World of Warcraft: Wie die MMO-Sucht meine Familie zerstört hat

Das Zocken war unser gemeinsames Hobby und führte uns zusammen. Bis für alles andere keine Zeit mehr war. Ein Einblick in das Leben einer süchtigen Familie zur Hochzeit von Blizzards Online-Rollenspiel WoW.

Der GameStar-Autor verbindet mit World of Warcraft viele Erinnerungen - freudige wie schmerzhafte. In seinem persönlichen Rückblick zeigt er die Gefahren einer Online-Spielesucht auf. Und wie er durch WoW eine engere Bindung zu seinem Vater gewonnen hat. Der GameStar-Autor verbindet mit World of Warcraft viele Erinnerungen - freudige wie schmerzhafte. In seinem persönlichen Rückblick zeigt er die Gefahren einer Online-Spielesucht auf. Und wie er durch WoW eine engere Bindung zu seinem Vater gewonnen hat.

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In Tests und Wertungen sprechen wir gern von Suchtpotenzial und meinen das für gewöhnlich positiv. Doch im Extremfall zerstört das, genau wie jede Art von Sucht, Leben. Dies soll aber keine Hasskolumne gegen MMOs im Allgemeinen oder World of Warcraft im Speziellen sein. Im Gegenteil - spielt gemeinsam mit denen, die ihr liebt! WoW war hier lediglich der Auslöser zur Realitätsflucht, es hätte aber ebensogut Glücksspiel, Alkohol oder jedes beliebige Rauschmittel sein können.

Anmerkung der Redaktion: Aus naheliegenden Gründen möchte der Autor anonym bleiben.

Update vom 3. Juli 2023: Dass dieser Artikel im Jahr 2019 entstand, war ausschließlich durch die Unterstützung unserer Plus-Mitglieder möglich. Nachdem wir kürzlich ein Update der Situation zehn Jahre nach den hier beschriebenen Ereignissen veröffentlicht haben, wollen wir diesen wichtigen Beitrag zur Spielesucht-Debatte nun jedoch nachträglich allen GameStar-Lesen zugänglich machen.

Falls ihr danach den zweiten MMO-Sucht-Artikel zehn Jahre später lesen wollt, würden wir uns freuen, wenn ihr mit einem Plus-Abo weitere Artikel dieser Art und hochwertigen Gaming-Journalismus bei GameStar unterstützt.

Warcraft war eigentlich nie so mein Ding. Ich habe den ersten Teil vor endlos langer Zeit mal auf einem Flohmarkt gekauft, der war ganz nett, mehr aber auch nicht. Ich mochte den Look von Warcraft 2. Die Elfen sahen cool aus. Die Kriegsschiffe. Und die Leichen, die langsam auf dem Schlachtfeld verwesten.

Damals fand sich in jedem Haushalt mit einem PC eine Demo zu diesem Spiel, wahrscheinlich in irgendeiner Sammlung mit Abuse, Blake Stone, Duke Nukem 1&2 und dem ersten Akt von Doom. Warcraft 3 habe ich komplett ignoriert und entsprechend kalt ließ mich schließlich World of Warcraft. Das Setting interessierte mich nicht, die Grafik mit ihren drei Polygonen pro Charakter fand ich hässlich.

Über einen Freund, der komplett außer sich war vor Begeisterung, erhielt ich einen Key für die geschlossene Beta zu Blizzards MMO. War zwar nicht mein Ding, aber bei so einer Gelegenheit schaut man natürlich trotzdem mal rein. Dann habe ich als Taurenkrieger mit einem abartig großen Hammer irgendwelche Schweine weichgeklopft. In Zeitlupe.

Damals hatte man zu Spielbeginn ja nicht wirklich viel auf der Aktionsleiste und zwischen zwei automatischen Angriffen wechselten die Jahreszeiten. Dann was essen und warten, bis das Leben wiederhergestellt ist. Es war mitten in der Nacht, Mulgore war stockdunkel und meine ersten Momente im Spiel waren weder schön noch besonders actionreich.

Ich verbrachte die meisten Wochenenden bei meiner Familie. Mein Vater und mein Stiefbruder hatten mir eine Weile interessiert beim Spielen zugeschaut, also habe ich ihnen den Beta-Account überlassen. Die beiden bekamen absolut nicht genug davon.

Wir haben unzählige Stunden im Alteractal verbracht. Die schlachten waren zäh, viel zu lange und oft frustrierend. Geile Zeit! Wir haben unzählige Stunden im Alteractal verbracht. Die schlachten waren zäh, viel zu lange und oft frustrierend. Geile Zeit!

Schlachtenatmosphäre

Kurz vor Release hatten wir alle unseren eigenen Account. Ich schaute selbst auch noch mal rein in der Hoffnung, vielleicht doch noch meine Begeisterung für WoW zu entdecken. Das Spiel war immer noch lahm, die Koyoten und Schweine hässlich.

Dann liefen mir plötzlich Spieler der Allianz über den Weg. Einer trug einen gehörnten Helm, ein paar ritten auf Pferden. Mit der Zeit sammelten sich immer mehr von ihnen. Um mich herum tauchten derweil immer mehr Anhänger der Horde auf. Es bildeten sich zwei kleine Armeen, zwischen uns ein pixeliger Fluss mit diesen flimmerigen Wassereffekten aus WoW Classic. Fanden wir damals total schön.

Aus heutiger Sicht, fast anderthalb Jahrzehnte später, klingt das sicher total langweilig. Aber für mich war das der Moment, in dem World of Warcraft mich zum ersten Mal beeindruckt hat. Da standen wir, zwei Gruppen von Spielern, zwei Fraktionen, an gegenüberliegenden Ufern.

Ich hatte einen ranzigen Holzhammer und keine Ahnung, wie PvP überhaupt funktioniert. Gerade eben hatte ich einfach nur Schweine geklopft, Blumen gepflückt und mich gelangweilt und jetzt bahnte sich völlig überraschend eine Schlacht an.

Während der ewig langen Greifenflüge konnte man in aller Ruhe in die Talentbäume schauen. Während der ewig langen Greifenflüge konnte man in aller Ruhe in die Talentbäume schauen.

Ich stand plötzlich mitten im Heer meiner Fraktion, unerfahren, nervös. Einerseits irgendwie scharf darauf, mit meiner Seite in den Fluss zu stürmen und die Allianz zu vernichten. Andererseits ziemlich überzeugt davon, dass ich in Sekundenschnelle sterben würde, was kein schöner Gedanke war.

Das war nicht geplant oder irgendwie gescriptet, das war keine Zwischensequenz, wie sie jeder Spieler an exakt dieser Stelle zu diesem Zeitpunkt automatisch erlebt. Das ergab sich einfach so aus den Handlungen der Spieler.

Ich weiß gar nicht mehr, ob der große Kampf dann überhaupt noch stattfand oder nicht. Damals schmierten für gewöhnlich die Server ab, wenn sich zu viele Spieler beider Fraktionen am selben Fleck versammelten. Aber dieser Aufmarsch der Spieler, die Atmosphäre, die Anspannung - das war für mich völlig neu. Das war aufregend!

World of WarCraft - Screenshots ansehen

Die Familie wächst zusammen

Der Release war die Hölle. Mein Vater und mein Stiefbruder hatten bereits Accounts erstellt, da musste ich noch arbeiten. Endlich fertig im Büro, mit dem Rechner zur Familie gefahren, Diskjockey gespielt (das Spiel kam auf zig CDs), die Kontogenerierung aufgerufen - und die Webseite war platt. Stundenlang! Zu großer Andrang.

Bis ich endlich im Spiel war, hatte mich meine Familie bereits schändlich hintergangen und war zur Allianz übergelaufen. Weil wir gemeinsam spielen wollten, war ich jetzt gezwungenermaßen ein Nachtelf. Mein Stiefbruder war ein Gnom, mein Vater war Rotbart, Jäger vom Volk der Zwerge.

Die beiden hatten einander relativ schnell gefunden, da eierte ich noch durch das Startgebiet der Elfen und hatte keine Ahnung, wie ich zu meiner Familie aufschließe. Ein paar Spieler boten Portale für Goldbeträge an, die ich mir beim besten Willen nicht leisten konnte. Irgendwann habe ich es auf ein Boot geschafft und mich dann von Menethil aus durchgestorben.

Einige Zeit später standen wir zusammen in Westfall vorm ersten Dungeon. Der hatte damals noch seinen englischen Namen - Deadmines. Als Krieger ging ich natürlich zuerst rein, gab das Tempo vor, war der Bosstank. Das war einfach so in WoW Classic. Bist du Krieger, dann tankst du, ohne Wiederrede. Und ich habe meinen Job gemacht. Haben wir alle.

WoW vor 19 Jahren - Video-Rückblick: So anders war World of WarCraft 2004 Video starten 7:50 WoW vor 19 Jahren - Video-Rückblick: So anders war World of WarCraft 2004

Wir fühlten uns wie Superhelden, waren ein Team, wuchsen zusammen. Beim Abendessen ging es um nichts anderes. Um den coolen Goblinshredder, um Mr. Smite und das Piratenschiff in der Höhle wie bei den Goonies. Wir hatten gemeinsam etwas echt Abgefahrenes, Aufregendes erlebt und es voll durchgezogen. Das war ein geiles Erfolgserlebnis auch ganz ohne Achievements. Die gab es noch nicht.

Wichtiger als das Spiel an sich war aber die Tatsache, dass ich endlich mal Zeit mit meinem Vater verbrachte. Während meiner Kindheit hatte der nämlich ständig gearbeitet, gepennt oder saß vorm Rechner und war nicht ansprechbar.

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Zu meinem zehnten Geburtstag wünschte ich mir einfach nur, dass wir mal einen ganzen Tag miteinander verbringen. Wir sind dann für ein paar Stunden in den Stadtpark gegangen, haben Minigolf gespielt und irgendwelche Viecher betrachtet. War für mich ein absolutes Highlight.

Jetzt saß er zwar immer noch stundenlang vorm Rechner, aber in Azeroth war er immerhin erreichbar. Besser noch - im Prinzip brauchte er uns ja sogar, weil wir immer gemeinsam als Gruppe unterwegs waren. Es war einfach eine geile Zeit, die ich manchmal sehr vermisse. Auch wenn sie so viele Probleme mit sich brachte.

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