Ich war bisher lange der Ansicht, dass 'professionelle Rezensenten' eine Eigenschaft besitzen, die Laien-Kritikern fehlt: Fairness. Die Größe subjektive...

von GROBI75 am: 05.06.2010

Ich war bisher lange der Ansicht, dass 'professionelle Rezensenten' eine Eigenschaft besitzen, die Laien-Kritikern fehlt: Fairness. Die Größe subjektive Vorlieben zu vernachlässigen über über eigene Erwartungen hinaus Visionäres zu erkennen und zu respektieren. Will ich Hobby-Schreiber lesen, für die ein Kopierschutz ein fundamentaler Faktor für den Spielgenuss sind, kann ich mich ausreichend auf Amazon informieren. Allerdings erschüttert nun eine Metacritic-Wertung von grotesken 65% (zugegeben - auf der XBox) für AP meinen Glauben an die seriösen Vertreter der Zunft. Man kann aber nicht abstreiten, dass es 'Alpha Protocol' seinen Kritikern leicht macht.

Eigentlich hätte das Spiel schon genrebedingt bei mir schlechte Karten - ich bin nicht grade ein Rollenspiel-Fanatiker. Als Light-Version wie 'Mass Effect' ist dagegen nichts einzuwenden, aber selbst ein 'Dragon Age' habe ich nach ein paar Stunden beiseite gelegt. Das war nicht meine Welt - im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei muss man nur Orks gegen Terroristen, Schatztruhen gegen Aktenkoffer und das Schwert gegen ein Sturmgewehr austauschen, und schon wühlt sich auch ein Genre-Muffel wie ich mit Wonne durch's Inventar und Talente.

'Alpha Protocols' größter Bonus ist zweifellos sein Agenten-Setting. Ein mutiges Unterfangen, neben dem etablierten Fantasy- bzw. Sci-Fi-Kosmos eine gegenwärtige Welt zu versuchen. Die Entwickler von Obsidian sind sich dem Potential bewusst und schöpfen aus den Vollen. Die Story um den abtrünnigen Agenten Michael Thorton strotzt nur so vor politischer Brisanz. Taipeh, Moskau und Rom sind die Drehscheiben eines Anschlags auf ein ziviles Passagier-Flugzeug. Im Laufe der Ermittlungen verstrickt sich Thorton in ein weitreichendes Komplott, das über weite Teile leider gar nicht mal so unrealistisch wirkt und in seiner Komplexität überwältigt.

Wahrscheinlich hat dieser Umfang auch Einfluss auf die niedrigen Wertung, denn AP ist ein sperriger Brocken! Nichts für ein paar Stündchen zum Feierabend. Es werden Dossiers gewälzt, Fraktionen und Personen beleuchtet etc.
Michael hat da übrigens überhaupt nichts mit den eingängigen Abenteuern eines James Bond gemeinsam! Die Welt in AP ist die eines Jason Bourne oder 'Syriana'. In der in Hinterzimmern oder unter Wüstensonne Politik und Wirtschaft gesteuert wird. Hier gibt's keinen Glamour, keine Technik-Speränsken, keinen Cartoon-Fiesling und kein Schwarz/Weiss. Der Schulterschluss zum neueren Agenten-Film geht sogar so ins Detail, dass bei den Rückblenden der gleiche Filter-Effekt verwendet wird wie in den 'Bourne'-Streifen...

Es ist Arbeit, den gesamten Plot zu entschlüssen, der im Prinzip recht konventionell daherkommt, sich aber geschickt aufbauscht. Leider ist die Inszenierung ziemlich bieder und kann nicht mit der Vitalität der filmischen Vorbilder aufwarten. Da hat auch der nächste Kollege 'Mass Effect' immer noch die Nase vorn. Bei ME menschelt es mehr, während sich AP in die Story eingräbt und wo Shepards Abenteuer zum Ende hin explodiert, implodiert 'Alpha Protocol'. Eine bewusste, kluge und spannende Entscheidung. Wo es am Epischen mangelt, schmeisst man die Plot-Twists wie Kamelle vom Karnevalswagen. Und dann ist da noch die Personalisierung...

Über 15 verschiedene Enden verspricht der Hersteller. Und das kann durchaus hinkommen, auch wenn das Grundgerüst gleich bleibt. Im Laufe des Spiels wird man unzählige male mit Entscheidungen unter Zeitdruck konfrontiert, was den Charakter der Unruhe noch mehr unterstreicht. Jede Wahl hat eine Auswirkung auf den Spielverlauf. APs hauseigener Analytiker Parker langweilt sich im Tutorial mit der berühmten Theorie über den Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslöst - aber das trifft den Kern.
Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass mehrmaliges Durchspielen bei diesem Titel Pflicht ist, um sich eine fundierte Meinung bilden zu können. Es ist unmöglich, mit nur einem Gastspiel die gesamte Spieltiefe zu erfassen. Unübersehbar, dass man mit diesem Umfang an Geschichte problemlos eine komplette '24'-Staffel füllen könnte.

Dabei hat man die Wahl, wie man Mike ins Rennen schickt. Ich habe jeweils einmal die Gegensätze in ganzer Länge ausprobiert: Schleichend und Ballernd. Beides funktioniert - mit der richtigen Ausrüstung und den passenden Talenten. Als ausgebildeter Spion fühlt es sich sogar zuweilen wie ein 'Splinter Cell' an. Michael beherrscht ähnliche Moves, sogar eine abgewandelte 'Mark & Execute'-Funktion ist vorhanden. Und mit dem kümmerlichen Charakter-Editor kann man ihm den Bart verpassen, den ich bei zuletzt Fisher vermisst habe. Als reinrassiger Shooter spielt sich's etwas banal, eignet sich aber am besten zum Durchrushen und macht dank cleverer Spezial-Talente trotzdem Laune. Mit der Zeit sind sogar kleine Kombos aus Nahkampf- und Schuss-Attacken möglich. Das hat nicht die Eleganz eines 'Splinter Cell Conviction', aber das wäre auch zuviel verlangt, verlässt sich AP eben vorangig auf seine Story.

So prügelt Fisher die Wahrheit heraus, während sich Thorton mit scharfen Dialogen duelliert. Dabei hat er es eindeutig mit den spannenderen Figuren zu tun. Die Ex-Stasi-Amazone SIE wird genauso lange in Erinnerung
bleiben wie das stumme Punk-Girl Sis, aber auch ergraute Herren und Anzugträger liefern denkwürdige Momente.

Daneben gibt es viele nette Ideen. Etwa die Wahl eines 'Handlers', der einem während einer Operation Hinweise via Funk gibt. Das Kaufen von Hilfsmitteln wie Dossiers, um mehr Dialogoptionen zu erhalten oder um in einen 'toten Briefkasten' ein Scharfschützengewehr deponieren zu lassen, man kann sich von verschiedenen Fraktionen unterstützen lassen etc.

Es ist ein Kunststück, dass sich Obsidian nicht an der eigenen Kreativität verschluckt. Alles fügt sich zusammen, fühlt sich wegen des Szenarios frisch und neu an. Aber wo die Autoren die Lobgesänge einheimsen dürfen, müssen die Techniker nachsitzen...

'Alpha Protocol' ist beileibe nicht perfekt. Der Spielspass leidet empfindlich an krude umgesetzte Elemente. Die Grafik ist zweckmäßig. Sie hat stellenweise aktuelle Qualität wie z.B. bei den Personen, aber größtenteils rumpelt es da gehörig. Matschige, variationsarme Hintergrundtexturen und wenig schmeichelnde Animationen wie das Entengang-Schleichen kratzen an der Atmosphäre. Dass es besser geht beweist Mike im Nahkampf - wenn er im Sprung in Zeitlupe dem Gegner mit dem Knie den Kiefer zertrümmert, das hat schon Stil.

Was wirklich frustet sind allerdings die Minispiele! 'Alpha Protocol' zementiert den Unsinn von diesem Trend und wird hoffentlich zu seiner Ausrottung beitragen. Will ich Minispiele, kram ich Tetris raus! Schon bei 'Bioshock' oder 'Mass Effekt' musste man diese Einlagen über sich ergehen lassen, aber das Protokoll schiesst in seiner Einfallslosigkeit und Vehemenz den Vogel ab. Grade das Hacking nervt mit seinem hakeligen Handling bis zur Weissglut! Weg mit dem Mist! Dann lieber Quicktime-Sequenzen, wenn's denn sein muss.

Am meisten störten mich allerdings die Nachlade-Ruckler! Ich weiss nicht, ob das an meinen kümmerlichen 2GB Arbeitsspeicher liegt, aber mit jedem Nachladen kann man die FPS an einer Hand abzählen - und das kommt leider häufig vor. Dadurch ändert sich zu oft versehentlich die Blickrichtung, schlimmstenfalls verliert man sogar die Orientierung.

'Alpha Protocol' ist ein ungeschliffener Diamant. Ein wichtiger Impuls im RPG-Genre und sträflich unterschätzter Beitrag für die Gattung der 'erwachsenen Spiele'. Es ist erschütternd, wie oberflächlich das Spiel stellenweise abgestraft wird. Ich will nicht mutmaßen, dass die Gamer dafür noch nicht bereit sein sollen. Dass die Aufmerksamkeitsspanne doch nur dem Nachladen eines MG-Magazins entspricht und die Handlung eines Spiels auf eine Briefmarke passen muss.

Vielleicht müssen sich einige Kritiker auch ihre eigene Spielweise gefallen lassen. Durch die Entscheidungsvielfalt bekommt nun mal jeder das Spiel, das er verdient. Und bei aller Kritiker-Schelte - ich kann mich da nicht ausschließen. Ich musste AP dreimal durchspielen, um die Geschichte bzw. das Finale zu erhalten, das mich stellenweise komplett aus den Socken gehauen hat. Es kostete Überwindung und ich war so ein *********, dass ich mich vor mir selbst geekelt habe. Der Lohn war ein vor Story-Wendungen und Dramatik berstender Thriller, um den es mehr als traurig wäre, müsste man trotzdem wieder Orks, Schatztruhen und Schwerter für mehr Akzeptanz einführen. Gebt dem Ding eine Chance - der Fairness wegen.


Wertung
Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(5)
Kommentar-Regeln von GameStar
Bitte lies unsere Kommentar-Regeln, bevor Du einen Kommentar verfasst.

Nur angemeldete Benutzer können kommentieren und bewerten.