Das Licht geht aus im Konferenzsaal, und aus dem Dunkel beginnt Jean-François Dugas zu erzählen. Als sie die Inseln Samos und Levinthos überflogen hatten, berichtet Jean-François Dugas, wurde Ikarus übermütig. Er stieg höher und höher, dem Himmel entgegen, bis die Glut der Sonne das Wachs seiner Flügel schmolz und sich die Federn lösten. Der Sohn des Dädalus stürzte ins Meer und starb. Wenn der Mensch allzu dreist seine Grenzen überschreitet, so lautet die Moral der griechischen Sage, dann nimmt er ein böses Ende.
Und nun, in ein paar Jahren schon, beginnt die Sache mit den kybernetischen Verbesserungen. Mikromotoren und Gestänge in den Armen übertreffen die Leistungsfähigkeit von Muskelfasern um ein Vielfaches. Mikrochips, kunstvoll mit der Hirnrinde verwoben, erweitern die Merkfähigkeit. Was machbar ist, wird wünschenswert, und im Jahr 2027 ist die Kybernetik der wichtigste Wirtschaftszweig der Welt. Wieder wächst der Mensch über sich hinaus; nicht durch Federn in Wachs diesmal, sondern mit Federn im Fleisch. Die Konsequenzen daraus schildert das düstere Action-Rollenspiel Deus Ex: Die Gesellschaft zerfällt in eine Unterschicht der Normalsterblichen und eine Elite der Verbesserten, die die überall tobenden Klassenunruhen zu lösen versucht, indem sie die Welt mit einem künstlich erschaffenen Nanovirus entvölkert, ein staatenübergreifender Genozid.
Jean-François Dugas verstummt, er hat zusammengefasst, was alle in der Runde bereits wussten: die fünf Journalisten, der Führungsstab von Eidos Montreal, die fünf leitenden Köpfe des Entwicklerteams, sie kennen Deus Ex, vor acht Jahren erschienen, eines der wichtigsten Spiele seiner Zeit, ein Klassiker, es hat Maßstäbe gesetzt. Ein Dädalus. Sie alle wissen vom Nachfolger, Deus Ex 2, über den man nicht gerne spricht, so weit war er 2003 von der Größe des Vaterspiels entfernt. Abgestürzt, ein Ikarus. Das macht die Sache pikant. Dugas und seine Teamkollegen sitzen am Konferenztisch in Montreal, um von dem Spiel zu sprechen, an dem sie seit eineinhalb Jahren arbeiten: Deus Ex 3. »Also.« Jean-François Dugas atmet durch. Der Flug beginnt.
Am Anfang war die Furcht
»Das erste Deus Ex spielte im Jahr 2052«, sagt Mary De Marle und tippt auf die Tastatur; auf der Leinwand erscheint ein Zeitstrahl. Das Jahr 2029 ist mit einem Strich markiert, daran steht: »Geburt von J.C. Denton«. Denton war der Held des ersten Deus Ex. Etwas links davon, beim Jahr 2027, ragt ein weiterer Strich aus dem Strahl. Er steht für Deus Ex 3. »Unser Spiel wird ein Prequel. Wir erzählen die Vorgeschichte«, sagt De Marle, die Chefautorin des Projekts, von ihr stammt die Rahmenhandlung. De Marle hat früher an den Myst-
Spielen mitgeschrieben. Die Fans, erzählt sie, hätten sie gehasst für jede Kleinigkeit, die nicht ins Universum passte. Sie hat Erfahrung mit Serientreue.
Deus Ex hatte zwei große Themen: Die Veränderung des Menschen durch Nanotechnologie und die Verschleierung von Motiven durch Verschwörungen. Keiner traut keinem, die Welt taumelt zwischen Paranoia und Endzeitstimmung. In Deus Ex 3 zeichnet sich dieser Abgrund erst düster am Horizont ab, aber die Gesellschaft ist bereits von Rissen durchzogen. Multinationale Kybernetik-Konzerne übertreffen in vielen Ländern die Regierungen an Einfluss. Wer es sich leisten kann, hilft seiner Schaffenskraft mit mechanischen Implantaten auf die Sprünge. »Wie gehen die Menschen damit um, dass einige von ihnen sehr viel klüger und besser sind als andere?«, fragt Mary De Marle. Spannungen entladen sich in einer neuen Form von Rassismus, auf den Straßen werden Implantierte von Gruppen normaler Menschen verprügelt. Oben in den Chefetagen der Kybernetikfirmen schmieden die Strategen Pläne und Gegenpläne für Sabotagekriege gegen die Konkurrenz. Hinter den Firmen steckten Geheimbünde, munkelt man, die wiederum nur Marionetten seien, aber für wen? »Jemand will die Kontrolle an sich reißen«, sagt De Marle, »über den Markt und die Gesellschaft, aber letztendlich über die menschliche Evolution.« Sie hat alle Instanzen in Deus Ex 3 auf ein großes Blatt Papier gezeichnet, erzählen die Kollegen, und die Verschwörungen durch Verbindungslinien markiert. Am Ende sah der Zettel aus wie ein Strickmuster.
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