Bonjour Tristesse.

Der Wehrmachtssoldat hat sich grade eine Zigarette angesteckt. Der Nebel hängt schwer über der Seine, lässt die Skyline von Paris lediglich erahnen. Auch er ist...

von GROBI75 am: 17.06.2010

Der Wehrmachtssoldat hat sich grade eine Zigarette angesteckt. Der Nebel hängt schwer über der Seine, lässt die Skyline von Paris lediglich erahnen. Auch er ist gefangen von der seltsam idyllischen Szenerie, eingetaucht in den herbstlichen, warmen Farben der tief stehenden Sonne. 'Was für eine Aussicht...', entfährt es ihm, dann rammt ihm eine zierliche Frau hinterrücks ein Messer in die Genitalien. Der Soldat sackt in sich zusammen und gibt den Blick auf den Eiffelturm frei. Bonjour Tristesse.

Violette Summer trakiert ihr Opfer in einer Erinnerung. Die britische Agentin liegt zu diesem Zeitpunkt schwer verletzt in einem französischen Hospital zur Zeit des 2.Weltkriegs, ihre Geschichte entfaltet sich gemächlich über diverse Rückblenden, Visionen und gegenwärtige Momentaufnahmen. Der Spieler bestreitet verschiedene Missionen in den Fieberträumen der Killerin und man fühlt sich anfangs unweigerlich an 'Jacobs Ladder' erinnert. Das Spiel lässt lange offen, ob man die Halluzinationen einer Sterbenden durchlebt und wie ihr Ende aussehen könnte.

Alleine diese Ausgangsituation ist schlichtweg brilliant! Das kleine Entwickler-Team des (mittlerweile insolventen) Replay-Studio macht aus der Not eine Tugend, umgeht einfach den realistischen sowie kostenintensiven Anspruch eines typischen WK2-Shooters und inszeniert Violettes Stealth-Drama als fast schon lynchieske Abhandlung des dunklesten Kapitels in der deutschen Geschichte. 'Call of Duty' und Konsorten schmeissen den Spieler in donnernde Gefechte mit düsteren, unmissverständlichen Bildern. 'Velvet Assassin' begrüßt den Spieler nicht mit Blutfontänen und sterbenden Kameraden im Matsch. Blätter rieseln friedlich von eigentlich viel zu hohen Bäumen, das Sonnenlicht durchflutet in betörender Schönheit die herbstliche Harmonie, untermalt vom Zwitschern der Vögel und dezenten Piano-Klängen.

Es ist mir bisher noch nicht passiert, dass mich die Artdirection in den ersten Sekunden so schlagartig fesselt, dass ich eine Gänsehaut bekomme.Das Spiel profitiert noch lange von diesem Bonus, denn wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch viel Schatten. Das nimmt sich VA zu Herzen, diese expressive Gestaltung entwickelt sich zu einem faszinierenden Sog und bereitet die Toleranz.

Denn trotz aller Shader-Schönheit lässt sich die karge Einrichtung nicht kaschieren. Man nimmt es hin, spielt man doch im Gedächtnis einer Killerin, da kann man mit guten Willen nachvollziehen, dass sich die Gute nicht an jedes Umgebung-Detail erinnert. Aber auch die deutsche Wehrmacht dürfte schon etwas mehr Deko gehabt haben, als die immergleichen Fässer und Kisten. Manche Maps wirken damit im Aufbau eher wie ein Sport-Parkour.

Ansonsten werden die Freiheiten und Möglichkeiten perfekt ausgereizt. Violettes Welt ist differenzierter als gewöhnlich in diesem Genre. Sie hadert mit ihren Aufträgen, etwa wenn sie Zyankali zu inhaftierten Verbündeten schmuggeln muss. Auch der Wortschatz des Gegners endet nicht bei 'Halt! Stehenbleiben!'. Sie schnappt viele Dialoge auf, in denen sich Deutsche erbittert über gestohlene Schokolade streiten, hörbar dem Lagerkoller verfallen sind oder sich der Schilderung bestimmter Erlebnisse verweigern. Manchmal sei es halt besser, nichts über bestimmte Dinge zu wissen.

Violette gibt relativ selten etwas von sich preis, aber ihre Erscheinung brennt sich ins Gedächtnis. Optisch erinnert sie an ihre Kollegin 'Aeon Flux', ihre Gesichtszüge muten fast mangaesk an. Sie schleicht zwar wesentlich geschmeidiger als 'Alpha Protocol'-Agent Thorton, aber um es mit Sam Fisher aufzunehmen fehlt es an ein paar elementaren Bewegungen. Türen kann sie offenbar mit Gedankenkraft öffnen, Treppen schwebt sie empor, rennt etwas hüftsteif, aber was am meisten stört ist der Verzicht auf eine Deckungs-Option. Anstatt sich automatisch oder per Knopfdruck an eine Wand zu schmiegen, sind umständliche Maus-Manöver nötig, wenn man um die Ecke gucken möchte.

Ihre Eleganz liegt in einem anderen Bereich - dem Morden. Sie kennt sich mit Pistolen und Schrotflinten aus, aber alle Stealther wissen: erst mit dem Messer beherrscht man die hohe Kunst des Tötens. Und da macht ihr keiner etwas vor! Angeblich gibt es um die 30 verschiedene Arten des Messer-Kills, der nur beim Heranschleichen ausgeführt wird. Frontal kann sie mit Hilfe von Morphium attakieren. Diese Spritzen werden ihr im akuten Fieberwahn verabreicht und vermengen für kurze Zeit die reale Welt mit ihrer Erinnerung, in dem sie ohne Gegenwehr den Gegner angreifen kann, um sich so aus prekären Situationen zu retten.

Und diese Anschläge haben es in sich! So hart, kreativ, zahlreich und - ja- liebevoll in Szene gesetzt, dass man nur widerwillig zur Schusswaffe greift. Diese überdeutliche Fokussierung auf die Messerangriffe lässt einige Rückschlüsse zu und begründet fast nebenbei ein neues Genre im Videospiel: den Slasher.

Hier sind die Parallelen zum filmischen Pendant äusserst interessant! Man kann nur mutmaßen, inwiefern die Macher bewusst auf die bekannten sexuellen Motive aus dem Film-Genre anspielen und ebenfalls die Klinge als Penetrations-Metapher verweisen wollen. Wenn Violette allerdings im hauchdünnen Neglige wie von Sinnen unerträglich lange in einer glorifizierenden Perspektive auf ein bereits totes Opfer einhackt, kann man kaum umhin es als offensichtliche Umkehrung des üblichen Slasher-Motivs zu interpretieren, was dem Gezeigten eine zusätzliche Fallhöhe verleiht.

Diese Gewalt verwurzelt in einer malerischen Ästhetik definiert einen bisher ungekannten Nihilismus, der nie gebrochen wird. Einen nicht unerheblichen Beitrag leistet die avantgardistische Soundkulisse, die von einem Mitglied der Einstürzenden Neubauten stammt. Auch hier begeistert der Mut zur Innovation. Sphärische Industrial-Klangteppiche, unvermittelt einsetzende blecherne Laute streuen eine stetige Konfusion, treibende Rythmen in den Action-Passagen - alles passt. Ich meine sogar, ein Stück mit zirpenden Luftballons vernommen zu haben. Aber wo man in der Erscheinung über sich hinauswächst, so störrig gibt man sich im Inhalt bzw. Gameplay.

Das Ding ist unnötig schwer und es braucht Leidensfähigkeit, um 'Velvet Assassin' geniessen zu können. Wäre ich nicht so geblendet, hätte ich ihm nach einigen absurd vielen Trial & Error-Passagen keine Chance gegeben. Dabei weiss man manchmal nicht, ob man selbst dran schuld ist. Schöne Spiele wollen ja auch schön gespielt werden und der Griff zum Neustart ist oft schneller als der zur Knarre. Die KI ist zu pingelig, manchmal aber auch unfair, wenn sie plötzlich durch Wände sehen kann. Die Abwechslung hält sich ebenfalls in Grenzen, eine kurze Sniper-Passage ist der Höhepunkt im Messerstecher-Alltag. Viel zu weit entfernte Speicherpunkte bremsen den Spielfluss und beim x-ten Ausharren der KI-Routen wünschte ich, man hätte mehr Zugeständnisse ans Causal-Publikum gemacht. Wenn ich die Wahl zwischen einem herausfordenden Spiel und einer sauber erzählten Geschichte habe, gebe ich der Story immer den Vorzug.
Generell ist das Spiel also überhaupt nichts für ungeduldige Naturen, die mit stilistischen Experimenten nichts anfangen können. VA verlangt einem viel ab, was überhaupt nicht sein müsste. Ein paar Standard-Animationen mehr, straffere Level, weniger generischer Aufbau, dann hätte Violett das Zeug zu einer Ikone neben Sam Fisher gehabt.

Auch Violettes Ende wird viele vor den Kopf stoßen. Ihre Tragik steigert sich in ein so unglaublich bitteres Finale. Erst im Abspann wird etwas Seelenfrieden angedeutet, der - und diesen Pathos gönne ich mir an dieser Stelle - genau das auf den Punkt bringt, was das Spiel so einzigartig macht. Es gibt Poesie im Terror.

'Velvet Assassin' ist ein Kunstwerk. Von einer durchdringenden, allgegenwärtigen Melancholie, dessen Schönheit im steten Widerspruch zu seinen nicht zu kaschierenden Makeln steht. Egal. L'amour sumonte tout.


Wertung
Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

zu schwer

Bugs:

Nur sehr wenige

Spielzeit:

Mehr als 10, weniger als 20 Stunden



Kommentare(2)
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