. Etwa um die Landmarken, die das Bild der »Zone« prägen: das Riesenrad von Pripyat, die zerfallenen Dörfer, das Kraftwerk selbst. All das stand und steht für die Katastrophe, die Geschichten dahinter kannte aber lange niemand.

Realität Um die Radaranlage Duga-3 ...

Spiel ... ranken sich zahlreiche Mythen, im Spiel sendet sie bewusstseinsverändernde Signale.

Auf ihren Recherchereisen in die »Zone« haben die Entwickler diese Landmarken fotografiert und anschließend so akkurat nachgebildet, wie es die Engine erlaubte. Doch der optischen Detailtreue zum Trotz stehen auch diese Bauwerke zwischen Fakt und Fiktion. Um die kolossale Überland-Radarantenne »Duga-3« bei Tschernobyl etwa, deren Funktion von den Sowjet-Behörden jahrzehntelang geheim gehalten wurde, rankten sich zahlreiche Mythen. Man spekulierte, die Anlage diene der Wettermanipulation oder der Gedankenkontrolle. Daran knüpft das Spiel an, in dem die Antenne bewusstseinsstörende Strahlen aussendet.

Computerspiel als Illusion

Mit der Abkehr von der reinen Information veränderte sich auch der Fokus der Entwickler: »Uns ging es weniger um die Vermittlung von Wissen als um die Erfahrung. Die Stalker-Spiele sind keine Shooter, es sind Survival-Spiele. Der Spieler soll sich fühlen, als habe er die gesamte Todeszone gegen sich und kämpfe um sein Überleben«, umschreibt Yavorksy die grundlegende Idee, die sich auch im Design des Spieles niederschlägt: Jenseits der auf lineares Spektakel getrimmten Schwergewichte innerhalb des Shooter-Genres ist die »Zone« von Stalker ein offener Schauplatz, dessen Bewohner sich – soweit es die künstliche Intelligenz zulässt – auch in der Abwesenheit des Spielers selbstständig bewegen können. Das Resultat sind überraschende Momente und Augenblicke, in denen trotz der Bemühungen des Spielers alles plötzlich furchtbar schief laufen kann. Die Illusion eines gewaltigen und gewalttätigen Raums, in dem der Spieler ausnahmsweise mal nicht im Zentrum zu stehen scheint, zeichnet die Stalker-Erfahrung aus. Doch sie ist mehr als eine Design-Idee: Sie ist eine Brücke zwischen der virtuellen und der realen »Zone« – beides sind Landschaften außer Kontrolle.

Stalker: Call of Pripyat - Screenshots ansehen

Die Stalker-Spiele sind somit weniger Zeugen der realen Geschichte als Zeugen von Geschichten, die mit und nach der Katastrophe von Tschernobyl entstanden. Auf diesem Weg sind sie innerhalb des Mediums allein: Computerspiele weder als historisch angehauchte Schießbude noch als digitale Simulation der harten Fakten und komplexen Zusammenhänge, die die Historiker auszugraben versuchen – sondern der daraus entstehenden Sagen und Erzählungen, für die sich eher die Völkerkundler interessieren. Das ist ein ungewöhnlicher Zugang zur Historie, der aber auch eine ungewöhnliche Situation reflektiert: einen Unfall, dessen Folgen unsichtbar, aber darum nicht weniger fatal sind; ein politisches System, in dem Informationen schwer zu beschaffen waren; und eine ukrainische Gesellschaft, der die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit nach wie vor schwer fällt.

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