Ein Indianer kennt keine Physik

Wenn junge Menschen „flügge“ werden, bedeutet es für Menschen in deren Umfeld Umstellung, Angst und Ungewissheit. Dass Tommy, der...

von TheVG am: 29.05.2016

Wenn junge Menschen „flügge“ werden, bedeutet es für Menschen in deren Umfeld Umstellung, Angst und Ungewissheit. Dass Tommy, der Protagonist aus dem Shooter „Prey“, diesen Prozess durchmacht, ist also ein natürlicher Vorgang. Doch auch dem Spieler werden solche Gefühle zugemutet, denn ist nicht nur die Story Teil eines Entfremdungsprozesses – auch das Spiel selbst verlangt Gewohnheitstieren einiges ab.

2K Games schmiss sich also selbst ins kalte Wasser und veröffentlichte 2006 einen Shooter der ungewöhnlichen Art, der in vielen Belangen keine Standards bedient. Nicht nur, dass die Indianerkultur den bestimmenden Faktor in der Geschichte übernimmt, sondern das Spiel auch in seiner Spielmechanik nicht ganz alltäglich daherkommt. „Prey“ ist demnach kein reinrassiger Shooter klassischer Machart, sondern auch ein Rätselspiel mit außergewöhnlichen Ideen, das wortwörtlich alles auf den Kopf stellt. Hängen wir also den Traumfänger über unsere Köpfe, graben das Kriegsbeil aus und skalpieren ein paar Aliens...

 

Unzufrieden

 

Warum Tommy unbedingt in die weite Welt möchte, kann man schon wegen der ersten Szene nachvollziehen. Er hängt in einer versifften Bar herum, wo seine Freundin Jen den Laden schmeißt, und Großpapa Enisi sucht wohl in seiner Bierflasche nach geistiger Erleuchtung. Es ist ein trostloser Abend, und auch Tommys Versuche, Jen zum Aufbruch zu bewegen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Zu allem Überfluss vergreifen sich zwei Besoffene an Jen, was Tommy nicht auf sich sitzen lassen kann und eine blutige Schlägerei provoziert.

"Is was?" - Tommys Großvater Enisi in Trinklaune

 

Tommy soll aber schneller neue Erfahrungen machen, als ihm lieb ist. Plötzlich taucht ein Alienschiff aus dem Nichts auf und saugt alle im Raum befindlichen Personen auf. Gefangen lernen er und seine Liebsten nun etwas völlig Fremdartiges kennen, leider auch, dass die Außerirdischen kurzen Prozess mit ihrem „Fang“ machen und sie aufspießen, zermatschen und regelrecht aussaugen. Auch sein Großvater erleidet dieses Schicksal, er und Jen werden vorerst verschont und weiter in die Eingeweide des riesigen Schiffs verfrachtet.

Nachdem sich Tommy von seinen Fesseln befreien kann, endet die Einleitungssequenz, und wir finden uns in einem Raumschiff wieder, das nicht von ungefähr stark an „Doom 3“ erinnert. Kein Wunder, denn basiert das Grafikgerüst auf der id Tech 4-Engine, entsprechend fällt auch der Look aus: der technische Aspekt orientiert sich stark an der kalten, industriellen Infrastruktur des Horrorshooters. Rein optisch wirkt „Prey“ demnach wie ein Abklatsch des Shootervaters, wartet aber auch mit vielen Neuheiten auf, die das Antlitz positiv abheben.

Dagegen wirkt die Genremischung ein wenig bizarr, was eine indianisch-mystische Komponente hinzufügt. Tommy wird nach und nach in der Parallelwelt von Enisi zum Krieger mit besonderen Fähigkeiten trainiert, und das macht sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar.

 

Hängepartie

 

Diese Absonderlichkeiten werden vor allem in Spielmechanik und den präsentierten Features deutlich. „Prey“ ist zwar im Grunde ein linearer Shooter, wurde im Kern jedoch völlig anders gestaltet. Da wäre zuerst die Möglichkeit, aus Tommys Körper zu schlüpfen und als spirituelles Wesen Rätsel zu lösen. Manches Mal sind nämlich Wege durch Kraftfelder blockiert, die man als Geist jedoch durchschreiten kann, um dahinter durch Knopfdruck eben solche auszuschalten. Auch sind scheinbar unüberwindbare Abgründe in diesem Wesenszustand kein Problem, denn offenbaren sich dadurch unsichtbare Brücken, die wir überqueren können, um den physischen Rest von uns weiterzubringen.

Im Geist-Zustand eröffnen sich Tommy ungeahnte Wege

 

Ein weiteres Novum ist das Spiel mit der räumlichen Realität, bei dem Tommy beim Durchschreiten von unscheinbaren Portalen in völlig neue Areale gelangt. Leider hat 3D Realms kaum Profit aus dieser Idee geschlagen, denn oft schreiten wir einfach nur durch diese Portale, um unseren Weg von A nach B weiter zu gehen. Das ist so ähnlich, als würden wir durchs Brandenburger Tor laufen und direkt dahinter am Triumpfbogen in Paris heraustreten, wenn eine Europatour von Ost- nach Westeuropa anstünde. Nur selten taugen solche Türen für Kniffeleien, hier hat der Entwickler sehr viel Potential links liegen lassen. Ich hätte gerne ein paar Raum übergreifende Schalterrätsel gespielt, die hier viel zu selten Verwendung finden.

Richtig cool und doch wieder zu rudimentär eingesetzt ist der Einsatz der Gravitationsplattformen. Mit ihnen kann man buchstäblich die Wände hoch- und an die Decke gehen. Räume in ihren drei Dimensionen zu nutzen heißt hier die Devise, und es ist ein tolles Gefühl, um Ecken bis ganz nach oben zu laufen, um auf vermeintlich unerreichbaren Plattformen landen zu können. Springt man von der Oberfläche ab, verliert man die Bodenhaftung, und die Schwerkraft des Raumes hat uns wieder. Es ist wie gesagt ein verdammt cooles Feature, wurde aber ebenso wenig klug eingesetzt. Kann gut sein, dass man dem Spieler noch nicht allzu viel zumuten wollte, bei all den markanten Neuerungen, doch hat man sich schnell an diese gewöhnt und hätte gerne mehrere Aufgaben dieser Art absolviert.

 Wer steht hier jetzt wirklich mit beiden Beinen auf dem Boden?

 

Standard

 

Wären da nicht all diese netten Dreingaben, müsste man „Prey“ als sehr simplen und spannungsarmen Shooter abtun. Aliens spawnen entweder aus dem Nichts vor uns oder zwängen sich durch organische Wandöffnungen. Das ist vielleicht anfangs noch überraschend, verpufft in seiner Wirkung aber sehr schnell und wird später sogar ziemlich berechenbar. Man kann etwa im Spielverlauf davon ausgehen, dass unsere Wanderschaften zur Decke mit dem plötzlichen Aufkommen von Gegnern verbunden ist – das einzig Innovative ist das räumliche Gefühl, das die Erfahrung verändert.

Ab in die Kiste: Hinter diesem Portal geht´s weiter

 

Die Vielfalt der Gegner lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Vom Kanonenfutter im Hundeformat (bezeichnenderweise „Fodder“ getauft) bis hin zu hünenhaftem Krabben-lookalike hält sich der Ideenreichtum ziemlich in Grenzen, überfordern uns auch nicht besonders, weil das Leveldesign uns immer passgenau Waffen und Munition zusteckt, um den Feinden entsprechend zuzusetzen. Zudem hält sich deren künstliche Intelligenz in engen Grenzen. Zwar schreiten sie zur Seite, wenn man sie auf´s Korn nimmt, aber sind ihre vorgefertigten Abläufe leicht durchschaubar, die man schnell und einfach zum eigenen Vorteil nutzen kann. Die lästigsten wie anstrengendsten Vertreter sind noch die Hunter, die Standardsoldaten, die sogar ausweichen oder in ihrer Kampftaktik differieren. Entweder bepflastern sie uns mit ständigen Gewehrsalven oder nutzen aus der Distanz ihre Zweitfunktion als Snipergewehr und sind auch entsprechend treffsicher.

Letztlich ist selbst das Waffenarsenal trotz des exotischen Settings sehr klassisch ausgefallen. Vom den Huntern geklauten Standardgewehr mit Zoomfunktion bis zum Projektile spuckenden Raketenwerferpendant gibt es wirklich nichts, was irgendwie fremdartig wirken oder vor Ideen sprudeln würde. Höchstens als Geist kann man noch von einem netten Feature sprechen, weil man in diesem Zustand Pfeile verschießen kann, was wiederum spirituelle Energie kostet und sich spielerisch weniger lohnt, diese zu verbraten. Es mag sinnvoll sein, Räume als Geistwesen zuerst so weit wie möglich von Feinden zu säubern, bevor man den physischen Körper später hindurch bewegt – bei fetten Feinden mit ordentlich Hitpoints auf dem Konto wird das jedoch wenig nützen.

Sterben ist in „Prey“ ebenfalls so eine Sache. Man stirbt nämlich nicht. Hat Tommy seinen Gesundheitsvorrat aufgebraucht, transferiert ihn das Spiel in eine kurze Sequenz, in dem er automatisch wiederbelebt wird, mit Pfeil und Bogen kann er darüber hinaus noch zusätzlich Gesundheit und Energie auftanken, indem er Flugwesen abschießt. Mir waren diese Einlagen ein bisschen lästig vorgekommen, außerdem wirkt es ein bisschen aufgesetzt und wie ein Element, die Schwierigkeit künstlich herunterzufahren.

 

Vorzüge

 

Mit dem Grafikgerüst aus „Doom 3“ wirkt „Prey“ nicht ausschließlich eigenständig. Das schlägt sich wie schon erwähnt im Look des Raumschiffes und der organischen Komponente nieder, wirkt aber an sich bunter und abwechslungsreicher. Der ausgiebige Einsatz von Effekten macht das Spiel optisch reizvoll, lediglich in der Polygonanzahl altert der Shooter mittlerweile nicht mehr so gut. Die eckigen und emotionsarmen Figurenmodelle wirken heute, als hätte man ihnen einen Stock hinten reingesteckt und würden nun eine Bauchrednernummer spielen.

Tommy stirbt nicht, dafür droht die Langeweile an solchen Sequenzen

 

Das Sounddesign erklingt dagegen immer noch sehr gut. Die charakteristische Soundkulisse würde man aus tausenden Beispielen wiedererkennen, und die Entwicklerabteilung hat viel Arbeit hineingesteckt, dass nicht nur technisches Gefiepse zu vernehmen ist, das in jedem zweiten SciFi-Setting Verwendung findet. Nicht wenige werden auch nicht darüber traurig sein, dass sich die Sprachausgabe auf englisch beschränkt. Die ist durchaus gelungen, sticht aber für mich wenig heraus. Darüber hinaus wirken die Dialoge teils klischeebehaftet – ein Nebeneffekt der Story, die von sich aus schon keinen Oscar verdient hätte. Bleibt noch die Musik zu erwähnen, die sich mit ihrem orchestralen Soundtrack sehr gut hören lässt. Das Timing ist durchaus angemessen, und nach so vielem Keyboardgedudel, das echte Bläser und Streicher nur simuliert und regelrecht billig klingt, ist dies hier eine organische, für die Ohren angenehme Abwechslung.

 

Wegweisend

 

Fragt man geneigte Spieler nach der Langzeitwirkung von „Prey“, hat sich das Spiel erstaunlich gut in deren Köpfe gebrannt. Die Neuerungen wurden sehr gut aufgenommen, und selbst wenn der Shooter noch hätte mehr aus seinen tollen Ideen machen können, ist er in seinem derzeitigen Zustand mit einem Alleinstellungsmerkmal ausgestattet, das nur selten wiederverwertet worden ist.

Auch ich schreie nach wie vor ein bisschen nach einem Sequel, weil „Prey“ rein spielerisch immer noch derart ungewöhnlich ist, dass ich das Spiel in regelmäßigen Abständen gerne entstaube, um einen neuen Durchgang zu starten. Auch wenn dies und das ein bisschen klischeehaft, nicht zu Ende gedacht oder veraltet wirkt - „Prey“ hat sich seinen Mut zur Veränderung zwar nicht finanziell entlohnen können, jedoch in seinen spielerischen Idealen. Eben wie Tommy selbst, der in seinem Tatendrang eines flügge gewordenen jungen Mannes sowie seinen Idealen in die Welt treten wollte und unversehens Erfahrungen macht, die er sich nie vorgestellt hätte. So etwas hinterlässt einen Eindruck, den man nie vergisst, und so hoffen wir Spieler immer noch auf eine Fortsetzung...


Wertung
Pro und Kontra
  • Stimmungsvolle und abwechslungsreiche Optik
  • Einprägsame Soundkulisse
  • Spannende, orchestrale Musik
  • Spielereien mit Physik und Spiritualität
  • Gut ausbalanciertes Leveldesign
  • Angemessene Spiellänge
  • Ordentliches Waffenarsenal
  • Gute Steuerung
  • Bizarre Ideen
  • Grafik schnell gealtert
  • Klischeebeladene Story
  • Leveldesign schnell überraschungsarm
  • Ideen teils nicht ausgereizt
  • Sterbeintermezzi öde
  • KI mehrheitlich doof (exklusive Hunter)

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nein

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(2)
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