Gelungenes Erbe Shodans - mit Abstrichen

Wie verschwindend gering sind eigentlich die Chancen, bei einem Flugzeugabsturz über dem offenen Meer einerseits zu überleben und andererseits noch...

von TheVG am: 25.08.2015

Wie verschwindend gering sind eigentlich die Chancen, bei einem Flugzeugabsturz über dem offenen Meer einerseits zu überleben und andererseits noch nahe einer Insel zu landen? Da ich kein Statistiker bin und mir wahrscheinlich auch kein Leser eine vernünftige Antwort geben kann, müssen wir alle wohl zu dem Schluss kommen: sehr niedrig. Jack, der Protagonist aus „Bioshock“, dürfte genau in dieses Fallschema passen, hat aber gleich doppeltes Glück – er überlebt und hat eine Insel direkt vor seiner Nase. Groteskerweise handelt es sich um einen Leuchtturm, der mitten im Ozean aufgestellt wurde, und die Insel ist nichts anderes als ein aufragender Felsbrocken im Nirgendwo.

Der Leuchtturm stellt sich auch sogleich als Eingangshalle und Übergangsstation heraus. Jack wird in eine Taucherglocke geleitet, die in die Tiefen des Meeres hinabgleitet und das offenbart, wofür der Schiffswegweiser überhaupt erbaut worden war. Willkommen in Rapture, einer Unterwasserstadt, die der Großindustrielle und Visionär Andrew Ryan errichtet hatte. Seine Motive für den Bau der außergewöhnlichen Metropole werden sodann in einem Filmchen erläutert: Ryan hatte genug von politischen Konventionen und Restriktionen und verwirklichte sich den Traum einer autokratischen Gesellschaft unterhalb des Meeresspiegels. Die beeindruckende Einleitungssequenz entführt uns also in eine abgeschlossene Welt, und doch kommt schon zu Beginn leichtes Unbehagen auf, als in einem Verbindungstunnel der Stadt bizarre Figuren erkennbar sind.

 

An der Leine ins Verderben

Bioshock nimmt uns gütigerweise wie sein geistiger Vorgänger „System Shock 2“ bei der Hand und zieht uns gleichzeitig hinein in die Gräuel, die Rapture widerfahren sind. Als ein Bediensteter vor unseren Augen von einer dunklen Furie samt Fleischerhaken getötet wird, ist es erstmal aus mit staunendem Kinnladenkrampf – das Gruseln übernimmt nun die Führungsrolle. Nun ist es am Spieler selbst, seinen Weg zu finden, und das Spiel lässt uns keine andere Wahl, als uns in den Schlamassel hinein zu bewegen. Ein bisschen In-Game-Tutorial später hat der Spieler die ersten Hallen erkundet und darf daraufhin eine Rohrzange sein eigen nennen – auch hier lässt der Vorgänger grüßen, in dem ein ähnliches Werkzeug als erstes Verteidigungsmittel eingesetzt werden durfte.

Die nächsten Spielstunden geben nun recht zügig die Möglichkeiten des Spiels preis, und neben den shooterüblichen Waffenfunden (deren Design erfrischend anders ist) sind es die so genannten Plasmide, die dem Spiel das Quäntchen Spaß und Anspruch verleihen. Plasmide sind, ähnlich der Magie (oder der Psi-Kraft auf der Von Braun), übermenschliche Fähigkeiten, die man sich ganz simpel ins Handgelenk spritzt und anschließend gegen Feinde einsetzen kann. Etwa das „Electrobolt“-Plasmid, über das man Blitze verschießt, das entweder den Gegner direkt elektrisiert oder in Verbindung mit Wasser für Gegnergruppen tödlich endet. Weiter öffnet es einem wortwörtlich Türen, wenn die antiquierte Elektrik mal streiken sollte. Aber auch Fähigkeiten mit Naturgewalten sind ziemlich beliebt, so lassen sich Finsterlinge „abfackeln“ oder einfrieren, oder man nutzt indirekte Effekte, wie etwa die Splicer an unserer Seite kämpfen zu lassen.

Plasmide zu erwerben kostet kein Geld, sondern ADAM – eine Zellstruktur, die man von so genannten „Little Sisters“ abzapfen kann. Dies stellt sich jedoch schnell als gefährliches Unterfangen heraus, denn werden die Mädchen von bulligen und schießwütigen „Big Daddys“ beschützt, die nicht nur aus allen Rohren feuern, sondern zusätzlich mit ihren massigen Taucheranzügen jede Tresortür einrammen könnten. Spielerischer Anspruch ist hier also nicht nur durch die Spielfeatures garantiert. Wie schon im Vorgänger kann man das Hacken lernen oder an sich selbst herumdoktern, und zusätzlich sind Gegner und Umgebung ein guter Grund für Planungsspielchen und ein Mindestmaß an taktischen Überlegungen.

 

Preis der Freiheit

Dass eben diese Plasmide stellvertretend für das Ergebnis der von Ryan gegebenen, absoluten Freiheit stehen, macht das Spiel verdammt cool, doch immer wieder kann man sich dabei erwischen, dass man über die Notwendigkeit einer solch anarchischen Regierungsform grübelt. Irrational Games hatte schon in der Vergangenheit eindrucksvoll bewiesen gehabt, dass ein Shooter mehr sein kann als stumpfe Ballerei in rudimentärer Gut-Böse-Zeichnung und toppt mit „Bioshock“ den schon sehr gut erzählten Vorzeigetitel „Half-Life“, der noch im selben Jahr pünktlich unter dem Weihnachtsbaum lag. Da besinnte sich der Meeresschocker auf seine Stärken und entfaltet seine eigene Mechanik in Sachen Storytelling, indem man einfach die Datendiscs aus dem geistigen Vorgänger durch alte Tonbandgeräte ersetzte.

Wer also die egogeführte Exploration in „Half-Life“ als nicht ganz so angenehm oder anspruchsvoll empfand und ein bisschen Kopfkino braucht, dem kann „Bioshock“ als erzählerische Alternative ans Herz gelegt werden. Durch die vielen gesprochenen Logs entspannen sich einige interessante Nebenschauplätze, eingebunden in die Hauptstory und relevant für das Weiterkommen. So etwa die Manie des Chirurgen Steinman, der durch das ADAM – wie so viele in Rapture - wahnsinnig geworden ist und seine Patienten durch den Einfluss Picassos als Kunstobjekte ansieht. Wie bizarr dessen Vorstellungen ausuferten, sehen wir als Spieler lange nicht, sondern erfahren sie lediglich durch die Tonbänder, die rein akustisch von den Auswirkungen berichten (und mir das ein oder andere Nackenhärchen zu Berge stehen lassen). Als Zwischengegner darf man Steinman abschließend noch höchstselbst bei seiner Arbeit „bewundern“, was den Horror als Sahnehäubchen obendrauf auch optisch abrundet.

Darüber hinaus bemerkt man, dass ein paar schlaue Köpfe hinter den Dialog- und Storyzeilen steckten, denn entspannen sich wieder ein paar sehr interessante Grundsatzfragen und philosophische Betrachtungsweisen. Für den Spieler bedeutet das, dass mit Empathisierungen schon mal gespielt wird. Mal ist Ryan der Buhmann, später wieder nicht, und eindeutige Charakterzeichnungen gibt es nach Blockbuster-Rezept keine. Ich kann also nicht in eindeutigen Schwarz/Weiß-Mustern denken, sondern muss meine Meinung in den Grauzonen suchen, und wenn ein Spiel derartige Kunststücke vollbringen kann, freue ich mich über den erzählerischen Anspruch doch sehr. Demnach ist dieser weit von etwaiger, populistischer CoD-Heroisierung und Konsorten entfernt.

 

Schwamm drüber

Technisch betrachtet muss man Bioshock ankreiden, dass es gerade im Spielverlauf keinen eindeutigen und bleibenden Eindruck hinterlässt. Zwar sind Lichtstimmung und vor allem das Wasser durch die Unreal-Engine ein Hingucker, doch im Zusammenspiel mit der Soundkulisse wirkt die nicht gerade wie aus einem Guss gestaltet. Der Art-Déco-Stil weiß zu begeistern, darin habe ich mich sogar ein bisschen verliebt. Mit all den leichten Steampunk-Anleihen oder knarzigen Holzvertäfelungen in Verbindung mit frühindustrieller Eisenästhetik gerät man schon mal optisch ins Schwärmen, was weiterführend durch den leichten Comic-Einschlag der Engine zu einem eigenwilligen, aber auch charmanten Mix vereint wurde.

Das schreit eigentlich geradezu nach ruppigem, erdigem Sound, doch geht der in der Welt leider ziemlich unter. Man hat sich bei Irrational zwar merklich die Mühe gemacht, dies einzufangen, doch wirken die Sounds nicht selten sehr schwach auf der Brust und werden der Interaktion mit der Welt nicht ganz gerecht. Das Knarzen auf dem Dielenboden klingt ja noch sehr authentisch, doch bei den Waffensounds vernimmt man beispielsweise beim Thompson-Gewehr ein entferntes Ploppen von Seifenblasen. Der zweischneidige Effekt zieht sich so durch das ganze Spiel. Viel besser indes ist die Sprecherleistung gelungen, die mit einigen professionellen Stimmverleihern aufwarten kann. Dietmar Wunder, der deutsche 007 im Dienste von Daniel Graig, mimt hier unseren Begleiter Atlas, Andrew Ryan wurde von Gudo Hoegel eingesprochen, den ich persönlich für einen der Besten seines Fachs halte. Die Qualität hält sich bis in die kleinsten Nebenrollen, Ausfälle sind kaum zu beanstanden.

Das beste seines Fachs war „System Shock 2“ im Bereich der Steuerung gewesen. Das geht flott von den Fingern und trägt zur Atmosphäre bei, da selbst das Umschalten ins Menü das Geschehen nicht pausiert. „Bioshock“ ist hierbei leider so aufgebaut wie sonstige RPG-Shooter. Das ist ja noch nicht das Schlimme daran, nennen wir es mal einen zu verschmerzenden Rückschritt. Die Steuerung jedoch ist dermaßen konsolenlastig ausgefallen, dass die Grobheit aus allen Poren trieft. Zwar zielt man mit der Maus etwas zackiger als mit dem Gamepad, doch wirkt das alles schwammig und klobig und so gar nicht dpi-freundlich. Auf den Heimvideogeräten mag das vielleicht noch von Vorteil sein – auf dem PC erwartet man doch viel mehr an filigraner Beweglichkeit.

 

Spiel am Abgrund?

Ich komme einfach nicht drum herum, „Bioshock“ mit seinem Vorgänger zu vergleichen. Grob gesagt: Die Konsolenfreundlichkeit hat dem PC-Ableger gar nicht gut getan. Doch selbst wenn man sich noch so sehr über die Steuerung und die Konsolisierung des Shooters mokieren kann und muss, ist „Bioshock“ trotzdem ein sehr gutes Spiel. Das liegt vor allem an der großartigen Story, die einige Überraschungen parat hält, den spielerischen Möglichkeiten ähnlich seines Vorgängers und einer Welt, die dich in ihren Bann ziehen wird. Während „System Shock 2“ noch intelligenten Horror in Reinform darbot, ist „Bioshock“ eher der klassischen (Psycho-)Thrillerecke zuzuordnen, in der auch noch ein bisschen philosophisch gefachsimpelt werden darf. 

Für sich stehend ist „Bioshock“ ohne Zweifel ein anspruchsvolles, inhaltlich gelungenes Shooterspiel, doch im Vergleich mit Shodan sind Andrew Ryan und all die Rapture-Figuren doch einen Schritt hinterher. Aus meiner Sicht ist es aber auch schwer, ein fast perfektes Spiel markenfremd übertrumpfen zu können. Da stehen die Chancen für mich doch sehr gering, ähnlich dem Glück Jacks, einen Flugzeugabsturz über dem Meer zu überleben und dann noch festen Boden unter den Füßen zu haben.


Wertung
Pro und Kontra
  • Stimmungsvolle Welt
  • Wasser und andere Elemente
  • Top Sprecherleistung (deutsch)
  • RPG-Elemente laden zum Ausprobieren ein
  • Anspruchsvolle Schwierigkeit
  • Exzellente Story und Nebengeschichten
  • Grafik ein wenig kitschig
  • Sounds teils kraftlos abgemischt und designt
  • Steuerung stark konsolenlastig

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 40, weniger als 100 Stunden



Kommentare(3)
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