Realitätsverlust

Von TheVG · 11. Dezember 2016 ·
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  1. Würde man mir einen Euro für jedes Mal geben, bei dem mindestens einmal der Satz "Das ist ja unrealistisch" fiele, würde ich ein Entwicklerstudio eröffnen und Spiele kreieren können, um meinen Reichtum zu mehren, indem ich noch mehr unrealistisches Zeug auf den Markt werfe.


    Natürlich kann es von Vorteil sein, wenn die Abbildung der Realität auch so viel Realität wie möglich abbildet, doch inwieweit brauchen wir diese dann auch wirklich, wenn wir Medien konsumieren, die unter dem Banner der Kunst ihre Geschichten erzählen? Mehr aber wird es wohl passieren, dass wir Situationen erleben, die es mit der Realität nicht so ganz genau nehmen. In vielen Aspekten ist die Realität auch unterschiedlich dargestellt, also kann es passieren, dass die Bemühungen, sie einzufügen, innerhalb eines Spieles oder Filmes abhängig von der Fokussierung der Schaffenden stark variieren.


    Darin stellen sich nun einige interessante Fragen, die wir vielleicht mal diskutieren sollten. Wenn die Realität in Spielen oder das Ausbleiben ebensolcher die Qualität davon beeinflussen kann, inwieweit ist sie dann nötig? Sind wir zu anspruchsvoll oder gar fantasielos?

    Blut und Hochgefühl

    Um sich dem Thema angemessen zu nähern, will ich euch ein kleines Beispiel nennen. Es mag etwas verwirrend sein, wenn ich euch jetzt die Actionfilme der 80er nenne, aber ich finde, dass sie wunderbar beschreiben, wie ambivalent der Gebrauch von Realität zu jener Zeit gewesen ist. Nimmt man die reine Action als Grundlage, ist es mit realem Abbild nicht weit her. Da springen Autos, explodieren Gebäude und spritzen Blutpäckchen ziemlich effektvoll, den ganzen Film über, und wenn wir ehrlich sind, suchen wir doch die Einzelszenen geradezu nach den Hilfsmittelchen ab, mit denen Stunts und Krawummeffekte ausgeführt werden.

    Man ist sich also sehr wohl bewusst, dass das nicht realistisch sein kann, und es etablierte sich damals schon eine Art Volkssport, über die Machart der Szenen zu philosophieren und zu spekulieren. Man muss diese Epoche auch aufführen, um zu verstehen, wie sich dies auf Videospiele übertragen hat, denn oftmals sind sie von der übertriebenen Action des damaligen Kinos schwer beeinflusst. Ein GTA wäre wohl niemals in der Form entstanden, wenn nicht Arnie oder Sly in ihrer üblichen Manier ihre Vehikel einem extremen Belastungstest ausgesetzt hätten. Es ist pauschal ausgedrückt - wenn wir mal ehrlich sind - auch wurschtegal, wie realitätsfremd die Action auch sein mag. Wir wollen diese Eskalation von Gewalt einfach sehen, sei es im Kino zur simplen Beschau reduziert oder interaktiv, was uns eine neue Stufe von Adrenalinkicks beschert.

    In diesem Einzelpunkt ist die Anwendung von Realität also völlig sinnlos. Action lebt von Übertreibung, und diese soll auch bitteschön so weit übertrieben werden wie möglich. Da wir in diesem Bewusstsein unsere Spiele und Filme haben möchten, ist es auch selbstredend, diesen Missbrauch des Realen auch ungefragt zu akzeptieren. Es kann jedoch auch passieren, dass die Annäherung an reale Szenarien neue Sichtweisen eröffnet. Ich kann mich noch gut erinnern, wie stark mich die Bankraubszene aus "Heat" beeindruckt hat. Während es sich schon etabliert hatte, mit allerlei Effekthascherei wie Soundeffekten zu arbeiten, verzichtete Michael Mann einfach darauf und fing die Szenen so realistisch wie möglich ein. Die Knallgeräusche sind die wirklichen, die eine Waffe produziert, und das birgt eine eigene Qualität, die man mit Synthesizern bzw. Sounddateien nur schwer einfangen kann.

    Ein Drama mit dem Drama

    Figurenzeichnung und Storyelemente sind hingegen anderen Gesetzen unterworfen. Hier ist die Zweckbindung eher im Gespräch, weil ihre Wirkungen entsprechend eingepasst werden müssen. Gerade bei Spielen vermisse ich so ein wenig die Metaebenen, weil sie sich oftmals in ihrer Mechanik verbissen haben, wenn das Spielen mehr im Fokus steht denn die Geschichte. Doch sollte man nicht vergessen, dass es schwierig ist, so viel Erzählung und Spiel wie möglich gleichzeitig zu vermengen.

    Dramen eignen sich eher schwerlich für Spiele, und wenn, dann schwenken sie eher zu interaktiven Filmen über. Sie wechseln eher in der Regel von emotionalen Ebenen direkt wieder ins Pragmatische und wirken dadurch unrealistisch. Schon der vielgescholtene Tomb Raider-Teil mit einer weinerlichen Lara Croft lädt geradezu zu Shitstorms ein, und in einem GS-Artikel wurde es auch schon richtigerweise aufgeführt: In den Zwischensequenzen wird Lara als verletzliche Frau gezeichnet, die erst einen Persönlichkeitswandel vollziehen muss. Doch egal welchen Spielabschnitt wir angehen, wird Lara plötzlich zur uns bekannten Heldin umgeswitcht. Sie verspürt keine Höhenangst, keine Zweifel an ihren Muskelkräften und ist zielsicher wie ihr Alter Ego, das sicher ganz entspannt im Sessel sitzt und ein bisschen auf der Tastatur oder dem Gamepad herumklimpert.

    Als Ubisoft entschieden hatte, Sam Fisher einen Schicksalsschlag zu verpassen und damit das Thema Rache anstatt Dienst nach Vorschrift abzuhandeln, passen die Erzählabschnitte einfach nicht in das Gesamtbild des Spiels. Würde Sam nämlich die gesamte Zeit über Schmerz, Trauer und Hass verspüren, würden sich seine Schleicheskapaden bestimmt nicht so spielen wie die Teile zuvor. Die paar Farbtupfer an Emotionen, mit denen der Entwickler dem Spieler gewissermaßen etwas Dramatisches vorgaukeln, sind einfach nicht haltbar, auch wenn unsere Helden Spezialisten auf ihrem Gebiet sind. Oder würdet ihr im Büro erst völlig geschockt vom Tod eures Kindes erfahren und in der nächsten Minute beim Meeting oder Serviceauftrag zur Höchstform auflaufen? Ich wage es zu bezweifeln...

    Wider die Logik

    Spreche ich nun über Point-and-Click-Adventures, werden Genrefans wohl wissend nicken, wenn es um die Anzweiflung von Realität und Logik geht. Jeder Rätselliebhaber hat es schon recht oft erlebt, dass fehlende Logik und Realitätsverständnis einen Spielfluss hemmen kann. Zwar sind absurde Rätselketten so alt wie das Genre selbst, jedoch liegt das auch ein wenig am Setting des Spiels. Während man Maniac Mansion überhaupt nicht ernst nehmen darf, sind modernere und echtheitsbasierte Titel wie Geheimakte Tunguska eher an die Logik gebunden. Man kann sich also bei fiktiven Szenarien etwas mehr kreative Freiheit erlauben als bei auf realen Ereignissen basierenden Spielen, und doch sind solche Entwicklungen und das damit verbundene Spielgefühl immer relativ zu betrachten - durch Figurenzeichnung, Hinweissetzung, Story und der Logik innerhalb einer Spielwelt kann man ebenso gut auf die Lösung kommen, als wenn ein Spieler vielleicht zu stark von der Logik des eigenen Alltages beeinflusst scheint.

    Ein gutes Beispiel für solche Designmacken sind etwa Minispiele, mit denen man dem sonstigen Sammeln-und-Kombinieren-Trott zu entkommen versucht. Beansprucht ein Spiel nun einen gewissen Faktor an Nachvollziehbarkeit für sich, ist es nicht selten vorgekommen, dass Minispiele an unsinnigen Stellen platziert wurden, etwa um Türen zu öffnen. Im Grusler Stasis sind solche und andere Designschwächen mehrmals zu entdecken. In einem Minispiel, in dem die Stromversorgung in einem Sicherungskasten durch eine Art Verschieberätsel umgelegt werden muss, bin ich schon vom erlernten Beruf aus skeptisch ob solcher Ideen. Sogesehen war es eine nette Rätselnuss, mehr aber auch nicht. Ganz schlimm erschien mir dann ein Abschnitt, in der eine Veredelung stattfinden soll. Normalerweise veredelt man z. B. Pflanzen zu besseren Züchtungen oder macht Dinge durch gewisse Prozesse besser. Hier jedoch bedeutet es, ein inneres Organ mit einem Pistolenkolben zu zermatschen. Erstens abstrahiert dies alleine schon den Begriff, zweitens wirkt es wie eine künstlich herbeigeführte Streckung des Rätseldesigns.

    Wer nun mit dem Setting gegenargumentiert, mag bis zu einem gewissen Punkt recht haben. Doch beansprucht das Spiel nicht nur den fiktiven Teil für sich, sondern bemühte sich besonders zu Beginn des Spiels nach logischen Rätseln zum passenden Einstieg. Entwicklern ist es nämlich schon daran gelegen, dass ihre Spieler nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, nur weil ein absurd schweres Rätsel zu Beginn die Motivation schwächt. Was sie jedoch auch verkennen: dieses Damoklesschwert schwebt auch bis zum Ende über ihnen. Und letztlich steht und fällt ein Adventure mit seinen Rätseln, und wenn das nicht für Spielspaß sorgt, sind sie meist zum Scheitern verdammt.

    Powerrrealität

    Immer wichtiger in Spielen ist die Möglichkeit, mit Rechenpower der Realität optisch immer näher zu kommen. Ein Doom von 1993 ist natürlich kein Vergleich mehr zum Doom, das gerade dieses Jahr veröffentlicht wurde. Natürlich ließ man es sich nicht nehmen, die technischen Möglichkeiten darin voll auszuschöpfen, und heute wirkt es so, als lägen die Unterschiede zwischen Spiel und Film im Millibereich. Der Faktor Übertreibung ist nun eher im Detail zu suchen, sei es der bunte Look oder den ausufernden Splatteranteil.

    Für mich ist es schon erstaunlich, welcher Aufwand hier betrieben wird, um der Realität immer näher zu kommen. Es werden 3D-Welten gebaut, mit Tricks Effekte eingefügt und der Eindruck mit filigran geschaffenen Soundeffekten verstärkt, dass die Grenze zwischen Kunst und Realität immer mehr verschwimmt. Während man zu den Anfangszeiten von 3D Bewegungen noch selbst programmiert hatte und die Figuren ein wenig puppenhaft ihre Gesten zeigten, hat Motion Capturing dazu geführt, dass die Illusion von echt agierenden Schauspielern kontinuierlich ansteigt (im Grunde ist es ja auch so).

    Dadurch stellt sich aber auch die Frage, wie sehr man diese Form der Realitätsannäherung überhaupt braucht. Dass eine Gegenwelle von retroesken Indieentwicklern entstanden ist, die den Spielspaß lange vor die Optik stellen, hat eine nicht uninteressante Debatte und Selbstempfindung bei unterschiedlichen Spielertypen hervorgebracht. Ich selbst kann mich mit beidem arrangieren: Ich mag pixelige Puzzlespiele genauso gerne wie einen AAA-Shooter, der eigentlich nur bombastisch daherkommt und mich wenig zum Denken auffordert oder auch meinen Anspruch auf künstlerische Inhalte ignorieren mag. Abstraktion und Echtheitsanspruch müssen sich also nicht unbedingt ausklammern, sei es rein auf die Optik reduziert oder die Spielmechanik.

    Sinn der Sache

    Wo ist Realität also sinnvoll, und wo sollte man sie nicht allzu sehr in den Mittelpunkt stellen? Es ist nicht einfach, eine Faustformel dafür zu finden. Weil das ein mit dem anderen genauso zusammenpasst und man es anderswo gar nicht braucht. Meine Erfahrungen sind in dieser Hinsicht so vielfältig, dass ich gar keine besondere Meinung zu der Sache habe. Ergo: es kommt darauf an.

    Besonders wichtig ist mir Realität, wenn das Spiel beispielsweise historisch akkurat sein möchte. Gerade Strategiespiele können durch etliche Spielfeatures sogar mit der Realität massig Spielspaß generieren, denken wir nur an die CIV-Spiele mit seinen zahlreichen planerischen Spielzusätzen. Woanders kann man eine eigene Welt kreieren und die Logik in sich dazu verwenden, eine eigene Realität aufzubauen. Dass dies längere Einarbeitungszeit bedeutet, Einfühlung in die Welt und auch die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist selbstverständlich.

    Das, was wir als real kennen, in Spiele einzufügen, bringt dagegen Erwartungshaltungen hervor, die dem Entwickler nicht selten ein Dilemma einbringen. Sobald auch nur eine Aktion, ein Spielelement oder eine Storyzeile der kreativen Freiheit zum Opfer fällt, kann schon mal der Bleistift zum Unterzeichnen einer Petition gespitzt werden.

    Doch gibt es immer wieder Ausgangssituationen, die die Pedanten eher lächerlich machen dürften. Wenn Fiktion an Echtem bemessen wird, Spiritualität, Magie oder Spaßübertreibungen als "unrealistisch" angesehen werden, dann kann ich dafür wenig Verständnis aufbringen. Obwohl... ich werde schon mal eine Spendenkasse einrichten...

Kommentare

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  1. TheVG
    Unter Surrealismus würde ich jetzt was anderes einordnen, da ist dann wohl die Intention der Macher das Bestimmende. Ich schätze schon, dass im deutschen "Spießbürgertum" gerne mal ein solcher Ausdruck verwendet wird, wenn es etwa zu abgedreht zugeht, selbst wenn das so beabsichtigt wird. Da sollte man aber auch ein wenig die Interessen berücksichtigen, es muss ja nicht jeder SciFi mögen. :-)
  2. Ritter des Herbstes
    Wobei wohl, völlig von der Intention unabhängig klar ist, das "unrealistisch" als negative Eigenschaft benutzt wird. Hauptsächlich wohl, weil man sein Argument nicht richtig artikulieren kann.
    Weil, seien wir mal ehrlich, über unrealistisches Waffenhandling zu sprechen, während man die Waffe mit der Maus benutzt, ist irgendwo schon plemplem.^^
    Wäre ganz interessant zu wissen, ob das so ein deutsches Ding ist. Weil Surealismus (um mal die schauderhafte Vorsilbe "un-" raus zu nehmen) ist ja erstmal nichts schlechtes.
  3. TheVG
    Würde ich pauschal so nicht sagen. Hab es schon oft erlebt, dass mit so einer Aussage vielleicht mal der potentiell ikonische Status heruntergespielt wird, um neben der Begeisterung ein negatives Argument zusätzlich parat zu haben. Also unter anderem, es gibt bestimmt auch einige, die sich diesen Satz gerne inflationär herausnehmen, um damit Spiele und Filme schlecht zu machen.
  4. TheVG
    Reines Interesse
  5. Ritter des Herbstes
    Das, und sehr viel mehr gibts eigentlich gar nicht zum Thema zu sagen.
    Darf man fragen, was der Anlass für den Blog war?
  6. RedRanger
    Viel wichtiger als Realismus ist innere Logik und Plausibilität. Oft werden diese Begriffe auch alle vermischt.

    Oft wird dann gesagt, das wäre "unrealistisch". Was aber nicht immer Sinn ergibt. Wenn Gandalf mit einem Panzer über Orks fahren würde, wäre es nicht unrealistischer als ein Gandalf, der mit einem Stock Magie verschießt. Es wäre aber höchst unplausibel im Herr der Ringe Universum.
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