Todes-Tourismus

Von Yeager · 30. April 2016 · Aktualisiert am 9. Mai 2016 ·
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  1. Bei Survival-Spielen geht es ums Überleben.
    Nur wessen? Und ist das Kunst?




    Day 20, 10:00

    Tag 20! Schon! Dabei habe ich meine Festung immer noch nicht fertig! Ja, gut, die unterste Etage ist ordentlich verbarrikadiert, Stützbalken halten meine Aufbauten und Spikes sorgen für schmerzhafte Berührung nicht nur der ersten Art. Nicht nur bei den Untoten, auch mir selbst, wie ich immer wieder zähneknirrschend mit Hilfe meines Erste-Hilfe-Köfferchens feststellen muss. In der zweiten Etage ist ein Labyrinth aus Wänden und Spikes – und eine hohe Leiter endet schließlich bei einer Falltür, die nach oben führt, aufs Dach, zu meinem eigentlichen Domizil. Einem doppelwandig-gepanzerten Penthouse. Mit mittelalterlich anmutenden, mit Eisengittern geschützten Schießscharten. Und mit meinem mühselig gesammelten und gecraftetem Zeugs. Eigentlich ist alles vorbereitet für die zyklisch wiederkehrende Zombie-Invasion morgen abend. Alle 7 Nächte wieder bei 7 Days to die. Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl bei der Sache. Im doppelten Sinne nicht. Irgendwas ist faul im Staate Zombiemark. Und das betrifft nicht nur die Haut der Untoten. Mein Bauchgefühl sagt mir, ich hätte es hier mit Kunst zu tun!
    Hier? In einer Zombie-Apokalypse? In einem unfertigen Spiel...!?

    Langsam, eins nach dem Anderen, denn es entspricht dem Beziehungsstatus mancher Leute im bekannten Gesichtsbuch: Es ist kompliziert.


    Eine (gar nicht mal so) gute Verteidigung

    »Eine gute Verteidigung«, sagte eine Freundin anerkennend, die mit ihrem Char bei mir im Spiel kurzfristig zu Besuch war. Ach ja? Ich bin mir da nicht so sicher. Die Zombie-Welle am Tag, genauer in der Nacht Nummer Sieben war hart, die in der Nacht vom Tag 14 hat fast mein gesamtes Haus zum Einsturz gebracht. Wie wird die morgige dann erst ausfallen? Ich habe immer noch keinen Stahl, kaum Steine und das, was ich aufbaue, wird von fast schon regelmäßig einfallenden Horden sogar tagsüber gleich wieder zum Einsturz gebracht. Zugegeben, vor Patch 14.4. war das immer mehr reifende Early Access Survival-Spiel ein bisschen zu einfach. Dafür ist es jetzt zu schwer. Oder ich bin zu schlecht.

    Home Sweet Home

    Nur selbst wenn, will ich es wirklich riskieren, dass meinem durchdachten, liebevoll errichteten Refugium etwas geschieht? Diesem letzten Zufluchtsort in der Apokalypse? Auf dem Dach meines Wolkenkratzers stellte ich Metallbuchstaben auf. Sie formen den Spruch »HOME SWEET HOME«. Ja, in der Tat. Ein süßes, weil letztes Zuhause. Dieser kleine Wolkenkratzer ist alles was mir, einem Überlebenden inmitten von Untoten, geblieben ist. Ganz schön viel, ehrlich gesagt. Mehr als ich im realen Leben habe. Immerhin, ein ganzer Wolkenkratzer für mich allein!

    Valerian & Veronique & Snake Plissken

    Eine Erinnerung blitzt auf: »Die Stadt der tosenden Wasser«, ein französischer Science Fiction Comic aus der Zeitreise-Reihe Valerian & Veronique, bei dem die beiden gleichnamigen Zeitagenten in die damalige Zukunft (1986), aber immer noch deren Vergangenheit reisen, in der New York unter Wasser steht und wo die Häuser von Dahergelaufenen und Banden bewohnt werden (ala Protagonist Snake Plissken im Endzeit-Klassiker Die Klapperschlange). Also eine Art endzeitliches Venedig mit Hochhäusern und Idioten. Den ich als Kind in den frühen 80er Jahren verschlang - und welch widersprüchliche Emotionen er in mir erzeugte: Einerseits angeekelt vom Weltenende und unmenschlicher Anarchie - andererseits begeistert ob der Vorstellung, die Welt gehörte mir, wenn ich Valerian wäre. Zumindest solch ein Wolkenkratzer. Nein, meiner im Spiel steht nicht im Wasser, wie die dort, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein. Ansonsten passt's: Endzeit: Check. Hochhäuser: Check. Idioten = Zombies. Check. Cool, ich spiele nachträglich, was ich mal als Kind las! Und den soll ich mir nun von besagten, halb-zersetzten Idioten kaputt machen lassen?

    Ihr könnt mich mal - aber nicht mein Haus!

    Ich ertappe mich also, wie ich ernsthaft darüber nachdenke die morgige Nacht einfach irgendwo im Freien zu verbringen. Nicht in der Hocke, nicht getarnt – bringt in der zyklischen wiederkehrenden Siebener-Potenz-Nacht eh nichts, da die Zombies genau wissen, wo ich bin. Nicht bewaffnet, da ich dieser Killertruppe selbst mit meiner Schrotflinte kaum etwas anhaben kann. Nicht gepanzert, da auch mein Eisenhelm den heftigen Attacken nicht lange stand halten wird. Genauso wenig, wie meine gar nicht so eisernen Nerven bei den noch viel heftigeren Geräuschen: Dem Klappern und Stöhnen und Zischen und den markerschütternden Schreien. Und dem Knurren dieser gottverdammten, untoten Hunde! Nein, einfach so, einfach mitten in der Landschaft stehend, nackt, schutzlos, bewaffnet nur mit einem wissenden Lächeln auf meinen Lippen, weil die Horde mir nichts antun kann. Denn ich bin fernab meiner Basis, sie wird diesen Angriff überstehen. Ich kann ruhig sterben, respawne halt ohne das Zeug in meinem Gürtel. Mein Haus respawnt aber nicht.
    Um wessen Überleben geht es hier also?

    Schaffe, schaffe, Häusle baue

    »The Survival Horde Crafting Game« nennt sich das Spiel. Ja, das trifft zu: Es geht ums Überleben, um eine Horde Zombies - und um das Werkeln. Und gerade Letzteres ist nicht nur notwendig, sondern macht auch einen Heidenspaß! Vielleicht sogar etwas zu viel. Schon im letzten Fallout fragte ich mich zwischenzeitig, ob ich mich wirklich in einem Rollenspiel befinde – und nicht eher in einer First-Person-View Version von Sim City. Ganz ohne Sarkasmus, denn das Bauen machte Spaß. Nur, dass die Bauten dort mehr oder minder persistent waren. Das sind sie beim voxelbasierten 7 Days to die nicht. Wenn etwas selten, weil vergänglich ist, ist es wertvoll - so, wie unser Leben also, selbst unser virtuelles.
    Na, dann hätten wir ja die Erklärung für die oben genannte suizidale Absicht, oder? Aber Moment Mal, es ist doch nur ein Haus! Im Prinzip ein „Gegenstand“, wenn man so will. Ein totes Objekt. Wie kann es sein, dass etwas so Belangloses uns so viel bedeutet? Ja, gut, es steckt Arbeit drin – aber ist das schon die ganze Wahrheit?

    Warum bauen wir gerne?

    Anders gefragt: Warum bauen wir überhaupt gerne?
    Antwort: Es ist vermutlich ein angeborener Instinkt, der aus dem Tierreich kommt: Bau dir dein Nest. Egal, was du sonst noch machst: Bau dir dein verdammtes Nest! Nein, wir stammen nicht von Vögeln ab, denn die sind bekanntlich Nachfahren der Dinosaurier. Aber das Prinzip der „Heimeligkeit“, der sicheren Zuflucht, das ist im Tierreich weit verbreitet, nicht nur unter den Flattermännern. Wir Menschen haben es übernommen und perfektioniert. Wir bauen sogar Wolkenkratzer! Doch sind auch weniger imposante Bauten trotzdem für uns wertvoll. Unser Zuhause, ganz gleich, wie es sein mag, hat nämlich etwas Tröstliches und sehr Persönliches. Der sichere Hafen, der uns immer wie selbstverständlich erwartet, wenn wir nach dem vermutlich ebenfalls angeborenen Hang zum Nomadentum zurückkehren von wo auch immer wir waren – den möchten wir nicht missen, jedenfalls nicht auf Dauer. „Zu Hause ist es doch am Schönsten“ heißt es nicht umsonst. Oder „My home is my castle“. Oder „Mi casa es su casa“. Oder eben „Home Sweet Home“. Erst leiden wir unter Fernweh, dann in der Ferne unter Heimweh. Nur auf den ersten Blick widersprüchlich. „Kein Basisbau!“ - wie häufig las man das schon bei Spielkritiken auf der Soll-Seite? Es wird seinen Grund haben, der nicht nur auf der Hand liegt, sondern allgemein auf der Haut:

    Die zweite Haut - und ihre Narben

    Zuhause - Home Sweet Home - es ist wie eine zweite Haut, gehört zu uns. Dessen Verletzung empfinden wir wie eine Verletzung des eigenen Selbst. Nicht zufällig (dafür umso tragischer) ist es, dass Menschen, bei denen zu Hause eingebrochen wurde sich manchmal in psychotherapeutische Behandlung begeben müssen, wie ich unlängst von einer befreundeten Psychologin erfahren habe. Obwohl sie vielleicht während des Einbruchs gar nicht da waren. Ihnen selbst ist also nichts widerfahren – scheinbar. Aber irgendwie doch. Sie mögen vielleicht sagen, dass sie Angst haben, dass es wieder geschieht – und das ist sicher auch die Wahrheit. Aber vermutlich steckt noch mehr dahinter, denn es war irgendwo auch ein Angriff auf ihre Person. Der einzige, echte Rückzugsort wurde verletzt. Wenn man den nicht mehr hat, hat man nichts mehr. In gewisser Weise kommt das wahrscheinlich einer Vergewaltigung erschreckend nahe. Nicht selten ist es so Betroffenen daher nicht länger möglich, dort noch wohnen zu bleiben. Umso verachtenswerter sind daher die Menschen, die solche Einbrüche begehen, ganz gleich wodurch motiviert. Ganz gleich, ob diese Tat einen wirtschaftlichen oder einen politisch-ideologischen Hintergrund besaß. Das gilt für den gemeinen Einbrecher Marke „Armer Schlucker“ genauso, wie für so genannte „Menschen“, die in Flüchtlingsheimen einbrechen oder gar jene anzünden. Entweder sind sie sich dessen nicht bewusst, was sie damit wirklich anrichten oder es ist ihnen egal. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was schlimmer ist. Am schlimmsten dürfte es sein, dass diese Selbstverständlichkeit, dass man anderen Menschen nichts antut, was man selbst nicht erleben möchte, in stereotypischen Nazi-Sprech als "Gutmenschen"-Denken abgetan wird. Am schlimmsten deswegen, weil der Grad der dabei erreichten Idiotie, die die Grenze zur Unmenschlichkeit längst überschrittenen hat, nicht mehr zu toppen ist. Da kann man "Killerspiele" spielen, bis der Arzt kommt - so dumm kann man gar nicht sein. Einige leider doch, wie wir wissen. Nur würde ich niemals die Schuld bei Spielen sehen, meine befreundete Psychologin übrigens auch nicht - aber das ist ein anderes Thema.

    Bau dir dein verdammtes Nest!

    Nicht umsonst ist die Privatsphäre ein wertvolles Gut, das es zu schützen gilt. Selbst bei vergleichsweise offenherzigen Menschen, die fast schon exhibitionistische Züge aufweisen. Immerhin kein seltenes Phänomen im Informationszeitalter, das sich unter anderem durch das paradoxe Verhältnis zwischen beliebiger Kommunikationsverfügbarkeit auf der einen - und anonymer Einsamkeit auf der anderen Seite auszeichnet - und dadurch das Phänomen überhaupt erst erzeugt. Umso stärker der Bedarf nach einem sicheren Hort heimeliger Ruhe. Gerade, wenn das Leben turbulent erscheint, gerade dann, wenn uns die Dinge über den Kopf hinaus wachsen, ist es wohltuend zu wissen, dass unser Zuhause mit dessen Symbolcharakter der bedingungslosen Verlässlichkeit erhalten bleibt:
    Die Oase in der Wüste, der Fels in der Brandung, die erste und letzte Zuflucht zugleich. Also das Nest, das gemäß des intrinsischen, alles bestimmenden und evolutionären Masterplans unbedingt, verdammt noch mal, gebaut werden sollte, ganz gleich, was sonst noch ist.

    Hinter schwedischen Gardinen und Regalen

    Deswegen verlieren einige Männer in Baumärkten endgültig ihren Verstand, laufen wie Irre eingesperrt in einem Wohlfühl-Knast kopflos auf und ab und kaufen jeden Blödsinn, den sie weder brauchen, noch richtig herum zusammen bauen können. Deswegen sind einige Frauen meisterhafte, aber auch völlig durchgeknallte Inneneinrichter, die bei der kleinsten, ungewollten Asymmetrie einem Herzinfarkt nahe kommen. Wenn der am schlimmsten anzunehmende Fall eintrifft, nämlich die Tischdecke farblich nicht zum Teppich passt! Deswegen unterscheiden sich gewisse, schwedische Möbelketten kaum von einem Tempel für religiöse Fanatiker, dessen verzückte Besucher in nur leidlich zurück gehaltener Ekstase dem neuesten Dröna-Regal huldigen, als handele es sich dabei um ein dem Zugucker unaussprechliche Weisheit und ewiges Glück schenkendes, ausserirdisches Artefakt - oder gleich den heiligen Gral. Nur halt für die Wand und dann noch in diesem schicken Beige!
    Und deswegen bauen wir gerne.
    In echt, genauso wie in Spielen.

    Es ist schon spät, lass uns nach Hause sterben

    Ist natürlich nur eine Theorie von mir. Aber falls sie zutreffen sollte, wird klar, warum ich in einem Survival-Spiel vom Survival-Gedanken abkomme. Das tue ich nämlich gar nicht, ich projiziere ihn nur unbewusst. Denn meine Spielfigur ist nicht wirklich vergänglich. Selbst beim maximal eingestelltem Schwierigkeitsgrad, bei dem im Todesfalle alles gelöscht wird und nicht nur die Items in der Schnellleiste im Wortsinne „droppen“, verliert meine Figur nichts richtig. Ja, ein bisschen Wohlfühlvermögen und Ausdauer. Halb so wild, es geht auch mit weniger. Die mit den Erfahrungspunkten erkauften oder per Learning by doing angeeigneten Werte bleiben aber erhalten. Im Prinzip kann ich so oft sterben, wie ich will. In früheren Spielen nutzte ich das Sterben sogar zur bequemen Fortbewegung, denn man spawnt wieder auf dem eigenen Schlafsack oder in dessen Nähe. Sehr praktisch, wenn man wieder mal am Allerwertesten der Welt ist, weil natürlich genau dort, also am besagten Allerwertesten, die Versorgungskiste vom Flieger abgeworfen wurde. Gerne und häufig auch direkt über dem Ozean. Unvergessen daher die Momente der erstmaligen Freude ("Verdammte Hacke, endlich der Bauplan für die Armbrust!"), auf die verstörende Überraschung folgte ("Mist, ich bin unter Wasser und saufe ab."), welche mit abermaliger, nicht weniger verstörender Freude endete ("Gott sei Dank, ich bin tot - also wieder zu Hause. Wäre auch ein scheissend langer Weg gewesen zu Fuß!"). So absurd es klingt, doch meine Spielfigur ist egal.

    Full Metal Fortress oder »Es gibt viele Häuser. Aber dies ist mein Haus!«

    Aber nicht mein Nest! Meine Festung repräsentiert meine eigentliche Spielfigur. Sie gilt es zu schützen. Sie ist wirklich vergänglich, ein Verlust unwiederbringlich. Was dadurch noch absurder wird, denn diese dient im Spiel nur dem einen Zweck: Meine Figur am Leben zu erhalten. Wer hält hier also für wen oder was den Allerwertesten hin? Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Entwickler über diesen psychologischen Verdrehungs-Effekt im Klaren waren. Vielleicht haben sie ihn sogar insgeheim beabsichtigt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls lese ich im Steam-Forum, dass offenbar eine ganze Menge Leute zu den Siebener-Nächten an ganz andere Orte gehen.
    Zum Sterben.

    Todes-Tourismus

    »Todes-Tourismus« könnte man es auch nennen, eine hübsche Alliteration. Zum Lachen gehen wir in den Keller und zum Sterben in ein anderes Haus. Oder auf die Wiese. Oder wir graben uns ein Loch. Ist das eigene Grab gleich fertig und die 7er-Superzombies kommen da auch nur schwerlich raus, wenn es denn tief genug war. Egal wohin, Hauptsache weit weg von zu Hause, damit dem Refugium nichts geschieht, das das wahre Selbst in diesem Spiel repräsentiert. Alles angeblich nur, um die eigenen, deponierten Ressourcen und Items zu schützen. Doch, natürlich, wir werden in der Festung kämpfen - wenn sie fertig ist. "When it's done" - ein bekannter Spruch aus der Branche. Wenn wir Stahlwände haben. Und einen Garten mit Spikes bis zum Horizont. Und einen Burggraben. Zehn Meter tief. Nein, besser fünfzig. Und ein Tunnelsystem. Und ...
    Ja, ja, wer's glaubt.

    Mache ich. Morgen. Bestimmt!

    Selten zuvor machte das ursprüngliche Studentensyndrom namens "Prokrastination", das sich später als "Aufschieberitis" und ganz nebenbei als Volkskrankheit outete, so viel Sinn, wie hier. Es wird "never done" sein, denn die Festung ist es, worum sich inoffiziell alles dreht. Würde nur keiner zugeben wollen, weil wie sieht das denn aus in einem Survival-Spiel?! Aber es macht durchaus jeden Sinn, den man sich vorstellen kann. Und auch sehr viel Spaß, so ist es nicht.
    Erinnert dieses ewige Aufschieben nicht an etwas? An das Kindermärchen von dem alten Ehepaar, das den Sensenmann immer und immer wieder vertröstete, es fanden sich lauter neue Gründe. Nur um dem Unausweichlichen zu entkommen. Ein Tag mehr. Eine Stunde. Eine Minute. Alles zählt. Wie waren die letzten Worte von Hudson in ALIENS:

    »Noch nicht!«

    Richtig. Noch nicht. Vielleicht die natürlichste Empfindung, die man als Mensch haben kann. Denn es geht ums Überleben - einen noch viel tieferen Instinkt, als den mit dem Nest-Bauen. Den tiefsten überhaupt.
    Der Todes-Tourismus, eine scheinbare Paradoxie in einem Survival-Spiel, ist also gar nicht widersprüchlich. Im Gegenteil: Er ist die einzig logische Schlussfolgerung aus alledem. Er ist der verbissene Versuch zu überleben. Nur eben nicht direkt, sondern von hinten durchs Auge. Vielleicht denke ich aber auch viel zu kompliziert. Vielleicht geht es am Ende wirklich nur um die Arbeit, die man reingesteckt hat, um die es schade wäre. Oder vielleicht denke ich nicht kompliziert genug. Vielleicht ist die Festung nämlich gar kein Symbol für das eigene Selbst. Sondern ein abstrakter Platzhalter für den geliebten Mensch an der eigenen Seite, falls vorhanden, für den/die man sich opfern würde. Oder das eigene Kind, dessen Tod man niemals zuliesse. Niemals. Vielleicht steht sie für das, was uns Menschen zu dem macht, was wir sind. Ich weiß es nicht.

    Yeager übertreibt. Oder?

    Klar kann man mir jetzt vorwerfen, dass man ja in alles beliebig viel hinein interpretieren könne, wenn man denn nur wollte. Dass ich hier in einer in Wirklichkeit banalen Sache einen geradezu philosophischen Tiefenaspekt hineinbeschworen hätte. Dem könnte (und wollte) ich auch gar nicht widersprechen. Aber das Interessante ist, dass dieser Punkt zu einer Sache führt, die immer wieder hier auftaucht, nämlich der Frage, ob und inwiefern Spiele Kunst seien. Denn genau das passiert bei Genannter: Interpretation und Reflektion. Das Auf-sich-Wirken-Lassen von etwas - und etwas für sich daraus "mitnehmen". Eine Art der Kommunikation also, die die Beschränktheit eines auf das unmittelbare Geschehen fokussierten Geistes überwindet - und Zusammenhänge aufzeigt, die unser abgestumpfter Alltags-Intellekt nicht mehr so ohne Weiteres erfassen kann. Oder will.
    Ist es nicht genau das, was Kunst macht?

    Was ist Kunst?

    Ja, wir Menschen sind komplizierte Wesen, selbst, wenn wir das von uns selbst gar nicht dachten. Deswegen fällt es uns auch so schwer sagen zu können, was Kunst ist - und was weg kann. Vor vielen Jahren trank ich mal im Urlaub im Pariser Künstlerviertel Montmatre mit einem Künstler Kaffee. Bevor es zu Höherprozentigem ging. Er sagte mir, dass wenn man Kunst machen will, man es nicht schaffen würde. Kunst sei wie Muse: Sie liesse sich nicht erzwingen. Sie selbst suche sich den Künstler aus, nicht umgekehrt. Mona Lisa, das weltberühmte Gemälde des nicht minder berühmten Universal-Genies Leonardo da Vinci, ist Kunst. Aber warum? Weil sie alt ist? Nö. Weil sie "hübsch" gemalt ist? Auch nicht. Sondern weil ihr Lächeln unergründlich ist. Die Augen verfolgen einen, es ist fast unheimlich. Wir können gar nicht anders, sondern müssen interpretieren, was für eine Aussage dahinter ist - und ob überhaupt. Durch diesen Versuch der Interpretation und Reflektion verstehen wir uns selbst. Vielleicht.

    Wenn ich wüsste, was Kunst ist ...

    Wenn man das auf Spiele überträgt, wird man überraschend viel dieses Effekts vorfinden. Auch und gerade in solchen, bei denen man es nie erwartet hätte. Das ist ein möglicher - und übrigens auch guter - Grund, warum Spiele vielleicht doch Kunst sind. Weil sie uns einen Spiegel vorhalten, der uns erkennen lässt, wie wir wirklich sind. Selbst, wenn sie das gar nicht wollten. Selbst, wenn so etwas Lächerliches, Trashiges und mittlerweile wohl Ausgelutschtes wie eine Zombie-Apokalypse in einem unfertigen Spiel dafür herhalten muss.
    Umso besser, denn dann suchte die Kunst den Entwickler, nicht umgekehrt.
    Vielleicht habe ich aber auch einfach keine Ahnung von Kunst, was gar nicht mal so unwahrscheinlich ist. Immerhin stehe ich damit nicht allein. Pablo Picassso soll mal gesagt haben: »Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten!«
    Wenn ich mir jedoch sein Zitat auf der Zunge zergehen lasse, bemerke ich nach einer gewissen Zeit die darin versteckte Doppelbödigkeit, fühle mich von Picasso überlistet - und stehe also doch alleine da.

    Day 21, 21:00

    Es ist einundzwanzig Uhr in der einundzwanzigsten Nacht.
    Eine Stunde noch zu leben. Plusminus.

    Nein, ich bin nicht in meiner Festung.
    Ich habe mich in einer Tankstelle verbarrikadiert, überall leicht entzündliche und noch explosivere Benzinfässer um mich herum aufgestellt, dazwischen Tretminen, Stolperdraht – und natürlich Spikes. So viele Spikes, dass ich selbst keinen Schritt mehr machen kann. Nein, ich bin auch nicht nackt und auch nicht wehrlos. Wenn ich schon abtreten muss, dann mit einem Knall. Neben meiner Schrotflinte trage ich noch eine selbstgebaute Rohrbombe. Und ich stehe selbst auf einem roten Fass mit Warnhinweis. Sollen sie nur kommen! Es wird auf jeden Fall eine hübsche und vor allem laute Party geben, wenn ich denn schon als Todes-Tourist „unterwegs“ bin – von diesem ins nächste Leben. Von hier - in dieser einsamen, abgelegenen Tankstelle – nach Hause, ins traute, warme Heim. Bis dahin harre ich im wahrsten Sinne des Wortes der Dinge, die da kommen.

    Last Minute Flug

    Eine Stunde später:
    Die Geräuschkulisse ist unerträglich, mein Cursor zeigt permanent ein offenes Auge und ist beschriftet mit »HUNTED«. Gemeint bin natürlich ich damit, ihr Leckerli für heute Abend. Teile der Wand fehlen bereits, es sind den Lauten zufolge Spider, Ferale und Cryer dabei. Letztere ziehen immer mehr Wellen an, worunter sogar andere Schrei-Tanten sein können - und so weiter. Und natürlich Hunde. Mehrere. Viele. Zu viele. Eigentlich mag ich ja Hunde - also, lebende jetzt.
    Ich höre, wie sie die erste Eisentür durchbrochen haben, ich vernehme das Knacken der berstenden Spikes, die Explosionen der Minen und Fässer. Nein, es hält sie nicht auf, damit rechnete ich auch nie. Wäre ich ein Fan des Theatralischen, würde ich mich wie Gandalf in den Flur stellen und irgendwas wie »IHR KOMMT HIER NICHT VORB....« rufen - weiter käme ich wahrscheinlich nicht. Aber ich sehe es pragmatisch. Ausserdem werde ich nicht gerne unterbrochen. Daher verabschiede ich mich mit einem weitaus zweckmässigeren ...

    »Zeit, nach Hause zu gehen.«

    ... und lasse die Rohrbombe mit brennendem Docht fallen.





    Yeager

    Über den Autor

    Yeager
    Chuck Yeager durchbrach als erster Mensch die Schallmauer.
    <br/>Ich stolperte über seinen Namen als damals noch kleiner Junge beim Gucken von "Der Stoff aus dem die Helden sind".
    <br/>Sein Name gefiel mir, wurde zum Nick und blieb es.

Kommentare

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  1. Tobe
    Guter Artikel!
    Ich spiele selbst ab und zu gerne 7dtd und musste bei der Stelle mit dem Armbrust-Bauplan oder den "gottverdammten, untoten Hunden" schmunzeln.
    Das in Verbindung mit den interessanten Gedanken zur Kunst hat mich dazu bewogen mich endlich mal bei Gamestar zu registrieren und diesen Kommentar zu schreiben :-P
      1 Person gefällt das.
  2. Zele
    Jo, das Alpha-13-Balancing war ziemlich gut.... inzwischen hat man als Solo-Spieler das Gefühl, man solle in den MP gezwungen werden...
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  3. Yeager
    Kunst?
    Wenn es darum geht, ist mein Text geradezu lächerlich kurz, Vercetti :)

    Begründung:

    Es gibt mWn zwei Möglichkeiten die Empfindung von Kunst zu beschreiben:
    Entweder durch das Phänomen selbst. Dann ist jeder Text, egal wie kurz, schon zu lang. Denn es geht nicht ums rationale Begreifen, sondern um's (selbst) erfahren. Oder durch den Versuch es in Worte zu fassen. Und dann ist selbst der längste Text zu kurz.

    Ich versuchte hier einen Mittelweg zu wählen, also die dritte der zwei Möglichkeiten ;-)
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  4. Vercetti III
    Unglaublich, dass man so ein Thema auf dermaßen viel Text ausweiten kann. Aber was habe ich auch anderes erwartet bei einem Artikel von Yeager :P

    7 Days to Die habe ich nie gespielt, aber dafür eine lange Zeit Minecraft. Daher kenne ich das Thema und kann sogar nachvollziehen, dass man sich lieber umbringen lässt, anstatt zuzulassen, dass möglicherweise dem eigens - und mit viel Liebe - gebauten Gebäude (was auch immer es für ein Gebäude sein mag) etwas zustößt. :D
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  5. Jackhammer
    Hab 7dtd auch erst vorletzte Woche wieder gezockt. An sich ein sehr witziges Spiel, nur dass man seine Bauweise an die Zombies anpassen muss, statt wie in Minecraft sich die Monster an uns anpassen müssen, trübt für mich den Bauspass.

    3-wandiger Betonbunker: Wird früher oder später eingerissen, vor allem, wenn man nicht nach draußen schießen kann. Und falls ein zweiter Ausgang fehlt, mutiert ein solcher auch sehr schnell zur Todesfalle.

    50-Block tiefer Graben: tötet, warum auch immer, nicht zuverlässig, wahrscheinlich weil Zombies, die auf auf Zombies fallen keinen Schaden nehmen, weiß ich aber nicht zu 100%.

    Stelzenhaus: Im Moment die einzige zuverlässige Bauform. Zumindest solange noch keine schießenden Zombies dabei sind. Danach hilft nur noch immer höher immer höher (zumindest früher, hatte wegen dem riesigen Graben noch keine Zeit für einen Turm und).

    Und dass war's auch schon mit den Grundformen, mehr gibt's sowieso nicht. Durch die Statiksimulation sind ja freischwebende Konstruktionen à la Minecraft nicht möglich und durch die ZombieKI und Spiellogik (Zombies und Spieler können mit der bloßen Faust innerhalb von ingame Stunden Beton und Stahl zerstören) fallen 2 von 3 Varianten ebenfalls weg. Dadurch wird der kreative Part des Spiels fast komplett eingestampft.

    Und wer jetzt schreibt: "Mach doch einfach einen Wassergraben", der hat eine nicht ganz aktuelle Version gespielt, denn nicht nur, dass Tiere und Zombies durch's Wasser laufen können, sie ertrinken dabei auch nicht.

    Deshalb war bei mir die Motivation vorerst nach einer Woche wieder vorbei, aber ich werde in ein paar Monaten sicher mal wieder reinschauen.
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