Früher war alles besser (oder doch nicht?)

Früher war alles besser: Das Gras war grüner, der Himmel blauer und Rollenspiele noch Rollenspiele und nicht dieser neumodisch-weichgespülte...

von Nick2000 am: 31.03.2015

Früher war alles besser: Das Gras war grüner, der Himmel blauer und Rollenspiele noch Rollenspiele und nicht dieser neumodisch-weichgespülte Bioware-EA-Kram von Heute (Ja, DAI, ich meine dich!). Früher gab es Baldur's Gate 1 & 2, Planescape: Torment und Icewind Dale 1 & 2. Und noch früher die Ultima-Reihe (über Teil 8 und 9 breiten wir aber mal den Mantel des Schweigens aus) und natürlich Bard's Tale I-III. Früher gab es noch "richtige" Rollenspiele. Heute aber nicht mehr. Heute gibt es die Elder Scrolls Titel (wenn ich FPS spielen will, kauf' ich mir Wolfenstein) und Dragon Age (der erste Teil ging so gerade noch, aber auch nur, weil man ja keine Alternativen hatte). Das dürfte zumindest die Meinung der meisten Rollenspieler, die wie ich stark auf die 40 zugehen, (gewesen) sein.

2014 hat uns eines besseren belehrt. Divinity: Original Sins und Wasteland 2 sind mit dem Ziel, alte Tugenden zu neuem Leben zu erwecken, an den Start gegangen und haben beide einen verdammt guten Job gemacht. Und sie waren zum Glück auch einigermaßen erfolgreich, haben also gezeigt, dass "echte" Rollenspiele auch heute noch Käufer finden.

Und nun stößt Pillars of Eternity (PoE) dazu. Eins vorneweg: ich habe PoE bei kickstarter gebackt. Mein Name steht in den Credits, im Prima Strategy Guide und irgendwo auch im Spiel auf einer Gedenktafel (muss ich aber noch finden). Das nur zur Klarstellung, falls es für den einen oder anderen bei der Einordnung meiner Rezension eine Rolle spielen sollte (Offenlegung und so). Man könnte also sagen, dass ich nur bedingt objektiv bin. Ich werde mir aber Mühe geben.

Nach ca. 25 Stunden Spielzeit befinde ich mich am Anfang von Akt 2. Alles was ich hier schreiben werde, bezieht sich also auf den ersten Akt. Spoiler wird es keine geben. Ich spiele die mit ganz wenigen Ausnahmen sehr gut lokalisierte deutsche Version. Und nun meine Rezension:

Obsidian hat bei kickstarter von Anfang an keine kleinen Brötchen gebacken. Man wollte einen würdigen Nachfolger der Baldur's Gate Spiele abliefern. Das ist ihnen meiner Meinung nach gelungen.

PoE lässt in Sachen Atmosphäre jeden AAA-Titel mit neuester Zieht-dir-die Schuhe-aus-mit-seiner-monstermäßig-fotorealistischen-Grafik, die trotzdem meistens leblos wirkt, weit hinter sich. Das liegt in erster Linie nicht an den sehr schönen Karten, durch die die 3D-Party läuft, sondern vielmehr an dem "Drumherum". Überall findet man hotspots, die einem nach einem Klick die Szenerie noch etwas näher beschreiben, was extrem zur Atmosphäre beiträgt. Wie früher findet man zig Bücher, die Details zur von Obsidian erdachten Welt preisgeben oder einfach nur kurze Gedichte oder Lieder enthalten (spiel-mechanisch ohne Bedeutung, aber wahnsinnig schön zu lesen). Man kann einfach in der Spielwelt versinken, wie in einem guten Buch. Alle Charaktere (nicht nur die Begleiter, sondern alle Figuren, auch die Nicht-Spieler-Charaktere) sind gut geschrieben, haben eine glaubwürdige Motivation und wirken nie klischeehaft. Die Handlung kommt zwar etwas langsam in die Gänge, das liegt aber an der Ausgangssituation des Spielercharakters, der zu Beginn einfach noch nicht weiß, wie er (oder sie) ins große Ganze passt. Die Nebenquests erzählen, soweit ich bisher sagen kann, wirklich gute Geschichten. Oft muss man dabei Entscheidungen treffen, bei denen es meistens kein richtig oder falsch gibt. Auch die Motivation des vermeintlichen Bösewichts kann, wenn man die Geschichte und die nebenher verteilten Hinweise aufmerksam verfolgt hat, plötzlich nachvollziehbar werden. Die Entscheidungen haben dann nicht nur auf den Ausgang der gerade aktuellen Quest Auswirkung, sondern können auch Einfluss auf spätere Ereignisse und natürlich die Reputation der Gruppe haben. Die Reputation wiederum wirkt sich nicht nur auf die Reaktion der Mitglieder verschiedener Fraktionen der Gruppe gegenüber aus, sondern bestimmt zum Teil auch die Spielmechanik, denn die Fähigkeiten mancher Klassen sind davon abhängig, wie sehr sie im Einklang mit ihrer von einer Unterklasse vorgeschriebenen Verhaltensweise stehen (Paladine können als Unterklasse zB "Gütige Wanderer" wählen, die dann von "wohltätigen" und "leidenschaftlichen" Entscheidungen profitieren. Die Entscheidungen wollen also gut überlegt sein.

Was die Klassen betrifft, gibt es neben den üblichen Verdächtigen (zB Krieger, Paladin, Schurke, Priester, Zauberer, usw) auch Exoten wie Medien oder Sänger. Die Klassen spielen sich sehr unterschiedlich und erfordern mehr oder weniger viel Mikromanagment. Der Sänger, der während eines Kampfes Phrasen aneinander reiht und mit einem besonderen Effekt enden lässt, erfordert mehr Aufmerksamkeit im Kampf als der einfache Krieger, der meistens nur vorne steht und drauf haut. Die Klassen haben auch unterschiedliche Rollen, wobei sich Obsidian ziemlich am heute gängigen MMO-Standard orientiert hat. Es gibt Tanks, Heiler, Supporter und Damagedealer, die in den Kämpfen alle ihre Berechtigung haben.

Die Kämpfe sind angenehm taktisch geraten. Mir wäre es zwar lieber gewesen, wenn Obsidian ein rundenbasiertes Kamfsystem gewählt hätte. Die Kämpfe sind aber jederzeit pausierbar, sodass man sie fasst rundenbasiert spielen kann. Der Schwierigkeitsgrad ist auf "normal" angemessen. Die Gegner haben verschiedene Resistenzen, die man mit verschiedenen Schadensarten kontern sollte. Dabei hilft die Möglichkeit, verschiedene Waffensets anzulegen (die man an den Figuren auch sieht, sehr schönes Detail). Die Kämpfe sind zumeist auch ohne solche taktischen Finessen meisterbar, allerdings dauern sie dann länger und haben mehr Verletzungen und Kampfesmüdigkeit (führt zu Abzügen bei verschiedenen Werten) zur Folge. Diese Symptome "heilt" man dann durch Rasten, dafür braucht man aber Camping-Ausrüstung, von der man nur eine begrenzte Anzahl mit sich führen kann. In den Kämpfen taktisch vorzugehen ist also sinnvoll und macht vor allem auch viel Spaß.

Erfahrung sammelt die Gruppe vor allem durch Quests. Durch Monstertötungen erhält man nur Erfahrung, bis man eine bestimmte Anzahl des jeweiligen Typs erlegt und so alle Information für diesen Typ freigeschaltet hat. Danach bringen Gegner nur noch Beute. Das ist gewöhnungsbedürftig und gefällt mir persönlich nicht so gut, da dann eine wichtige Belohnung für Kämpfe fehlt. Ich habe den Eindruck, das dadurch auch Geschwindigkeit aus der Charakterentwicklung genommen wird, ein Levelaufstieg dauert selbst in den unteren Rängen relativ lange (zumindest mein Gefühl).

Die Levelaufstiege laufen typisch ab. Man verteilt Punkte auf Fähigkeiten und kann immer mal wieder neue Fähigkeiten auswählen. Jede Klasse kann individuell gestaltet werden, auch wenn einige Fähigkeiten sinnvoller sind als andere. Insgesamt ist es ein im Vergleich zu den sonst heute üblichen Charaktersystemen überdurchschnittlich komplexes, wenn auch nicht überragendes Charaktersystem.

Fazit: Früher war also nicht alles besser. PoE ist insgesamt großartig. Die gut geschriebene Geschichte, die unvergleichliche Atmosphäre und die Komplexität des Kampfsystems brauchen sich vor den alten Klassikern nicht zu verstecken. Die alten Tugenden werden zeitgemäß präsentiert und es gibt Komfortfunktionen, die aus der Rückschau betrachtet auch den alten Hasen damals gut zu Gesicht gestanden hätten. Kleinere Schwächen, wie das mir noch nicht komplex genug ausgefallene Charaktersystem und die Tatsache, dass es keine Rundenkämpfe gibt, kann ich verschmerzen. PoE ist definitiv DAS Rollenspiel 2015 (der letzten Jahre sowieso) für mich, da kann der Witcher machen, was er will. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass man sich in 10 Jahren an PoE zurückerinnern wird, weil früher eben doch alles besser war.

Danke Obsidian!


Wertung
Pro und Kontra
  • Unvergleichliche Atmosphäre
  • Sehr gut geschriebene Texte
  • Komplexes Kampfsystem
  • Stimmungsvolle Grafik und Musik
  • Charaktersystem hätte komplexer ausfallen können
  • Keine rundenbasierten Kämpfe

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(8)
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