Seite 2: Weltbilder und Spielewelten - Bitte nicht stören!

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Stolz und Vorurteile

Ich bin ein Skeptiker. Durch und durch. Ich glaube nicht an Gott, weil es mir zu einfach erscheint. Ich glaube nicht an Ideologien und Systeme. Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe schnell gelernt, dass es man alles in Frage stellen und offen für Meinung und Kritik von anderen sein sollte. Das ist nicht einfach. Im Gegenteil, es ist bockschwer, und es braucht seine Zeit.

Ein weiterer Streitpunkt: Ubisoft hatte aus Ressourcengründen darauf verzichtet, weibliche Spielfiguren in Assassin's Creed Unity einzubauen. Ein weiterer Streitpunkt: Ubisoft hatte aus Ressourcengründen darauf verzichtet, weibliche Spielfiguren in Assassin's Creed Unity einzubauen.

Am Abend im Hotel kann ich unsere Diskussion vom Vormittag plötzlich gar nicht mehr verstehen. Der Mensch, der vor ein paar Stunden darauf beharrte, der Gamespot-Autor habe völlig Unrecht, das war doch nicht ich. Die Kommentare unter dem Gamespot-Artikel oder auch auf Eurogamer.net, die mich vorher in meiner Meinung zu bestätigen schienen, geben mir nun zu denken. Nicht weil sie so tiefgründig und erkenntnisreich, sondern weil so viele so fundamental, so aggressiv und so absolut in ihrem eigenen Anspruch sind.

Niemand möchte von anderen Menschen als Dummkopf, Einfallspinsel oder gar als rückständiger Chauvinist bezeichnet werden. Daher verstehe ich, wenn manche die moralische Überhöhung mancher Autoren kritisieren. Es ist sicher auch legitim über die jeweiligen Beispiele und Auslöser dieser Debatten zu diskutieren. Aber was mir wirklich zu denken gegeben hat, ist das Unvermögen von echtem Diskurs und konstruktiver Auseinandersetzung.

Jemand kritisiert Spiele oder Entwickler? Er ist ein Verräter. Ich muss ihn bestrafen, ausgrenzen und boykottieren. Wir fragen gar nicht mehr, hat er vielleicht einen guten Grund, gibt es vielleicht wirklich unterschwellige Botschaften und zweifelhafte Tendenzen, sondern wir gehen in Totalopposition und sprechen ihm das Recht ab, über uns und über unsere Spiele ein Urteil zu fällen. Wie kann er oder sie sich nur aufregen? Gibt es nichts Wichtigeres? Bei Filmen und Büchern gibt es das doch auch: Sexismus, Rassismus, plumpe Klischees und Vorurteile. Dann dürfen Spiele das doch wohl auch!

»LASST. MICH. IN. RUHE!«, schreien wir, »Bitte nicht stören, ich bin in einer anderen Welt«. Ich will in GTA Passanten abmetzeln? Dann lasst mich! Ich will in Gears of War Köpfe zertreten und meine Gegner erniedrigen? Dann lasst mich! Ich will in Call of Duty: Modern Warfare 2 wehrlose Zivilisten am Flughafen niedermähen? Dann lasst mich! Es ist meine virtuelle Welt, mein Reich, meine Freiheit und mein Spiel, aber gibt es wirklich keine Grenzen?

Realitätscheck

Die Wahrheit ist: Man lässt uns. Die Gesellschaft lässt uns. Die USK lässt mittlerweile fast alle Spiele »ab 18« auf den Markt. Spätestens mit dem Siegeszug von Wii-, Facebook- und Handy-Spielen, Let's Plays, Twitch und Massenphänomenen wie League of Legends, Dota 2 oder World of Tanks sind Spiele auch in Deutschland akzeptiert. Klar, es gibt immer jemanden, der mal die Nase rümpft oder sich die Spieler als vermeintlich einfaches Opfer aussucht, um seine Agenda zu treiben.

Aber wir, die »Gamer«, die »Nerds«, haben doch gewonnen. Die, die vor 20 oder 30 Jahren in der Schule noch eine Randgruppe waren, haben Karriere gemacht, Familien gegründet und dank Internet und Technologie die Gesellschaft verändert.

Wir sollten für jeden Kritiker dankbar sein, der für bessere Spiele streitet. Der auf Missstände und überkommene Traditionen verweist. Der uns einen Spiegel vorhält, uns herausfordert und damit daran erinnert, wie weit wir schon gekommen sind. Egal ob er oder sie sich gerne in den Mittelpunkt rücken will und zur moralischen Instanz aufschwingt. Ich möchte, dass meine Meinung respektiert und gehört wird. Also sollte ich lernen, dies ebenso zu tun.

Schon im ersten Donkey Kong soll der Spieler die »Jungfrau in Nöten« retten. Schon im ersten Donkey Kong soll der Spieler die »Jungfrau in Nöten« retten.

Das Schlimme ist: Ich kenne und verstehe Jochens Argument vom sexistischen Motiv der »damsel in distress« nicht erst seit letzter Woche. Es ist der uralte Stereotyp von der Jungfrau in höchster Not, die nur vom edlen und starken Helden gerettet wird und ohne diesen letztlich hilflos in der Welt ist. Diese Darstellung von Frauen reicht von King Kong bis Donkey Kong, von mittelalterlichen Heldensagen bis zu Marvel-Comics und -Filmen. So wie leicht bekleidete Frauen den Umsatz ankurbeln sollen, wecken wehrlose unsere Beschützerinstinkte. Wir sind Männer, wir sind Helden, wir retten erst die Cheerleaderin und dann die ganze Welt.

Weil dieses Motiv so alt ist wie das Geschichtenerzählen selbst, ist es vermutlich umso schwerer sich einzugestehen, dass wir Frauen damit schon seit tausenden Jahren in die Rolle des unselbstständigen Opfers denken. Und dass dieses Denken im Kern vieler Ungerechtigkeiten stand und noch steht. Das schwache Geschlecht, das waren die, die nicht wählen dürfen, weil sie keine Ahnung hatten. Das sind die, nicht zum Militär dürfen, weil nur echte Kerle ballern können. Über all diese Dinge habe ich schon vor meinem Streit mit Jochen nachgedacht und rational habe ich sie verstanden.

Genau deswegen reagiere ich vermutlich auch verletzt, wenn ich das Gefühl habe, mir werfe jemand vor, dass ich dieses Gedankengut mittrage. Ich muss deswegen nicht automatisch die Schlussfolgerung teilen, dass Rainbow Six Teil eines großen medialen Puzzles ist, das Frauen als unterlegenes Geschlecht portraitieren will.

Aber ich sehe ein, dass wir darüber reden und nachdenken müssen. Wenn wir wollen, dass Spiele von der breiten Gesellschaft ernsthaft als Kunst anerkannt werden, wenn wir wollen, dass Spiele nicht nur als Zeitverschwendung, als Kinderkram von einsamen Freaks wahrgenommen werden, dann müssen wir aufhören, Kritiker auszugrenzen, anders denkende, anders spielende Menschen von vornherein als unverständig und störend anzusehen. Auch und insbesondere dann, wenn diese Kritiker aus unserer eigenen Mitte kommen.

Es sind eben nicht NUR Spiele. Es sind fantastische Welten, Ideen, Visionen, Geschichten. Sie sind Teil meines Lebens, ich verbringe alleine oder mit meinen Freunden so viele Stunden in ihnen. Ich sollte sie höher schätzen und froh sein über jede Frau und jeden Mann, die versuchen, sie besser zu machen, weiterzuentwickeln und letztlich damit zu bewahren. Ich sollte nicht so schnell ein Urteil fällen und ich sollte endgültig mein inneres »Nicht stören«-Schild in den Papierkorb werfen.

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