Polen setzt auf Videospiele - das Event in Warschau beweist, dass ein neuer Wind weht

Die Tradition der Pferderennen in Polen datiert mindestens ins Jahr 1777 zurück, und der Ort, den jeder Pole mit diesem Sport verbindet, ist die Sluzewiec-Pferderennbahn in Warschau. Die Dinge haben sich seit dem 18. Jahrhundert jedoch merklich geändert, und an dem Ort wurde nun ein komplett anderer Wettbewerb veranstaltet – der Game Jam Square, ein Wettbewerb im schnellen Entwickeln von Videospielen.

Von Marcin Strzyzewski

Am letzten April-Wochenende war weder von Pferden noch von Jockeys noch Wettbegeisterten etwas im Stadion zu sehen. Stattdessen tummelten sich dort 51 kleine Teams von Entwicklern, Designern und Grafikern. Jeder von ihnen hatte 40 Stunden Zeit, ein Spiel basierend auf der einfachen Prämisse "Was bedeutet Verantwortung für dich?" zu kreieren. Aber warum der Aufwand? Um etwas zu beweisen? Mit Sicherheit auch. Vielleicht fürs Geld? Die Sports Totalizer lobten Preisgelder im Wert von einer Viertelmillion Zloty (ca. 58.000 Euro) für die besten Projekte aus. Vielleicht taten sie es aber auch nur aus Liebe zum Spielen? Diese Antwort birgt sicher auch Wahres, denn Polen lieben Spiele.

Vor knapp 30 Jahren konnte sich in Polen kaum jemand modernes Spielezubehör leisten; ein GameBoy "aus dem Westen" war fast so viel wert wie ein Farbfernseher, und die Spiele selbst wurden meist als Kinderkram angesehen. Aber das Land hat sich entwickelt, und die polnischen Entwickler, die ihr Abenteuer in den 90er-Jahren starteten, wandelten sich von Händlern alter amerikanischer Raubkopien hin zu bekannten Persönlichkeiten in der internationalen Videospielbranche.

Die Teilnehmer des Game Jams träumen davon, die zahlreichen polnischen Erfolgsgeschichten zu wiederholen - die in der Tat so zahlreich waren, dass es einen Extra-Artikel benötigen würde, um über sie zu schreiben. The Witcher, Dying Light, This War of Mine, Observer, Superhot, World War 3. Letzteres sorgt für besondere Ehrfurcht unter den Wettbewerbsteilnehmern, da die Originalversion des Spiels als Teil der 7 Day FPS Challenge erschaffen wurde - einem Wettbewerb ähnlich zum Game Jam - und die 2016 veröffentlichte Vollversion über eine Million Stück allein auf Steam verkaufte. Eine Hollywood-Story, die sich in Lódz zutrug.

Ein Tag im Leben eines Entwicklers

Jeder Game Jam ist ähnlich - es herrscht komplettes Chaos, wohl aus dem Grund, dass der Entwicklungsprozess bei jedem Spiel komplett anders ist. In der Regel dauert die Entwicklung eines Videospiels zwischen mehreren Monaten und mehreren Jahren. Am Anfang entsteht das Konzept und die Designer müssen sich auf solch Kernelemente wie das Genre des Spiels oder die Anzahl der Spieler festlegen. Dann folgen die wirklich schwierigen technischen Entscheidungen - 2D oder 3D? Welche Engine soll verwendet werden? Allein diese Entscheidungen zu fällen und das Projekt zu Papier zu bringen braucht schon Monate. Bei einem Game Jam hat man für all das keine Zeit. Hier haben die Teilnehmer 40 Stunden Zeit, inklusive dem, was die Branche als "Produktionsphase" bezeichnet.

"Wenn du allein bist, vergehen 15 Minuten, bis du bereit bist anzufangen. Bei zwei oder drei Leuten sind das ein paar Stunden, und bei einem achtköpfigen Team, und ich habe in der Tat schon Teams solcher Größenordnung gesehen, sitzt du zehn Stunden da und triffst Entscheidung über Entscheidung über Entscheidung", erklärt Daniel Moros, einer der Teilnehmer.

Die Geschichte jedes Spiels - egal ob groß oder klein - ist eine Geschichte endloser Verhandlungen, Zugeständnissen und Problemlösungen. Das Gleiche gilt beim Game Jam Square. Die meisten Teams wollen während des Events nicht einmal mit uns reden. Jeder Versuch wird mit einem "Nicht jetzt" abgeschmettert. Wenn es besser laufen würde, würde man stattdessen sicher so etwas wie "Kleinen Moment, ich muss mich nur noch kurz hier um was kümmern." zu hören bekommen. Andere wiederum reden lieber mit dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki, der die Veranstaltung besucht und an Ständen und Tischen vorbeischaut, um sich dort mit Leuten zu unterhalten. Manche Unterhaltungen kann man einfach nicht abschlagen. Was hat der Ministerpräsident bei Game Jam gemacht? Seine Anwesenheit war ein Beweis dafür, dass Polen den Sprung in die Kreativbranche wagt und dazu gehört natürlich auch die Videospielbranche.

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki.

Am Ende ist es jedoch nicht sicher, ob alle teilnehmenden Teams auch wirklich funktionierende Projekte abliefern. "Du musst deinen Ehrgeiz im Zaum halten. Einmal haben wir ein Spiel geliefert, das im Wesentlichen nicht funktioniert hat. Die grundlegenden Spielmechaniken haben nicht funktioniert, man konnte nicht springen oder Gegenstände werfen. Es ging total in die Hose", erinnert sich Konrad Ignasiak während einer kleinen Programmierpause.

Manche der in Sluzewiec kreierten Spiele waren herausragend. Das Rhythmus-Arcade-Spiel Honey Beatvon einem Duo namens Color Fuel gewann den verdienten Hauptpreis in Höhe von 14.000 Euro. Die Jury zeichnete außerdem Catocalypse, ARK,From the Stench to Blling, Cam Boom und The Chief aus. Welches dieser Spiele wird wohl einen "richtigen" Entwicklungsprozess durchlaufen, um den Weg zu Hunderttausenden von Spielern zu finden?

Das Talent ist das Kapital

Die Frage aus dem vorangegangenen Abschnitt mag etwas sehr enthusiastisch klingen, dennoch ist es eine berechtigte Frage. Superhot, das oben genannte Spiel, war weder das erste noch das letzte Spiel, das sowohl von Gelegenheitsspielern als auch von Hardcore-Gamern gut angenommen und am Ende ein Vollpreisspiel wurde. Andere Beispiele beinhalten den abgefahrenen Goat Simulator, das ungewöhnliche Puzzlespiel Baba is You oder das immer noch sehr beliebte Don't Starve. Die Liste der Entwickler, die ihre Anfänge auf Wettbewerben wie diesem hatten, ginge noch weiter. Es ist kein Zufall, dass viele bekannte polnische Entwickler und Publisher Partner von Events wie Vivid Games Mundi oder IMGN.PRO waren. Sie alle suchen nach talentierten Mitarbeitern, und es gibt keinen besseren Weg, sein Talent unter Beweis zu stellen, als in 40 Stunden ein Spiel zu erschaffen.

Die Organisatoren des Game Jam Square in Warschau, die Agentur für Industrieentwicklung und die ARP Games (Agentur für industrielle Entwicklung - Games), sind sich nur zu gut der Art und Weise der Revolution bewusst, die Videospiele Polen beschert haben. Natürlich halten immer noch viele Leute, nicht nur in Polen, Videospiele für billige Unterhaltung für faule Teenager. Wenn man aber genauer hinschaut, wird man sehen, wie sehr die Entwicklung der Spieleindustrie die dramatische Veränderung reflektiert, die das Land durchlaufen hat.

Vor 1989 exportierte das sozialistische Polen hauptsächlich Kohle, Fleisch, Zucker und Getreide. Das Land baute auf Landwirtschaft und Schwerindustrie, womit vorwiegend Moskau mit seinen imperialen Ambitionen unterstützt werden sollte. Videospiele sind das genaue Gegenteil dieser unbestreitbar "sexy" Exportgüter. Jedes Spiel ist eine einzigartige Kombination aus topmoderner Technologie und hoher Kunst. Im Spielebereich können sogar kleine Unternehmen Mehrwert für die gesamte Volkswirtschaft generieren.

Das beeindruckendste Beispiel sind die Macher von The Witcher, die CD Projekt Capital Group. Im Juli 2018 erreichte die Marktkapitalisierung des Unternehmens die Rekordsumme von knapp 19 Milliarden Zloty, was bedeutet, dass das Unternehmen mit mehreren Hundert Angestellten mehr wert war als der nationale Konzern KGHM, ein weltweit führender Hersteller von Kupfer und Silber mit über 30.000 Beschäftigten.

Deswegen sollte man sich nicht vom kleinen Rahmen des Game Jam täuschen lassen. Man kann nur vermuten, welche der Teilnehmer eines Tages Schlüsselrollen in einem der größten polnischen Studios innehaben werden oder selbst ein Unternehmen gründen, das mit den internationalen Branchengrößen konkurrieren wird. Ein paar werden es aber mit Sicherheit schaffen, zu einem Großteil auch dank der Regierung, die durch verschiedene Agenturen Kreativität und Talentscouts fördert. In der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts ist das mindestens genauso wichtig wie natürliche Rohstoffe.