Eine Erinnerung wert?

Irgendwie mag ich die Franzosen. Klar, es herrscht hierzulande eine nicht ganz so positive Meinung über unsere Landesnachbarn, und das will ich in gewissen...

von TheVG am: 17.11.2015

Irgendwie mag ich die Franzosen. Klar, es herrscht hierzulande eine nicht ganz so positive Meinung über unsere Landesnachbarn, und das will ich in gewissen Zügen gar nicht bestreiten, Klischees beinhalten immer ein wenig Wahrheit. Mürrisch wären sie, fänden alles und jeden außer sich selbst doof und könnten nur ihre eigene Sprache sprechen. Ich denke, die Franzosen haben jedoch signifikante Vorteile, und wir geraten gerade erst zu der Erkenntnis, dass nicht alles an ihnen so blöd sein kann wie behauptet und uns gar in gewissen Dingen meilenweit überholt haben.

 

Als besonderen Punkt empfinde ich das Kunstverständnis der Franzosen ebenfalls sehr ausgeprägt und hervorstechend. Gerade in den verschiedenen Medien gibt es viele gute Beispiele, die sehr eigen und doch sehr reizvoll sind. Denke ich an Kino, dann fallen mir spontan „Ziemlich beste Freunde“, „Delicatessen“ oder „Die fabelhafte Welt der Amélie“ ein, und – wer hätte es gedacht – ist Frankreich nach den USA der zweitgrößte Produzent von Videospielen weltweit. „Assassins Creed“, „Dishonored“ oder die „Rayman“-Reihe – diese und weit mehrere Spiele haben ihren Ursprung im Land der (Achtung, noch ein Klischee!) Käsegourmets.

 

2013 reihte sich Dontnod Entertainment („Life Is Strange“) mit ihrem Debütwerk in die lange Liste von hochkarätigen Konkurrenten ein und kreierte ihren Hybrid aus „Batman“ und „Prince Of Persia“, im optischen Gewand eines schmutzigen „Mirror´s Edge“ und ein bisschen Storyanleihen von „Strange Days“ oder „Total Recall“. Lohnt sich der Stilmix also für ein paar freudige Spielstunden, oder ist „Remember Me“ nur ein Abklatsch bzw. halbgarer Genremix voll mit billigen Referenzen? Ich habe mich dafür in Neo-Paris umgesehen und bin an allerlei komische Gestalten und tiefgründige Erinnerungsfetzen geraten...

 

Vergessen, nicht vergeben

 

Es ist mal wieder der Gedächtnisverlust, der für die Story herhalten darf, und so wird auch hier die Heldin Nilin zu Beginn ihrer Erinnerungen beraubt. In der Zukunft wird eine Technologie entwickelt, Erinnerungen als Dateien zu horten – ein lukratives Geschäft. Da die Nutzer dieses Feature ein wenig zu exzessiv nutzen, schlägt der Konzern Memorize Profit aus diesem Zwang und baut seine Macht klammheimlich aus. Das bringt Leute wie Nilin auf den Plan: Systemfeinde, die so genannten Gedächtnisjäger oder „Erroristen“, die Erinnerungen stehlen und sogar verändern (hier: remixen) können.

 Angehängt - Nilin muss sich vor der Detonation der Mine erst in Sicherheit bringen

 

Remember Me“ setzt nun in eben diesem Löschvorgang ein und führt den Spieler bzw. Nilin zur Gedankenguillotine, verbunden mit einem angemessenen Tutorial. Zum Glück steht ihr jedoch ein mysteriöser Mentor zu Seite, der die Maschine kurzzeitig manipulieren kann und Nilin so zur Flucht verhilft. Leider kann sie sich nur noch an ihren Namen erinnern – die übliche Voraussetzung, den Spieler an Bewegung, Kampf, Erinnerungen und Fähigkeiten einzugewöhnen. In bester „Batman“-Manier bewegen wir uns also erst durch die Fabrikanlagen und anschließend durch Neo-Paris und lernen nach und nach, was Nilin vor ihrer Gedächtnislöschung so alles drauf hatte.

 

Zuerst darf sie zeigen, welche Kletterfähigkeiten sie besitzt. Die Dame kraxelt also wie Altair Wände und Vorsprünge entlang, wirkt aber nicht so gelenkig und fähig, da ihr hier einfach die Mittel bzw. die Spielmechanik fehlen. Das ist okay, macht als Hüpfrätselei Sinn und Spaß, doch ist es auch keine besondere Herausforderung, wenn eine Anzeige im Bild dir den Weg permanent vorgibt. Neo-Paris ist also kein Arkham, in dem man sich mal richtig austoben und Geheimnisse entdecken könnte. Schade. So ist die Spielwelt eine schlauchige Angelegenheit mit ein paar Abzweigungen geworden. In denen sind meist Extras wie Boosts versteckt (wenn man es überhaupt versteckt nennen kann), die dir ein paar Extras bescheren. Gebrauchen kann man diese sehr wohl, denn wird nach einer ordentlichen Erzähleinführung der Fokus auf den Kampf gelegt, wo das ein oder andere Extra durchaus von Vorteil ist.

 

Die Faust auf´s Storyauge

 

Kämpfen ist auch genau das, was in dem Spiel einen großen Teil einnimmt. Dafür braucht es eine ausführliche Erklärung des Kampfsystems, und so wird im zweiten Akt die Story naturgemäß ein wenig hinten angestellt. Nun schubst das Spiel den Spieler von einem Abschnitt bzw. einem Tutorial zum nächsten, um dem Kampfanteil den nötigen Raum zu bieten, da sich Dontnod wohl vornahm, nicht zu sehr in die Mechanik eines interaktiven Films abdriften zu wollen.

 

Damit zeigt sich dann auch, wie sich Nilin prügeln kann. Es gibt nur zwei Tasten für Hand- und Fußangriffe, der Rest verläuft über Bewegungen. Die verlaufen nun in bester Fledermausmann-Tradition ab, was sich sehr dynamisch spielt und auch kein sinnloses Tastenhämmern erfordert. Wohl gesetzte Mausklicks oder Knopfdrucks bringen einen Fluss in Gang, welche mit Kombos (so genannten Impressen) aufgewertet wurden. Man kann mit ihnen harte Schläge austeilen, sich selbst durch Treffer regenerieren oder Aufladezeiten für Spezialmoves verringern. Die Kombos lassen sich recht einfach im Menü zusammenstellen und locker erlernen, wodurch die Motivation trotz des hohen Anspruchs in den Prügelsequenzen erhalten bleibt – dazu später noch ein paar Worte.

 Eine runde Sache - im Kombomenü lassen sich Prügelfolgen einfach zusammenstellen

 

Der Ablauf ist indes immer derselbe. Man prügelt sich die Fokusleiste hoch, bis man genügend für einen Spezialmove erreicht hat. Ab dann kann Nilin damit ordentlichen Rabatz machen. Ein Tastendruck öffnet bis zu fünf dieser Fähigkeiten in einem Auswahlrad, etwa die Raserei oder einem Gegner eine Mine an die Hüfte zu tackern, die nach wenigen Sekunden detoniert. Das verbraucht Fokuspunkte, wodurch der Einsatz der Special Moves auch kein übermächtiges Spielelement wird. Weiter ist der „Spammer“ ein probates Mittel zur Selbstverteidigung sowie notwendig für so manches Levelrätsel. Damit lassen sich Feinde verletzen oder gar ganz ausschalten, weiter brauchen wir das Ding auch für Türenknobeleien im späteren Spielverlauf. Wenn Schalter auffindbar sind, sind die „Spammer“ zur Fernsteuerung vorgesehen. So erreichen wir in den Kletterpassagen Plattformen, die vorher noch eingeklappt waren, oder schieben Apparaturen durch den Raum, um Nilin ein Weiterkommen zu ermöglichen. Hier hätte ich sogar gerne noch mehrere Rätsel zu knacken gehabt, so bleibt der Hirnschmalzanteil jedoch recht mickrig.

 

Am markantesten sind die Remix-Sequenzen. Hier darf Nilin zeigen, weswegen sie für den Konzern so gefährlich ist, gleichzeitig werden die Aufgaben darin zum gelungenen Zubrot für den Spieler. Man dringt in die Erinnerungen wichtiger Charaktere ein, um diese zu verändern und somit deren reale Handlungen zu beeinflussen. Die Erinnerungen laufen demnach in einem kleinen Film ab, erst ohne die Möglichkeit der Einflussnahme durch den Spieler, danach muss er die Sequenz von Hand abspulen und nach Glitches absuchen. Details und Momente sollen nun in der Erinnerung frisiert werden, was auch deren Ablauf beeinflusst. Auf Knopfdruck werden dann Dinge im Standbild verändert, etwa eine Waffe entsichert, die es vorher nicht gewesen war, was nicht nur die Erinnerung konvertiert, sondern auch das reale Verhalten der soeben manipulierten Person – eine ursprünglich „harmlose“ Enttäuschung über das Ende einer Beziehung wird plötzlich zur absoluten Verzweiflung, weil der Geremixte annimmt, seine Ex-Freundin getötet zu haben. Klingt jetzt vielleicht etwas kompliziert, ist aber fast selbsterklärend, hebt sich angenehm vom sonstigen Prügelanteil und ähnlich designten Gedankenspielchen ab und treibt sogar die Story sinnvoll voran. Negativ wiederum ist, dass die Sequenzen nur als rudimentäres Suchspielchen funktionieren, bei der Auswahl der Glitches kann man fast nichts falsch machen. Hier wäre es meiner Meinung nach sogar interessanter gewesen, den Anteil richtiger und falscher Auswahlen auszubauen, um die Remix-Aufgaben etwas anspruchsvoller zu gestalten.

 Erinnerungswürdig - Remixen macht Spaß, ist aber zu anspruchslos

 

Als Anhängsel noch ein paar Worte zu den Bosskämpfen: Die sind wahrlich nicht von schlechten Eltern. Die mehrstufigen Scharmützel machen ganz schön was her, spielen sich aber wegen der gelungenen Steuerung nicht unmachbar oder gar frustig. Man muss sich lediglich auf die Schwachstellen einstellen. Etwa der Kampf mit der Gefängnisdirektorin, die erst virtuelle Gegner auf uns ansetzt und als zusätzliche Schwierigkeit Spitzen vom Himmel auf uns regnen lässt. Hier wurde auf Abwechslung gezielt und lastet den Spieler entsprechend aus, als letzte Aufgabe muss man noch ein paar QTEs ausführen, damit die Bosse auch endgültig hinüber sind.

 

Viel ist gut genug

 

Neo-Paris kann sich durchaus sehen lassen. Die Stadt, die ein wenig wie Megacities aus „Judge Dredd“ in dreckiger „Mirror´s Edge“-Architektur ausschaut, wurde stimmig gestaltet und lässt den Spieler auch mal nachdenklich werden. Dass Wolkenkratzer dem Eiffelturm die Lufthoheit stehlen und das neue Paris nur noch aus Neonwerbung oder Wohnblöcken sowie einem beträchtlichen Anteil Slums besteht, transportiert ein dystopisches wie stimmungsvolles Gesamtbild. Man wandelt durch unterschiedliche Umgebungen, diese wiederholen sich noch nicht einmal auffällig. Man schreitet durch schlammige Slums, romantisch anmutende Plattformen mit den typischen Straßencafés, später aber auch durch dunkle Gassen oder Fabriken in stimmungsvoller Beleuchtung. Schade nur, dass das Leveldesign davon keinen weitläufigen Gebrauch macht. Wie schon erwähnt sind die Levels fast schlauchig aufgebaut, und viele der Ecken, Straßenzüge oder Dachterrassen sind gar nicht erreichbar. In der Qualität der Grafik selbst gibt es, abgesehen von den Feuereffekten, die mir persönlich nicht so zugesagt haben, nicht viel zu beanstanden. Texturen sind in den meisten Fällen ansehnlich, Lichteffekte sorgen für Atmosphäre, und die Detailfülle ist durchaus beachtlich sowie der Stimmung dienlich.

 

Dasselbe lässt sich auch über den Sound aussagen. Hintergrundgeräusche sorgen für einen weiteren Faktor von Atmosphäre, vor allem gefallen mir die Prügelsounds, die nicht ganz so sehr nach Indiana Jones-Geklatsche klingen wie sonst gerne verwendet. Bei selbst kreierten Sounds wurde Wert auf dezenten Einsatz gelegt, was ich sehr befürworte. Auch sehr gut: der Soundtrack, der gerade als Storyuntermalung gut funktioniert, im Spielablauf vielleicht etwas mehr Abwechslung hätte bieten können. Macht aber nichts, weil die dynamischen Musikeinsätze nicht zu sehr im Vordergrund stehen und hier einfach stimmig eingesetzt werden.

 

Weiter soll auch die Steuerung gelobt werden, egal mit welcher Methode man sich durch die Spielwelt bewegen möchte. Natürlich ist für diese Art Spiel ein Gamepad erste Wahl, dafür wurde das Spiel auch entsprechend kreiert. Man kann die Prügelei sehr intuitiv hinter sich bringen, was jetzt nicht ungewöhnlich ist; falsch hätte man aber doch viel machen können, was hier jedoch nicht der Fall ist. Erstaunlich gut funktioniert aber auch die Maus- und Tastaturumsetzung. Die shootertypische Standardeinstellung trägt ebenfalls zum Spielspaß bei, wirkt durchdacht und spielt sich ebenfalls sehr einfach, ohne dass man erst das Geiersturzflugsystem anwenden muss. Kleine Mäkel gibt es etwa bei der Wahl der Spezialfähigkeiten in der Roboterkontrolle oder dem Minenextra, die bei die Klickfolge (Fähigkeit und anschließend Gegner auswählen) nur funktioniert, wenn sich die anvisierten Roboter oder Feindopfer im Sichtfeld befinden. Wenn man dies herausgefunden hat, kann man sich auch entsprechend leicht darauf einstellen.

Wer ist hier der Boss? - Nilin und "Kid X-Mas" im Schlagabtausch 

 

Zwischen den Stühlen

 

Jetzt habe ich euch viel beschrieben, aufgelistet und bewertet – kommen wir doch mal dazu, ob sich das ganze Paket denn wirklich lohnt. Ich selbst habe einen sehr positiven Eindruck von „Remember Me“ behalten, weil es weder zu offen noch zu sehr nach interaktivem Filmchen mit ein paar Quick-Time-Events aussieht. Ich würde nicht behaupten, dass sich „Batman“-Fans damit zufriedengeben würden, wenn sie schon eine ganze Gefängnisinsel geschweige denn eine ganze Stadt begehen und -fliegen dürfen, andererseits könnten Storyfans ein wenig den roten Faden verlieren, wenn sich das Spiel von der Erzählung spürbar abkoppelt, um der Spielmechanik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Für Zwischenliegende und Leute, die weder das eine noch das andere zu scheuklappenmäßig angehen möchten, ist Dontnods Debütwerk auf jeden Fall zu empfehlen. Wer auf Story steht und nach dem ersten Drittel allmählich ungeduldig wird, sollte aber am Ball bleiben. Zu Beginn wirkt alles etwas zusammenhanglos, fügt sich später aber sehr gut zusammen und hat ein paar handfeste Überraschungen parat. Nilin empfinde ich zudem als sehr sympathischen Charakter. Die Frau versprüht Charisma, ist weder Überheldin noch weinerliche Spaßbremse und transportiert vor allem in den Zwischensequenzen die Geschichte sehr gut.

 

Das bestätigte mir mal wieder, dass Franzosen durchaus in der Lage sind, den Amis in Sachen Storytelling den Rang abzulaufen. Mit dem nötigen Feingefühl schaffte es Dontnod, die innovative Erzählung auf modernem und gutklassigen Niveau zu halten, großteilig mit dem typisch französischen Kunstverständnis. Und da Klischees gerne mal Grund zum Diskutieren und Streiten bereithalten, muss ich hier sagen, dass mir dieses Klischee sehr gut gefällt. So kenne ich die Franzosen, und so mag ich die Franzosen.


Wertung
Pro und Kontra
  • Neo-Paris ein Hingucker
  • Lichtstimmung und viele der Effekt
  • Sehr gute Animationen
  • Stimmungsvolle Soundkulisse
  • Anspruchsvolle Prügeleien
  • Remixen ist spannendes Spielfeature
  • Spannende und detailreiche Story
  • Nilin als sympathischer und charismatischer Hauptcharakter
  • Extras und Spielelemente fördern die Motivation
  • Spielwelt zu schlauchig
  • Remixen hätte anspruchsvoller ausfallen können
  • Story entwickelt sich recht spät
  • Kameraprobleme bei Spezialfertigkeiten

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher schwer

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



Kommentare(23)
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