Was ist real?
Der wesentliche Streitpunkt, an dem sich die Expertenmeinung spaltet, betrifft eine der grundlegendsten Fragen der Medienforschung: Wie stark sind Fantasie und Realität getrennt? Wie leicht springen Mechanismen vom Monitor in den Alltag - wenn überhaupt? »Bislang konnte nicht festgestellt werden, dass virtuelle Gewalt ihre Welt verlassen hätte«, schreibt etwa Jürgen Fritz, einer der erfahrensten Videospiele-Forscher in Deutschland. »Mediale Gewalt ist nicht das Modell für die gesellschaftliche Gewalt, eher ihr Spiegel.« Was die Wissenschaft »Rahmungskompetenz« nennt, ist die Fähigkeit, zwischen der physikalischen Welt und vorgetäuschten Welten zu unterscheiden. Mit etwa sechs Jahren lernen Kinder, dass im Fernseher keine Menschen wohnen. Dieses Wissen dient fortan als Trennmembran zwischen den Welten. Dass diese Membran kaum durchlässig ist, davon ist Jürgen Fritz überzeugt. »Wenn ich in einem Shooter gut bin, übertrage ich diese Kompetenzen auf einen ähnlichen Shooter. Ein Transfer in die reale Welt ist in der Regel auszuschließen.« Dafür sorgt die Selbstkontrolle des Bewusstseins, die in der virtuellen Welt gelernte Schemata abblockt. »Eine meiner Studentinnen ist begeisterte Adventure-Spielerin «, erzählt Fritz. »Sie sagt, in einem fremden Raum hat sie manchmal den Impuls, nach nützlichen Gegenständen zu suchen. Sie ist dann sehr erstaunt über sich selbst, folgt diesem Impuls aber natürlich nicht.« Aggression, so lautet Jürgen Fritz' Fazit, wird im echten Leben gelernt: »Wer Gewalt real ausübt, hat Gewalt auch real erlebt, erfahren und erduldet.«
Seine Kollegin Ute Ritterfeld vermutet dagegen, dass die rationale Selbstkontrolle bei starker Vertiefung für einige Zeit außer Kraft gesetzt werden könnte. Die Grenze zwischen virtuellem und echtem Erleben würde dann verwischen. »Wenn Sie ein trauriges Buch lesen, dann ist Ihr Erleben real. Sie weinen echte Tränen.« Ein Experiment versetzte Testpersonen über eine Virtual-Reality-Brille in einen abstrakten, kantigen Raum, der durch einen Abgrund geteilt war. Über den Abgrund führte ein Steg. »Nicht mal in dem Moment, wo man drin ist, würde jemand sagen, das ist reale Umwelt «, beschreibt Ritterfeld das Szenario. Trotzdem: Rund die Hälfte der Teilnehmer weigerte sich, den virtuellen Abgrund zu überqueren - obwohl sie wussten, dass der Raum in der echten Welt eben und hindernisfrei war. »Es gibt Bewusstseinsprozesse und automatische Prozesse«, erklärt die Psychologin. »Angst ist ein automatischer Prozess.« Und folgert vorsichtig: »Kann sein, dass Computerspiele direkt wirken.«
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