Über ein Jahr lang hat sich das Entwicklungsstudio Dontnod Zeit gelassen, um mit Life is Strange 2 die Geschichte der Diaz-Brüder auf ihrer Flucht durch die USA zu erzählen. Beim Vorgänger haben wir mit Max und Chloe in Arcadia Bay die Ankunft eines mysteriösen Unwetters erwartet, im zweiten Teil sind wir der Sturm, der über fünf Episoden lang eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzieht.
Zwei Brüder auf der Flucht
Eingeleitet wird die Tour de Force durch den plötzlichen Tod von Papa Diaz, der bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen wird. Durch den Schock entwickelt sein Sohn Daniel telekinetische Fähigkeiten, die sich in einer riesigen Macht-Explosion entladen. Die Schockwelle tötet den Polizisten, wodurch die beiden Jugendlichen zu gesuchten Mördern werden.
Wir spielen Daniels großen Bruder Sean, der durch den Unfall unvermittelt in die Erzieher- und Beschützerrolle für den erst Neunjährigen stolpert. In seiner Panik beschließt der 16-Jährige nach Mexiko zu fliehen. Er möchte Daniel davor bewahren als Versuchskaninchen in den Laboren des Militärs zu landen.
In fünf Episoden haben wir Sean und Daniel einmal quer durch Nordamerika von einem Schlamassel in den nächsten begleitet. Wir haben neue Freundschaften geschlossen, unangenehme und bedrohliche Menschen getroffen und sind mehrmals dank Daniels übersinnlicher Kraft aus ausweglosen Situationen entkommen. Nun stehen wir im Finale an der Grenze zu Mexiko und vor der alles entscheidenden Frage, ob wir den letzten Schritt wagen - mit allen Konsequenzen, die unsere bisherigen Taten mit sich bringen.
Wie gut waren die Episoden im einzelnen
Da Life is Strange 2 wie der Vorgänger im Episodenformat veröffentlicht wurde, haben wir einzelne Abschnitte des Spiels bereits in anderen Artikeln behandelt.
- Life ist Strange 2: Episode 1 - Ein Spiel über Donald Trumps Amerika
- Life is Strange 2: Episode 2 - Das größte Problem ist der Erfolg des ersten Teils
- Life is Strange 2: Episode 3 - Rückkehr zu alter emotionaler Stärke?
Für Episode 4 haben wir keinen eigenen Artikel mehr geschrieben. Dieser Test hier deckt aber mit seiner Wertung die gesamte Staffel ab und schließt damit auch Episode 4 ein.
Moral & Brüderlichkeit
Insgesamt vier grundverschiedene Enden haben die Autoren für das Finale geschrieben und ausgearbeitet. Welches davon wir in unserem persönlichen Durchgang zu sehen bekommen, definiert sich durch die zuvor getroffenen Entscheidungen beziehungsweise durch zwei Faktoren: Welches Wertesystem haben wir unserem kleinen Bruder inzwischen vermittelt, und wie stark ist die brüderliche Loyalität?
Über alle Episoden hinweg beobachtet uns Daniel und registriert unsere Aktionen. Klauen wir einen Schokoriegel und brechen ein Auto auf, zeigen wir ihm, dass die eigenen Bedürfnisse über dem Gesetz stehen. Verhalten wir uns dagegen moralisch korrekt und achten unsere Mitmenschen, wird auch Daniel seine Kräfte nicht gegen Unschuldige einsetzen. Der Wert der Brüderlichkeit wird dadurch gemessen, wie wir mit Sean umgehen und auf seine Vorschläge und Ideen reagieren. Uns gefällt, dass diese Mechanik zu keiner Zeit einsehbar ist und sich organisch formt.
Showdown in Mexiko
In der letzten Entscheidung an der mexikanischen Grenze reagiert Daniel entsprechend seines angelernten Moralsystems und dem Verhältnis zu seinem Bruder. Das individuelle Zusammenspiel dieser Faktoren leitet dann die Endsequenz ein. Ohne zu viel zu verraten: Keines der vier Enden konnte uns wirklich überzeugen.
Ein Grund dafür sind die vor allem in Episode 4 und 5 nicht nur schwer nachvollziehbaren Aktionen der Charaktere und das teils sehr unglaubwürdige Drehbuch. Es fällt uns schwer zu glauben, dass zwei national mit Bild und Namen gesuchte Polizistenmörder unentdeckt durch die USA reisen, ohne von einer medial begleiteten FBI-Omnipräsenz innerhalb weniger Tage entdeckt zu werden. Spätestens als Daniel in der vierten Episode als vermeintlicher Messias in einer Sekte öffentlich seine Kräfte zur Schau stellt, hat uns die anfangs noch plausible Fluchtgeschichte komplett verloren.
Die finale Episode hat ebenfalls mit ärgerlichen, komplett irrationalen Momenten zu kämpfen. Warum fährt Sean mit dem Wissen um die enorme Polizeipräsenz (er organisiert sich sogar ein Polizeifunk-Abhörgerät) dennoch direkt in die Arme der Ordnungshüter am offiziellen Grenzübergang? Uns beschleicht das Gefühl, dass die Autoren mit Gewalt einen dramatischen und actionreichen Showdown erzwingen wollten.
Spielenswert trotz unbefriedigendem Ende
Viele Fragen wie die Herkunft von Daniels Superkräften bleiben auch nach dem Abspann unbeantwortet. Warum wir Life is Strange 2 trotz der Enttäuschung über das Finale trotzdem gerne gespielt haben? Es sind die Charaktere, Gespräche und Situationen außerhalb der Rahmenhandlung, die uns begeistern. Im Kern geht es in dieser Erzählung darum, dass Menschen auf viele Arten auf der Flucht sind. Teils, weil sie von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, weil sie nicht den gesellschaftlichen Normen entsprechen oder wegen ihrer Herkunft und Hautfarbe diskriminiert werden.
Besonders in Erinnerung bleiben uns die Dialoge, die wir mit Seans Mutter führen. Karen fühlte sich nach der Geburt ihrer Kinder wie in einem goldenen Käfig und stellte ihr eigenes Wohlbefinden und Freiheitsbedürfnis über ihre Familie, sie verließ Mann und Söhne. Damit entspricht sie nicht dem gängigen Mutterideal und bittet ihre Söhne um Verständnis. Sie akzeptiert aber auch, dass diese wütend und verärgert darauf reagieren.
Die sehr menschlichen Charakterzeichnungen sind es, die Life is Strange zu einer besonderen und wichtigen Spielserie machen. Da verzeihen wir der zweiten Season auch das im Vergleich zum ersten Teil schwächere Drehbuch. Life is Strange 2 ist alles andere als perfekt, aber hat das Herz am richtigen Fleck.
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