Alte, aber grandiose Lebens &WiSim im Mittelalter!

Wenn man ein mehr als 10 Jahre altes Spiel rezensiert, dass aber keineswegs einen internationalen Kultstatus wie Elite oder Maniac Mansion aufzuweisen hat, dann...

von ArminCH am: 22.04.2013

Wenn man ein mehr als 10 Jahre altes Spiel rezensiert, dass aber keineswegs einen internationalen Kultstatus wie "Elite" oder "Maniac Mansion" aufzuweisen hat, dann sollte das ganz besondere Gründe haben.
Ich gestehe hiermit, dass "Die Gilde" mein spielerisches Äquivalent zu der ersten großen Liebe ist, mit der man immer noch freundschaftlich verbunden ist und bei jedem Zufallstreffen nach einem Break-Up zwangsläufig im Bett landet.

Warum das so ist? Dazu später. Erst einmal beginnen wir mit der

Einleitung:

Ich beziehe mich in dieser Rezension auf die Gilde Gold Edition in der Patchversion 2.05 - der Start verläuft hier wie im Hauptspiel, nur dass man gleich zwei größere Renderintros serviert bekommt, jenes aus dem Hauptspiel und jenes vom AddOn. Diese sehen aus heutiger Sicht in Bezug auf die Gesichtergroßaufnahmen gruselig aus, für damalige Verhältnisse und dafür, dass es ein deutsches Spiel und keine internationale Großproduktion war, waren sie aber definitiv beeindruckend. Danach landet man im Hauptmenü.

Zum Punkt "Netzwerk" etwas später, die Credits und Optionen erklären sich von selbst, also beginnen wir ein neues Spiel - und ein freies (Endlosmodus) noch dazu. Wir können diverse Einstellungen vornehmen, die sich massiv auf das Spiel auswirken - zumindest am Anfang. Die wichtigste davon ist die Wahl des Berufes, denn diese bestimmt, mit welchem Handwerksbetrieb wir starten. Und da reicht (in der Gold Edition) die Palette vom klassischen goldenen Handwerk (Schmied, Steinmetz, Tischler, Schneider, Alchemist...) über soziale Berufe mit Handwerkskomponente (Priester, Gastwirt...) bis hin zu den eher dubiosen Professionen (Dieb, Totengräber, Zigeuner).

Im späteren Verlauf können weitere, nicht unbedingt starttaugliche Berufe erlernt werden, wie Gardist, Geldleiher und Fernhändler.

Diversität ist GROSSgeschrieben!

Das Tolle darin: Fast jeder Beruf spielt sich sehr, sehr unterschiedlich. Klar, der Steinmetz erzeugt aus groben Steinen und anderen Zutaten Waren wie Schiefertafeln und Spielzeugsoldaten, der Tischler aus verschiedenen Holzarten Gehstöcke, Kreuze, Kämme usw.; beide benötigen Lehrligne die nach 4 Jahren zu Gesellen upgegradet werden - soweit, so ähnlich. Aber durch seine Produkte kann der Steinmetz die eigenen Kinder in ihren RPG-mäßig festgelegten Eigenschaften derart hochmästen, dass er nach seinem Ableben und die Übernahme der Kinder als Spielerchar einen mächtigen Vorteil erhält. Umgekehrt kann der Tischler mit dem ansonsten schweineteuer zu kaufenden Kamm sein Ansehen derart erhöhen, dass er schneller die Karriereleiter in der Amtsstube bei den gewäwählten Ämtern hochklettert.


Mein Favorit ist immer noch der Priester (hier in der Schreibstube der Kirche).

Dessen Gedichte erleichtern die Brautwerbung ungemein, die heiligen Messen und Ablässe sind eine schöne Einnahmequelle, und durch Hasspredigten gegen Konkurrenten und unliebsame Personen in der Stadt kann man diesen empfindlich schaden. Gott vergelts!

Was macht man in "Die Gilde" ?!

Kurz beantwortet: Alles. Genauer: Man leitet seinen Betrieb, baut diesen aus, wertet ihn auf, stellt Angestellte ein, wertet diese auf, kümmert sich um Wareneinkauf, Produktion und Verkauf, bildet sich selbst in den Talenten und im Beruf weiter...

...und intrigiert gegen seine Konkurrenten, buhlt um reiche und mächtige Ehepartner, versucht sich mächtige Freunde in Stadtrat und Landesherrschaft zu "erschleimen", knüpft Liebschaften mit Einflussreichen Damen / Herren, baut sein Privathaus immer weiter aus, errichtet Landsitze mit Kanonentürmen, in denen man hasserfüllt Konkurrenzgebäude in Grund und Boden schießen kann...

...nur, bis es einmal soweit ist, hat man ca. 45 Jahre ingame, drei Familiengenerationen, ein halbes Dutzend Ehepartner und zig Angestellte verschlissen. Und mehr Spaß gehabt als mit vielen, vielen anderen Spielen.

Die Technik:

Wenn man bedingt, dass das Spiel jetzt 11 Jahre auf dem Buckel hat, sieht es nicht nur "akzeptabel", sondern immer noch richtig schick aus. Die Stadt ist in frei drehbarem und etwas stufig und eingeschränkt zoombarem 3D Gehalt, aber alle Bürger mit ihren Wünschen, Zielen und Gedanken durchstreifen sie. Da kann sich SimCity neu eine Scheibe abschneiden :D


Damals hochaufwändige Grafik, liebevolle Details und eine stimmige Musik versetzen einen glaubwürdig in das Detuschladn des 15. Jahrhunderts.

Sound & Musik:

Nein, es ist nicht alles vollvertont. Aber vieles - und das sehr gut. Das hämische "Absetzen! Absetzen sage ich!" bei Ratsversammlungen zur Amtsenthebung hat Kultstatus, die Trauermelodie mit Grabesstimme beim eigenen Ableben wirkt ebenso stimmig wie das nervige Babygeschrei wenn man gerade erfolgreich den Nachwuchs zur Welt gebracht hat.

Bugs:

Oh ja, die gibt es. Zuhauf. Von einfachen Clippingfehlern über während einer Aktion verstorbenen und als programmiertechnische Untote immer noch agierbaren NPCs bis hin zu Abstürzen, im schlimsmten Fall sogar mit geschrottetem Spielstand. Letzteres jedoch vor allem im

Multiplayer:

Wenn man das anfangs spröde und sicher nicht gerade actionlastige Gilde prinzipiell mag, wird man kaum ein besseres Multiplayerspiel finden. Es gibt nichts schöneres, als im Freundes- oder Familienkreis Partien bis zur Ausrottung der Gegnerdynastie zu spielen. Die Befriedigung, den Bruder oder Vereinskameraden an den Galgengebracht zu haben - inklusive stimmungsvoller Hinrichtungssequenz, die der Betroffene aus der Egoperspektive erlebt - tröstet darüber hinweg, dass das Spiel danach beendet wird. Und ab einem gewissen Fortschritt alle zwei bis drei Spieljahre mit einem Netzwerkfehler crasht. Und im schlimmsten Fall den Autosave vom Morgen schrottet.

Fazit:

Warum mag ich also die Gilde so sehr, dass ich alle Jahre wieder bei ihr lande? Es mag an der bis heute unerreichten Spieltiefe liegen, an dem stellenweise dezent ins Spiel gestreuten und daher umso besser wirksamen Humor. Oder vielleicht daran, dass meine schweizer Krämerseele von dem Spielprinzip ganz besonders angesprochen wird, dass das fröhliche Schaffen, Ausbauen und Besitzvermehren calvinistische Urinstinkte anspricht. Alle Nachfolger können mir gestohlen bleiben, "Die Gilde Gold" ist mein Lebensspiel.


Wertung
Pro und Kontra
  • Extreme Spieltiefe
  • Toller Sound
  • Hohe Komplexität
  • Umfassende Lebenssimulation
  • Liebevolle Details
  • Historisch korrekte Ereignisse
  • sehr hohe spielerische Vielfalt
  • Genialer Multiplayer...
  • ...der aber hoffnungslos verbuggt ist
  • einige technische Macken
  • anfangs zäh zu Erlernen
  • einige Balancing Probleme im Multiplayer (Dieb!)
  • inzwischen schon veraltet

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher schwer

Bugs:

Oft, regelmäßig

Spielzeit:

Mehr als 100 Stunden



Kommentare(4)
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