Stehend schreiben über tausend Räume und ... tl;dr

Von Yeager · 4. August 2015 · Aktualisiert am 5. August 2015 ·
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  1. (Anm.: Für diejenigen, die es noch nicht kennen sollten: "tl;dr" steht für "too long; didn't read" (zu lang; hab's nicht gelesen) und wird in Kommentaren benutzt, die auf einen textreichen Beitrag folgen.)

    Schon mal darüber nachgedacht, was auf eurem Grabstein stehen wird?
    Ich schon. Bin mir ziemlich sicher dort folgendes vorzufinden, bzw. aufgrund von HP = 0 ebendies nicht mehr tun zu können:

    "Er konnte sich noch nie kurz fassen. Gnade dem jüngsten Gericht, wenn er sich verteidigen soll. Das wird eine Ewigkeit dauern. Wörtlich!"

    Weise Menschen sagten, es sei eine hohe Kunst viel zu sagen und dabei wenig zu sprechen / schreiben. Ich halte mich immer daran - nur manchmal halt umgekehrt. Details, wir wollen mal nicht kleinlich sein, ja? Ernest Hemingway soll zudem gesagt haben, er wünsche sich, dass jeder, der schreibt das mal im Stehen tun soll. Dann gäbe es mehr Qualität bei gleichzeitig weniger Quantität. Eine interessante Idee!

    Nachdem ich mir beim Free-Game (richtig gelesen, Free-Game, nicht Free-to-Play!) Spooky's House of Jump Scares vor Angst fast in die Hose gemacht hätte - und mich nicht daran erinnern kann mir jemals begeisterter vor Angst in die Hose gemacht zu haben - dachte ich mir, ich könne dies gleich mal mit einem Erfahrungsbericht (ohne klare Spoiler) versuchen. In mehreren Experimenten, um Vergleiche zu sehen:



    [​IMG]

    1. Erfahrungsbericht "Spooky's House of Jump Scares"; Zustand des Autors: Halb-Liegend (toller Sessel!)

    Ich komme nicht an die Tastatur dran.

    2. Erfahrungsbericht "Spooky's House of Jump Scares"; Zustand des Autors: Sitzend

    Was soll das sein?
    Billig-3D und süße Anime Püppchen - und das soll Angst machen?
    Halten die mich für bekloppt? Moment, die Rezensionen bei Steam sind durch die Bank positiv und ein Gefühl sagt mir, da müsse was dran sein. Ich meine, so blöd ist doch keiner sich vor einem kleinen Kätzchen zu fürchten. Oder vor einem Kürbis. Dann noch in 2D! Dreidimensional sind nämlich nur die Räume. Hmm, es kostet nichts, hat keine Einschränkungen, kein verstecktes Free-to-play, kein Shop - ich versteh's nicht. Aber es lässt mich nicht los, also installieren, groß ist es ohnehin nicht - und schon geht's los:

    Das Spielprinzip ist schnell erklärt: Man soll durch ein Spukhaus. Genauer gesagt durch 1000 Räume. Oder halt so viele, wie man schafft. Oder sich traut. Sich traut? Na, mal sehen. Steuerung ist Standard-WASD, die Grafik ist...grenzwertig, Doom 1 sah fast besser aus, obwohl die Beleuchtung durchaus gelungen ist. Der Sound ist ok. Vielleicht sogar gut, müssen wir abwarten. Keine Waffen? Vielleicht kommt das noch.

    (...)

    33 Räume habe ich hinter mir und es nicht nur so, dass rein gar nix bisher passiert ist, nein, auch die Räume selbst wiederholten sich zum Teil wieder und wieder. Warum tue ich mir das an, was erhoffe ich zu sehen? Ich wäre nicht verwundert, wenn ich am Ende, nach 1000 Räumen irgendwo auf ein Schild treffe, wo drauf steht "Idiot :D". Das würde dann auch das "Free"-Dingens erklären. Aber im Titel steht "Jump Scares". Also wird wohl irgendwas mich anspringen, um mir Angst zu machen. Ich mache mich darauf gefasst, erwarte es jeden Moment, nächster Raum, wieder gefasst, wieder Erwartungshaltung, nächster Raum, wieder gefasst, wieder Erwartungshaltung, werde langsam angespannt. Doch es passiert...nichts. Ich beginne mich zu langweilen und fühle mich verarscht. Immerhin ist es interessant die (englischen) Fitzelnachrichten auf den Zetteln zu lesen. Was ist hier passiert?

    (...)

    MEIN GOTT, WAS HABE ICH MICH ERSCHROCKEN!
    Sind die wahnsinnig? Noch so ein paar Dinger und ich bekomme einen Herzinfarkt! Vor allem dieses...ja, was war das eigentlich? Und dann noch die Musik! Furchtbar, angsteinflössend. Jetzt weiss ich auch, wozu es gut war, dass die Räume sich manchmal wiederholten: Damit ich den Weg kenne! Denn ich bin nur am Rennen, nur weg, nur weiter, immer weiter, ja nicht mehr umdrehen. Nein, ich halte nicht an, laufe immer weiter. Alle 50 Level gibt es einen Speicher-Punkt. Nur dort kann man speichern. Das ist wichtig! Ich will da nicht noch mal zurück. Vor allem: Es werden nicht die selben Räume sein, es wird ja prozedural generiert jedes Mal.
    Weiter, immer weiter, nicht umdrehen. Ich glaube etwas ist hinter mir. Warum geht diese %&§§ Tür nicht auf?!

    (...)

    Raum 250.
    Ich lebe noch?
    Mit letzter Kraft drücke ich auf den Speicherknopf.
    Mein Herz bebt, Schweiss läuft mir von der Stirn.
    Wie kann das sein? Wie konnten die es schaffen mich so in die Irre zu führen? Das ist ein Psycho-Horror sondergleichen und muss mindestens ab 18 freigegeben werden. Ach, was erzähle ich da: Mindestens ab 50. Und höchstens bis 60. Von wegen Herzprobleme und so. Selbst die Mini-Spiele im Spiel waren grausig. Dauernd hatte man das Gefühl, dass wieder mal etwas Katastrophales passiert. Man traut sich nicht umzudrehen. Und dann die Wände. Haben die einen Psychologen eingestellt oder gar einen Psychopathen für das Leveldesign? Bei Steam berichtete einer, dass die eigentliche Show erst ab der Mitte losgeht. Mitte? Ich bin bei einem Viertel angekommen und brauche schon Herztropfen! Aber es reizt mich, ich will wissen, was noch kommt, welche weiteren Zettel ich noch finde, mehr herausfinde, was hier geschehen ist. Das Mädchen, das Haus, und so weiter. Gänsehaut...Was ich im Grossrechner recherchierte war auch nicht gerade beruhigend. Wenn sie schon ankündigen, was noch kommt, müssen die Entwickler sich ihrer Sache sehr sicher sein. Sie müssen sich sicher sein, dass es einem dennoch Angst macht, obwohl man es schon kennt. Wie gesagt, nicht gerade beruhigend. Geisterbahnen machten mir doch auch keine Angst, warum dann das hier?


    (...)

    Raum 400
    Ok, es reicht.
    Mir ist nun klar, warum sie sich sicher waren, Wissen schützt nicht.
    Jeder schief gelaufene LSD-Trip ist im Vergleich ein ruhiger Spaziergang am Strand.
    Das kann ich jetzt nicht mehr weiter spielen. Es ist nacht und ich nehme meine Kopfhörer ab, sie kleben mir am Kopf fest. Einatmen, Ausatmen, Entspannen. Alles ist gut. Alles ist gut. WAAAAAAARGH! - Achso, mir ist nur mein Feuerzeug runtergefallen, alles ist gut. Hoffentlich träume ich nachts nicht von diesen ... "Räumen".

    Ich habe das Spiel unterschätzt, habe die Grafik unterschätzt, das kleine Mädchen, die 2D-Modelle - und nicht zuletzt den Sound. Ich glaube, allein dieser reicht schon aus für Dauer-Gänsehaut. Wenn man es weit genug schafft. Oder sollte ich besser sagen: FALLS!?

    Wie weit ich mich noch traue?
    Ich weiss es nicht.
    Was ich ebenfalls nicht weiss und was ein englischsprachiger Spieler als positive Rezension geschrieben hat: Warum das Spiel so rein gar nix kostet. Nicht, dass ich mich beschweren würde, aber Crap ist es nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es wirklich ein Spiel ist - oder eher ein psychologisches Experiment.

    3. Erfahrungsbericht "Spooky's House of Jump Scares"; Zustand des Autors: Stehend

    Das Spiel ist Free, kein Free to play und ... Mist, der Schreibtisch ist zu tief...es ist darauf ausgelegt, dass man in sehr kurzer Zeit vom Grossmaul zum Angsthasen mutiert. Dabei ist doch alles "cute", alles "süß". Naja, sagen wir FAST alles. Einiges empfand ich keineswegs als...bekomme langsam Rückenschmerzen von der gebückten Haltung...die Grafik ist so lala (später werdet ihr dafür dankbar sein - oder auch nicht), der Sound gut und wird zunehmend besser. Es macht durchaus...aua, Rücken schmerzt... also:
    Ihr wisst Bescheid, probiert's aus!

    4. Erfahrungsbericht "Spooky's House of Jump Scares"; Zustand des Autors: Stehend auf einem Bein

    Das Spiel ist...maaaannn...wackel...gut, kost nix. Installieren, spielen, Angst haaaaaaaa



    So.

    Was habe ich also gelernt?


    1. Hemingway hatte nur bedingt Recht
    2. Spooky's House of Jump Scares ist härter, als es aussieht. Für Menschen mit Herzinsuffizienz nicht empfehlenswert, ich meine es ernst!
    3. Ich weiss nun endlich, wie so manche zu kurz geratene Rezension hier erklärbar ist: Liebe Leute, kauft euch doch bitte etwas zum Sitzen!




    tl;dr :)

    Über den Autor

    Yeager
    Chuck Yeager durchbrach als erster Mensch die Schallmauer.
    <br/>Ich stolperte über seinen Namen als damals noch kleiner Junge beim Gucken von "Der Stoff aus dem die Helden sind".
    <br/>Sein Name gefiel mir, wurde zum Nick und blieb es.

Kommentare

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  1. Vredesbyrd
    hab, nachdem ich das hier gelesen habe, heute damit angefangen. Bin jetzt bei 300 oder 350.
    Ich glaube ich wurde bisher ziemlich verschont :) Mir gefallen die Referenzen auf andere Horrorspiele!
  2. TheVG
    Beim ersten Reingucken dachte ich zuerst "Falscher Link? 3D-Labyrinth, oder was?" Aber wenn ein Horrorfan älterer Schule was gelernt hat, dass Horror nicht nur optisch funktionieren muss, sondern auch durch andere Dinge überzeugt. Und das ist dann meist die eigene Fantasie. Ich werd mal reinschnuppern, und danke für den Tipp bzw. schönen Text.
      1 Person gefällt das.
  3. Halleluja
    Es gibt Leute die bei Jump Scares sich wirklich erschrecken?

    KING123KING123!
      2 Person(en) gefällt das.
  4. Dogarr
    Klingt sehr "unterhaltsam". Schau ich mir heute Nacht mal an. Danke für den Blog.
  5. grenzgäng
    Jumpscares.
    Der Michael Bay des Horrors.

    Weder gruselig, noch neuartig und nichts anderes als Youtube-Bait.

    Öde.
  6. Gra
    Das du ebenfalls den hang dazu hast ^^
    Cuthullu Cuthullu!
      1 Person gefällt das.
  7. nokrahs
    Danke für den unterhaltsamen Bericht. Habe mir das Ding soeben heruntergeladen.
      1 Person gefällt das.
  8. Gra
    Schade, ich bekomme schnell Herzkasper und Albträume, ist also nix für mich :(
  9. Ryuzaki
    Dem kann ich mich nur anschließen. Viele Einfälle und Gedankengänge dieses Mannes sind einfach nur ... beängstigend.
    Und dennoch habe ich mehr als nur eins seiner Bücher gelesen und es hat mir gefallen. Was sagt das jetzt über mich als Leser aus? ^^
  10. Ryuzaki
    Tja ... Bisher 300 Räume erspielt und dann zweimal "verunglückt". Vielleicht auch ganz gut so. Erst einmal Pause machen und versuchen, den Klos in meinem Hals mit einem Kamillentee runter zu spülen.
    Das Beklemmende an dem Spiel ist für mich definitiv der Sound. Ich hoffe, das verfolgt mich nicht in meine Träume.

    Jetzt mal ganz ehrlich: Am Anfang hoffte ein kleiner Teil von mir, dass du dir mit deinem Blog einen sehr gelungenen Scherz erlaubt hast. Was war ich doch naiv ...

    PS: Glückwunsch zum wohlverdienten Beitrag der Woche. ;-)
      2 Person(en) gefällt das.
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