Pferde statt Autos
Henry Ford soll einmal gesagt haben: „Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: schnellere Pferde.“ „Servicegames“ sind Umsetzungen dieser Maxime und mindestens der Untergang des Abendlandes, fragt man den lauten Teil der Coregamer und Gamestarkommentarschreiber. Sie sind aber auch die Zukunft des Gamings, wenn man die aktuellen und zukünftigen Releases großer Publisher betrachtet. Nicht nur die Gelddruckmaschinen von EA, Blizzard und Co. setzen auf das „Games as a Service“-Modell, sondern auch das im besten Fall mittelgroße Paradox Development Studio. Das heißt, dass die Schweden inkrementelle Veränderungen und Verbesserungen in den Mittelpunkt ihrer Spielentwicklungen stellen, nicht das regelmäßige innovieren mit ganz neuen Titeln. Das Paradoxe dabei (irgendwo im Hintergrund klingelt hier eine Wortspielkasse): Die Geschäftsstrategie sorgt gleichzeitig für bessere und schlechtere Spiele.
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Im Gegensatz zu beispielsweise den jährlichen Sportlizenzaufbereitungen von EA oder Sammelkartenspielen diverser Publisher, kann man Paradoxspielen nicht nachsagen, sich an eine möglichst breite Spielermasse wenden zu wollen. Vielmehr bedienen sie eine eher kleine Gruppe von Enthusiasten, diese dann aber intensiv und langanhaltend. Allein für das Vorzeigeprodukt Europa Universalis IV sind bis heute 10 große Erweiterungen erschienen. Selbst wenn man die nicht kauft, liefert Paradox viele neue Spielelemente via Patch ins Hauptspiel. Wer nur das ursprüngliche, 2013 erschienene, EU IV kennt und es mit allen Patches heute startet, wird von neuen Features erschlagen. Installiert man dann noch ein paar Grafikmodifikationen, könnte man gar denken, es handle sich bereits um einen Nachfolger.
Stillstand als Erfolgsmodell
Hier liegt bereits ein Problem des Servicegamegedankens. Es gibt nicht nur keinen solchen Nachfolger für Europa Universalis 4, es nicht einmal im Entferntesten einer in Sicht. Das Gleiche gilt für das bereits 2012 erschienene Crusader Kings 2, welches es sogar auf zwölf Erweiterungen bringt. Natürlich kann man fragen, weshalb man einen nächsten Teil brauchen sollte, wenn es doch bereits dank der Erweiterungen immer neue Spielsituationen zu erleben gibt. Die Antwort: Mit der Langlebigkeit kommt auch der kreative Stillstand einer Spieleentwicklung.
Diese These mag sehr kritisch anmuten, aber Stillstand muss nichts Schlechtes sein. Wenn man das gleiche Spiel mit kleinen Variationen wieder und wieder genießt, kann das genauso viel Spaß machen, wie alle 30-40 Stunden zu völlig neuen Bildschirmabenteuern aufzubrechen. Dennoch kommt man nach einiger Spielzeit nicht umhin sich zu fragen, ob das hunderte Stunden lang konsumierte Servicegame wirklich noch verbessert wird oder nicht einfach nur links und rechts an bestehende Spielelemente weitere angebaut werden, die Komplexität und Tiefe nur vorgaukeln.
Auch hier kann Europa Universalis 4 hervorragend als Beispiel herhalten. Schaut man sich zunächst einen Screenshot aus der Releaseversion an und anschließend einen aus der aktuellen Version, dann sieht Version 1.0 von EU IV geradezu simpel aus. Zum normalen Soldatenpool kamen mit der Zeit beispielsweise Seeleute, neben Prestige wurden unter anderem Pracht und Machtprojektion als Ressourcen etabliert, die Systeme zum Besetzen und Verteidigen von Ländern wurde grundlegend verändert und neue Provinzen der Karte hinzugefügt. Der Versuch, den Umfang der Änderungen adäquat zu beschreiben, könnte mittlerweile vermutlich ein Sonderheft füllen.
Stammkunden statt Zugänglichkeit
Dabei ist nicht jede Änderung wirklich eine Verbesserung. Natürlich liegt Qualität im Auge des Betrachters, wenn man jedoch ein bisschen Distanz wahrt und einige der Neuerungen betrachtet, so stellt sich die Frage, ob Teile der Änderungen nur um der Änderung willen eingeführt wurden. Im neuesten DLC „Mandate of Heaven“ wurde das Spiel in vier Zeitalter eingeteilt, die im Spielverlauf automatisch beginnen und enden. Für jedes Zeitalter gibt es Ziele, die nach Erfüllung dauerhaft „Pracht“ generieren. Damit kann man zeitalterspezifische Boni freischalten, die mal mehr, mal weniger nützlich sind. Es gibt aber auch in jedem Zeitalter einige Boni, die nur bestimmten Ländern zur Verfügung stehen und teilweise übermächtig wirken. Insgesamt also eine Häufung von neuen Mechaniken samt einer neuen Ressource, die das Spiel im Kern nicht wirklich voranbringen, sondern es weiter überladen und das Balancing sogar verschlechtern können.
Ebenso verhält es sich mit den in „The Cossacks“ eingeführten Ständen, die in den meisten Ländern verschiedene Provinzen beanspruchen und deren Interessen man balancieren muss. In der Praxis läuft das oft nur auf einige nervige Klicks mehr alle paar Spielminuten hinaus, die wenig strategische Tiefe bieten. Bei aller Kritik sind die meisten Neuerungen der DLCs aber sehr gut und sinnvoll. Sie erweitern das Spiel immer wieder um neue Mechaniken und Elemente.
Für erfahrene Spieler ist das großartig. Ständige Variation des Bekannten, immer mehr zu beachtende Systeme und sogar die eine oder andere Komfortfunktion steigern das Spielvergnügen. Einsteiger allerdings bleiben auf der Strecke. Auch die Tutorialversuche, die Paradox seinen älteren Spielen mit der Zeit hat angedeihen lassen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Entwickler in Wirklichkeit nur den bestehenden Spielerstamm bei der Stange halten will. Der bringt nämlich beständig Geld. Hin und wieder stoßen dann sogar doch neue Hobbystrategen zu EU IV, obwohl auf Zugänglichkeit offensichtlich kein Augenmerk gelegt wird. Aus Faszination für diese immer größer werdende Monstrosität oder das Setting an sich, gibt es natürlich stetig Neuzugänge in der Fangemeinde.
Das Geschäftsmodell geht auf. Normalerweise verlieren klassische Spiele frühzeitig einen Großteil ihrer Spielerschaft, nicht so EU IV. Auch andere Spiele dieser Art, wie beispielsweise Civilization 5, das nicht als Service-Game vermarktet wurde, hat eine konstant hohe Spielerzahl. Paradox nutzt diesen Umstand allerdings viel besser und verkauft Addon um Addon. Die Spielerzahlen wachsen insgesamt.
Gegen die eigenen Interessen?
Was aber wäre, wenn anstelle eines halben Dutzend DLCs ein neues Spiel hätte entstehen können? Statt auf dem alten Technikgerüst, das beispielsweise nicht in der Lage ist, mehrere Prozessorkerne vernünftig zu nutzen, immer neue Spielinhalte anzubringen, hätte auch die Möglichkeit bestanden, ein vollständig neues Europa Universalis zu entwickeln. Oder ein völlig anderes Globalstrategiespiel. Nicht nur technisch, auch inhaltlich hätten neue Wege offen gestanden. Auf dem eingeschlagenen Pfad jedoch stecken die Entwickler in dem spielerischen und technischen Korsett, das sie einst selbst programmierten.
„Aber Stellaris!“, schallt es dieser Argumentation entgegen. Und tatsächlich, Stellaris war ein reduziertes, innovatives Spiel in einem für Paradox neuen Setting. Für Stellaris haben die Schweden ansonsten aber offensichtlich den gleichen Plan, wie für die oben Erwähnten Giganten des Genres. Schon mit dem ersten DLC wird klar, so vergleichsweise simpel, wie es jetzt ist, soll das SciFi-Spiel nicht bleiben. Neue Mechaniken werden eingebaut und Einsteiger oder Gelegenheitsspieler, die nicht so tief in der Materie stecken, werden vermutlich schon bald in die Röhre gucken.
Servicegames dieser Machart sind somit die spielgewordene Komfortzone für Entwickler und Spieler. Entwickler können mit kleineren Teams und geringerem Aufwand und Risiko ihr Einkommen sichern, sobald sie eine gewisse Fangemeinde etabliert haben. Spieler können ihr Lieblingsspiel immer länger und intensiver spielen und bekommen auf Dauer ein um alle denkbaren Facetten verbessertes und erweitertes Spielerlebnis. Auf Ford zurückkommend könnte man also sagen, die Fans eines Spiels wünschen sich in der Regel nur Verbesserungen ihres Pferdes. Europa Universalis ist deswegen mittlerweile sogar eines der besten Pferde jemals. Vielleicht haben die Fans und die Entwickler damit aber auch gleichzeitig dafür gesorgt, dass wir ein Europa-Universalis-Auto niemals zu Gesicht bekommen werden.
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