Hunde die bellen beissen nicht

ACHTUNG: Der Test enthält kleine Auszüge aus der Handlung ohne jedoch Namen zu nennen. Böswillige Naturen könnten das Spoiler nennen. Wer...

von Tsabotavoc am: 08.06.2014

ACHTUNG: Der Test enthält kleine Auszüge aus der Handlung ohne jedoch Namen zu nennen. Böswillige Naturen könnten das Spoiler nennen. Wer selbst den kleinsten Storyschnipsel als Spoiler wertet bitte nicht lesen.

Hunde die bellen beissen nicht

Jonathan Smith hat 57.000$ am Konto, arbeitet bei Blume und gehört einem apokalyptischen Kult an. Er schiebt gerade Wachdienst auf einem Güterbahnhof als sein Handy vibriert.
"Mach dich bereit, das Ende ist nah!" "Jetzt schon?"
In dem Moment löst sich ein tonnenschwerer Container von einem Ladekran und verwandelt Jonathan Smith von einem Wachmann in einen Pfannkuchen.

Grinsend sitze ich vorm Monitor und denke mir: "Telefonstreiche können eben DOCH witzig sein"
Ob die Wachhunde Saints Row und GTA in den Hintern beissen oder ob die Konkurrenz Ubisoft die Zähne zieht versuche ich in diesem Test zu zeigen.


Wir sind Batman!

Oder zumindest so etwas in der Art. Wir verkörpern Aiden Pearce. Aiden Pearce ist nicht nur ein meisterlicher Hacker sondern auch Nahkampfexperte und geübt mit allen Arten von Feuerwaffen. Und er hat gehörig einen an der Klatsche.

Ubisoft gibt sich große Mühe dem Charakter Ecken und Kanten zu verleihen. Das gelingt nur bedingt. Schuld daran ist teilweise auch das Gameplay des Spiels das uns in ein teils recht enges Korsett zwingt.

Ein typisches Beispiel hierfür sind die Gangverstecke von Chicagos Straßenbanden. Dort dürfen wir dann alles und jeden abknallen bis auf den Bandenchef den wir bewusstlos schlagen müssen.

Das erhöht den Anspruch der ansonsten eher leicht geratenen Kämpfe etwas, ist aber restlos unlogisch. Wenn dann Aiden Pearce alias "Der Rächer" einem Verbrecher mit seinem Schlagstock über die Hauptstraßen Chicagos nachrennt um ihm eins über die Birne zu ziehen ist das unfreiwillig komisch.

Die nicht ganz so smarte Smart City

Das Hacken ist das zentrale Kernelement um das sich alles in Watch Dogs dreht. Das gelingt dem Spiel, wie die meisten anderen Dinge auch, mal glänzend und mal richtig mies. So kann sich Aiden mit seinem Supersmartphone in die allgegenwärtigen Kameras hacken und diese steuern. Dank Gesichtserkennung kann er zu jedem Bürger ein mehr oder weniger umfassendes Profil erstellen: Die Dame die da gerade mit einem Anzugträger rummacht hat eine diagnostizierte Geschlechtskrankheit. Oh und der Anzugträger ist HIV positiv? Die beiden werden sich in ein paar Wochen wohl einiges zu beichten haben.
Spielerisch sind diese Infos nutzlos. Genauso wie die Chats oder Telefongespräche die wir gelegentlich aufschnappen.

Soweit so glaubwürdig. Aber warum man zB in Chicago selbst Hebebühnen hackt und offensichtlich mit Internetanschluß ausrüstet bleibt Watch Dogs Geheimnis. Und selbst in einer alles vernetzenden Smart City erscheint es mir nicht besonders smart Dampfrohre in Straßen mit einer WLAN-Funktion auszurüsten.

Wer in Watch Dogs eine glaubwürdige Hacker Sandbox sucht wird enttäuscht. Stattdessen dient das Hacken oftmals einfach als Mittel zum Zweck für schicke Explosionen oder Schalterrätsel. Theoretisch gäbe es wirklich tolle Möglichkeiten. So wirft man z.B eine per Fernzündung aktivierbare Bombe zu einem Gabelstapler. Diesen lässt man nun auf Knopfdruck auf und ab fahren wodurch patrouillierende Wachen neugierig näher kommen. Ein Knopfdruck später und man kann die Wachen nur noch anhand ihrer Zähne identifizieren.

In der Praxis erspart man sich den Aufwand meist und greift einfach zur schallgedämpften Knarre. Da die Gegner dumm wie Stroh sind kann Aiden aus der Deckung heraus locker eine kleine Armee ausschalten. Selten macht man sich die Mühe wirklich gefinkelte Hinterhalte zu legen. Man räumt zuerst alles was geht mit Trafoexplosionen und sonstigen Unfällen weg und erledigt den Rest von Hand.

Übrig bleibt der Eindruck das Watch Dogs hier zu viel wollte und zu wenig wagt: Dabei zeigt sich sehr schön das Potential hinter der Idee als Aiden in einer Zwischensequenz jemanden mit dem Handy bedroht: "Aktuell sitzt du sechzig Tage ein. Bei guter Führung dreißig..." Dann hält er ihm das Handy vor mit einer fetten Haftstrafe von 60 Jahren "Ich zeig dir da gerade deine alternative Zukunft..."

Uplink widmete sich seinerzeit schon dem Thema Hacken in einer restlos vernetzten Welt. Watch Dogs hätte das neue Uplink werden können, bleibt aber weit hinter den Möglichkeiten zurück.

Chicago helle und dunkle Seiten

Der ambivalente Eindruck setzt sich auch auf technischer Ebene fort: Der erste Blick auf Chicago ist überwältigend. Jeder Laden ist anders eingerichtet, die Bezirke haben nach einiger Zeit echten Wiedererkennungswert. Selbst verfallene Fabrikshallen sind bis ins letzte Detail mit viel Liebe eingerichtet. Wenn es dann noch regnet und der Sturm die Schirme von Passanten verweht und die Bäume durchschüttelt hat man wirklich das Gefühl einer glaubwürdigen Welt.

Schon bald merkt man aber einige Risse in der Hochglanzfassade. Zum einen kann die Grafikengine augenscheinlich nicht mit Spiegeln umgehen. Es gibt zwar tolle Spiegeleffekte der Umgebung in den Glasfenstern der Hochhäuser aber ihr werdet keinen echten Spiegel finden. Die Vermutung liegt nahe dass sich die Engine schwer tut Personen physikalisch korrekt im Spiegel darzustellen. Personen oder bewegte Objekte werden niemals reflektiert - immer nur die Umgebung.

Watch Dogs ist technisch dennoch ein echter Hingucker. Und viele liebevolle Details machen Chicago lebendig. Beispiel? Ein Passant geht mit einem Becher Kaffee zu seinem Auto. Er wird angerufen und stellt den Becher am Auto ab. Nach dem Gespräch steigt er in sein Auto und fährt los - der Becher fällt dann vom Auto. Von diesen Details gibt es hunderte im Spiel. Wenn man bereit ist die Atmosphäre Chicagos ein wenig auf sich wirken zu lassen nimmt einen das Spiel richtig in Bann...

Ein schönes Beispiel für die etwas schlechteren Texturen: Die Beschriftung des Waffenladens bleibt auch auf höchsten Textureinstellungen unscharf...

...dafür sieht Watchdogs nachts wirklich beeindruckend aus

 

Die Bahn kommt immer an

Aiden Pearce ist der selbsternannte Rächer der Armen und Geknechteten. Wenn man sich nun zu einem Verbrechen hinreissen lässt ist die Polizei nur noch einen Anruf entfernt. Im Prinzip hat man sich damit dann das "Du bist geliefert"-Monster zum Essen eingeladen: Sowohl Banden als auch Polizei sind auf herkömmlichen Wege im Auto kaum bis gar nicht abzuschütteln wenn man erst einmal auf einer etwas höheren Fahndungsstufe ist.

Wenn es einem doch gelingt durch Hacking von Nagelsperren und Autopollern die Widersacher aufzuhalten kommt von vorne einfach Verstärkung bis der eigene Wagen nur noch schrottreif ist.

Das hat mehrere Auswirkungen auf das Spiel: Erstens sind praktisch alle Fixer-Aufträge irgendwie fahrzeugbasierend und machen daher kaum bis gar nicht Spaß. Zweitens läuft Flucht immer nach Schema F ab: Man flieht zum nächsten Hafen oder zur nächsten U-Bahn und setzt sich in ein Boot oder den Bummelzug.

Die zahlreichen Boote in der Stadt sind perfekte Fluchtmittel. Die doofe Polizei ist nicht in der Lage uns hier zu folgen.

 

Verhaltenskreative Steuerung

Das liegt auch daran dass die Steuerung mit Maus und Tastatur nicht optimal gelöst ist. Fahrzeuge steuern sich übertrieben fahrig und neigen dazu selbst bei geringen Geschwindigkeiten auszubrechen. Positiv hervorzuheben ist das jedes Fahrzeug seine eigene Fahrphysik aufweist. Dennoch: Wer schon einmal die Ehre hatte die übermenschliche Kraft eines Verbrennungsmotors zu entfesseln wird bestätigen können: Wenn Autos in der Realität dieses Fahrverhalten an den Tag legen würden hätten wir einen sehr radikalen Ansatz um die Überbevölkerung in den Griff zu kriegen.

In vielen Menüs gibt es keinen Mauszeiger und das Deckungssystem ist direkt aus der Hölle. Wer zum Beispiel hinter einer Mauer in Deckung gehen will geht in die Nähe der Mauer und drückt "C" Aiden läuft dann automatisch hin und geht in Deckung. Das klingt erst einmal praktisch bis man diese verlassen will. Im Gegensatz zu Deus Ex versucht einen das Spiel automatisch in Deckung zu halten, man muss keine Taste drücken um in Deckung zu bleiben.

Wenn man nun umlaufen wird und eigentlich möglichst schnell weg will bleibt man oftmals an der Mauer kleben und verwandelt sich vom gefährlichen Heckenschützen in eine Bleiente mit Zielscheibe.

Alle Macht den Drogen

Abseits der Hauptmissionen gibt es neben frustrierenden Fahraufträgen, Gaunern die eins mit dem Prügel übergebraten bekommen und Gangverstecken eine Reihe von Minispielen von wechselnder Qualität. Wir können uns einerseits dem Hütchenspiel und dem Poker widmen oder dank VR-Audiotracks uns in eine Halluzination werfen.

Das VR-Audiotracks hier ein Placeholder für Drogen ist, ist offensichtlich. Spaß machen die Dinger trotzdem: Sei es indem man mit einem riesigen Spinnenpanzer durch die Stadt walzt oder zu psychedelischer Musik von Blume zu Blume katapultiert wird.

Im Prinzip handelt es sich bei diesen VR-Spielchen um Kopien der Minispiele aus Saints Row. Und siehe da: Was dort funktioniert, klappt auch hier.

Warum macht der Typ das?

Aufmerksame Leser und -innen haben aus dem Test bereits einiges über Aiden gelernt. Zum Beispiel das er gerne Straßengauner mit nem Stock vertrimmt oder ihnen ne Kugel ins Gesicht jagt. Warum? Um die Stadt vom Verbrechen zu befreien. Nehmen wir nun an dieser selbsternannte Rächer trifft in einer finsteren Seitengasse auf einen Verbrecherboss. So ein richtiges Schwergewicht.

Was wird er nun tun?
A: Er nimmt ihm sorgfältig das Hütchen ab und prügelt ihn mit seinem Schlagstock zurück in die Zeit als die Saurier noch die Erde beherrschten.
B: Er hilft ihm mit seiner treuen schallgedämpften Maschinenpistole die lästige Angewohnheit zu atmen für immer los zu werden.
C: Er dreht sich um, geht fröhlich pfeifend los und zieht einem kleinen Drogendealer eins über die Birne. Jeder braucht ein Hobby.

Ein Tipp für die Ratefüchse: Die richtige Antwort hat etwas mit einem kleinen Drogendealer zu tun.

Es wirkt so als hätte Aiden Angst vor der eigenen Courage. Er unternimmt etwas - aber alles nur halbherzig.

Und es macht trotzdem Spaß!

Dennoch macht Watch Dogs einfach verdammt viel richtig. Sich z.B in Seitengassen vor der Polizei zu verstecken während diese die Hauptstraßen absuchen sorgt richtig für Flair. Oder eine Wache nach der anderen in einem ctOS Knoten auszuschalten obwohl man das Gebäude nichtmal betreten hat. Hier kommt diebische Freude auf.

Oder noch ein Beispiel? In einer der vielen freiwilligen Nebenmissionen musste ich einen Konvoi von Organhändlern aufhalten die unterwegs waren um einen unfreiwilligen Spender zu entführen. Ich habe mir eine schöne Stelle mit Dampfrohr gesucht. Auf die Straße habe ich dann Minen mit Fernzündern gelegt. Als der Konvoi eintraf ließ ich das Dampfrohr per Smartphone explodieren wodurch es den Vordermann zeriss. Die Minen gingen hoch und heraus kam eine fulminante Kettenexplosion die den kompletten Konvoi zur Hölle jagte.

Oder wenn man sieht wie sehr der Datenkrake facebo... äh ctOS das Leben der Menschen kontrolliert wenn man sich die Videos in den ctOS-Serverräumen ansieht. Manche sind urkomisch, manche eher Igitt und andere komplett belanglos: So wie Menschen eben sind.

Wirklich aufdrehen tut Watch Dogs dann in der Kampagne. Auch wenn die Story in großen Zügen vorhersehbar ist: Die Missionen sind größtenteils gut und abwechslungsreich gestaltet. Und auch wenn es ab und an zum Biss in die Tastatur kam weil einem die Steuerung mal wieder nen Strich durch die Rechnung machte: Ich habe die Kampagne in den meisten Teilen genossen.

Spaßig und sinnbefreit zugleich: Hier haben wir eine Wasserleitung gehackt um eine Dampfexplosion zu verursachen.

 

Fazit: Angst vor der eigenen Courage

Aiden und das Spiel haben einiges gemeinsam. Beide gehen brisante Themen an um dann auf halbem Wege doch noch abzuschwenken. Wenn man WatchDogs an den Versprechen und Lobpreisungen der Ubisoft-Marketingexperten misst ist es eine glatte Enttäuschung. Weder wird das Thema Hacken komplett ausgereizt noch ist die Technik hinter dem Spiel wirklich das was ich unter NextGen verstehe.

Aiden selbst bleibt wie das Spiel voller Widersprüche. Hätte man sich hier wirklich klar und voll zur Thematik "Hacken" und "Überwachung" bekannt, das Thema voll ausgereizt... es hätte aus einem unterhaltsamen Spiel ein Kunstwerk machen können.

So bleibt WatchDogs genau das: Ein unterhaltsames Spiel mit paar handwerklichen Macken und guter Technik. Aber eben nur das.


Wertung
Pro und Kontra
  • * Chicago wirkt extrem lebendig dank vieler Verhaltensmuster der Bürger
  • * Gebäude und Umgebung wurden mit viel Liebe zum Detail gestaltet
  • * Tolle, vielfältige Kampagnenmissionen
  • * Das Hacken macht Spaß und bereichert das Spiel um interessante Elemente
  • * Viele Nebenaktivitäten
  • * Die Grafikengine kann Reflexionen nicht korrekt darstellen, darum gibt es im ganzen Spiel keine Spiegel
  • * Einige Texturen sind selbst auf den höchsten Einstellungen noch verwaschen und unscharf
  • * Die Story der Kampagne passt nicht zum restlichen Verhalten Aidens im Spiel
  • * Grausame Steuerung im Fahrzeug und beim Deckungssystem
  • * Menüführung ist eine Zumutung
  • * Einige Nebenaktivitäten sind spielerisch schlicht nicht sinnvoll
  • * Aufgesetztes Erfahrungspunkte-System

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher leicht

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



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