Über die Kunst in Videospielen

Von toru · 7. November 2017 · Aktualisiert am 14. November 2017 ·
Kategorien:
  1. [​IMG]



    Eigentlich seit ich zurückdenken kann begleiten mich in meinem Leben Videospiele. Im Alter des Heranwachsens waren sie unterhaltsam, und das sind sie noch immer. Allerdings hat sich mein Blick mittlerweile erweitert – nicht mehr die reine Unterhaltung suche ich in allem, sondern auch ein künstlerischer Anspruch entwickelte sich in mir. Wo für mich über Jahre hinweg eine tiefe Verbundenheit zu diesem Medium entstand, handelt es sich doch für einen großen Teil der Bevölkerung dabei nur um reine Kinderei – oder, angeregt durch die einzigen Mitteilungen aus dem Medium, die diese Menschen erreichen, um Aggressionskatalysatoren in Form von „Killer-Spielen“. Sinnlose, stumpf verlorene Zeit wird hier gesehen, sonst nichts. Dass es sich hier jedoch um eine Diskriminierung und Heuchelei sondergleichen handelt, möchte ich durch die Darlegung meiner Gedanken zu diesem Thema aufzeigen.

    Jetzt eigenen Blog oder Spieletest bei GameStar veröffentlichen: Die besten Beiträge werden mit freier Spiele-Auswahl bei GOG.com für 60 Euro belohnt!


    Die ganze Sache begann bei mir mit einer Debatte über die Darstellung von Hakenkreuzen in einem Weltkriegs-Shooter. Damals habe ich das erste Mal erfahren, dass die Symbole aus der Veröffentlichung in Deutschland ausgetauscht, zensiert werden müssten – wer die unverfälschten Symbole im Spiel erleben möchte, müsse sich das Spiel importieren, etwa aus Österreich oder Großbritannien. Diese Sache fand ich höchst befremdlich, zumal in vielen Filmen kein Hehl aus der Benutzung der Nazi-Symbole gemacht wird. Allein die Begründung dieser Zensur lautete, dass es sich bei Videospielen um keine anerkannte Kunstform handele, wohingegen der Kunstanspruch bei Filmen im Allgemeinen unumstritten ist – oder anders: die Verwendung der Hakenkreuze müsse der Kunst dienen. Bei Filmen ist dies offensichtlich der Fall, bei Spielen nicht. Etwas gebessert hat sich diese Auffassung bereits 2014, als die USK verkündete, nun auch künstlerische Aspekte bei der Bewertung von Spielen zu berücksichtigen. Spiele können also nun durchaus Kunst sein, allerdings ist die Verwendung dieser Symbole noch immer ob ihrer Verfassungswidrigkeit grundsätzlich nicht zulässig. Nun also die Frage, die ich mir seitdem immer wieder stelle: Wieso sind Videospiele keine allgemein anerkannte Kunstform? Denn nur weil die USK diese Aspekte bei ihrer Bewertung nun berücksichtigt, ist dieser Gedanke noch weit entfernt von den Köpfen der Menschen. Und diese Frage wurde nur bestärkt bei vielen der durchaus kunstvollen Spiele, die ich in den letzten Jahren gespielt habe. Natürlich muss als ständiger Vergleich insbesondere der Film herhalten, denn mit Abstand am nächsten kommt die Erfahrung des Films dem Spielen eines Videospieles, auch wenn die zwei Medien zugegebenermaßen nicht in voller Gänze vergleichbar sind.

    Der größte Unterschied besteht ganz klar in der Interaktivität, die ein Spiel bietet: wo man beim Film zur totalen Handlungsunfähigkeit verurteilt ist, wo man nur dem fixen Ablauf des Geschehens folgen kann ohne auch nur die geringste individuelle Einflussnahme, da ist der Spieler in der Lage die Geschichte nach seinem eigenen Gutdünken zu lenken, gute und schlechte Entscheidungen zu treffen. Ein in der Immersion ungleich intensiveres Erlebnis entsteht beim Spielen, und damit einhergehend eine stärkere Identifikation und Empathie mit den Protagonisten. Die Herausforderungen, mit denen sich die Figuren konfrontiert sehen, werden durch die Steuerung vom Spieler gelöst und bewältigt, es ist der Erfolg nicht nur der Figuren, sondern beinahe viel mehr der des Spielers. Beim Film kann man den Figuren bei ihren Kämpfen nur zusehen, hoffen dass sie die richtigen Entscheidungen und Handlungen treffen – im Spiel trifft diese der Spieler und bekommt die Folgen oft unmittelbar zu spüren. Dabei muss es gar nicht um große Aktionen gehen, wie etwa „lasse ich diese Person leben oder nicht“ – es fängt schon bei ganz kleinen, im Spiel alltäglichen Problemen an; z. B. die Entscheidung in einem Rollenspiel, ob man in diesem Kampf noch wichtige, teure Tränke zur Heilung zu sich nimmt, oder diese besser aufhebt, weil man es durch die richtigen Kampfzüge auch ohne schaffen kann. Im Spiel ist jeder noch so kleine Fortschritt die alleinige Leistung des Spielers. Das Erfolgserlebnis beim Meistern eines „Dark Souls“- oder „Bloodborne“-Bosses nach stundenlangem Trainieren und Studieren der Kampfstrategie hat eine ganz besondere, süchtigmachende Wirkung. Die Spannung und die entstehenden Erfolgsgefühle bei einem Sieg sind wie die Auflösung eines dissonanten Akkordes – und dies ist mindestens genauso stark wie beim Sehen eines Films. Ohne Zweifel sind Filme ebenso in der Lage unglaubliche Atmosphären und traumähnliche Versunkenheit zu schaffen; ich liebe das Medium des Films sehr und schätze es für seine komplexe Einfachheit: man muss sich nur setzen und sehen, sich auf irgendein Thema einlassen. Die Atmosphäre in einem Thriller wie bspw. Stanley Kubricks Shining ist von Anfang bis Ende beklemmend, der Zuschauer ist gefesselt; er kann jedoch nicht aus, da der Film unermüdlich weiterläuft. Die Atmosphäre in einem Videospiel des entsprechenden Genres ist anders geartet. Denken wir uns eine Szene, in der der Protagonist am Anfang eines dunklen Flures in einem Haus steht, die Fenster an der linken Wand sind zugenagelt und zwischen den Brettern fällt dumpfes, staubiges Licht ein. Auf der rechten Seite auf halbem Wege führt der Flur in eine Abzweigung. Das Ziel ist es, einen Schlüssel für eine verschlossene Tür zu finden. Der Spieler kann sich jetzt entscheiden, ganz langsam, beinahe in Zeitlupe herumzuschleichen, in der Hoffnung, dass ihn etwaige Gegner nicht hören können; er kann die zugenagelten Fenster vorsichtig gebückt passieren, ohne dass ihn das Licht treffen würde; er kann vorsichtig um das Eck der Abzweigung lugen, und dort völlige Dunkelheit sehen. Oder er entscheidet sich für die brachiale Variante, läuft in vollem Tempo die Wege ab, untersucht so schnell wie möglich alle interaktionsfähigen Stellen um schnellstens weiter zu kommen, macht dabei aber einen Mordslärm und riskiert, die volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Schleichende wird höchstwahrscheinlich ein aufregenderes Spielerlebnis haben, denn es ist ja nicht mit dem Visuellen getan – er würde auch auf jedes noch so kleine Geräusch achten, das um ihn herum entsteht, etwa dumpfe Gesprächsfetzen durch die Wände, oder er würde versuchen die Richtung der Schritte zu deuten, die er von irgendwo hören kann. Der Spieler kann sich oft so viel Zeit lassen wie er will; mögliche Spielzüge abwägen, seine Gedanken sammeln. Wenn der Spieler in die Ausführung seines Spielzuges so viele Gedanken steckt, strengt er sich auch mehr an, er will keine Fehler machen – und dieser starke Ehrgeiz ist einer der ganz besonderen Reize von Videospielen.

    Ein weiterer Aspekt, der die Atmosphäre maßgeblich beeinflusst, ist die musikalische Untermalung. Ähnlich wie bei den Filmen, wo eigens komponierte orchestrale Soundtracks (z. B. „Herr der Ringe“) oder klassische Musikstücke (Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ in Kubricks „2001: A Space Odyssey“) verwendet werden, ist dieser Bereich bei Videospielen ebenso von essentieller Wichtigkeit; noch mehr sogar, es werden eigens komponierte Spielesoundtracks oftmals auf ganz individuelle Szenen des Spiels hin erarbeitet. Ich denke hier an die bedeutenden Soundtracks etwa von Koji Kondo („The Legend of Zelda“), Yasunori Mitsuda („Chrono Trigger“) oder natürlich Nobuo Uematsu („Final Fantasy“). Während diese Spielemusiken noch sehr stark aus dem Computer kamen, haben hier mittlerweile auch die orchestralen und klassischen Musikstücke Einzug gehalten, sodass Spiele-Soundtracks denen von Filmen wirklich in nichts mehr nachstehen. Man denke hier nur an das monumentale „Shadow of the Colossus“ (Kow Otani), die „The Witcher“ (Marcin Przybylowicz u. a.) und „The Elder Scrolls“ (Jeremy Soule u. a.) Reihen oder eines meiner persönlichen Favorites, „Okami“ (Masami Ueda u.a.). Toll zur Untermalung sind außerdem kleinere, zufällige Begegnungen mit Musik in Spielen, oft in Form von irgendwo herumstehenden Radios. Beispiele hierfür sind die vielen Radiosender in den „Grand Theft Auto“-Spielen, die nach Genres sortiert zu jedem Zeitpunkt gehört werden können. In einem Zeppelin in „Dishonored“ kann man aus einem Radio die Interpretation eines Chopin-Stückes hören, in „Fallout“ wird man mit den Klängen von altem Jazz/Blues der 1920er Jahre und Ragtime beschallt, während man in einem postnuklearen Ödland eines ehemaligen Amerikas über laufende Plattenspieler stolpert. Es sind solche Momente, die das Spielerlebnis perfektionieren und wirklich in die Erinnerung brennen; die Musik ist dazu unentbehrlich, genau wie ein Tarantino-Film ohne Musik nicht ansatzweise so gut wäre.

    An die Erwähnung des postnuklearen Ödlandes möchte ich anschließen – denn einige Genres greifen sehr gerne Szenarien auf, die einen wie auch immer gearteten dystopischen Ansatz verfolgen. Auf diese Weise werden oft alternative Gesellschaften dargestellt, und wie sich das Individuum in dieser Umgebung zurechtfinden kann. Durchaus philosophische Gedanken lassen sich in Spielen wie „Bioshock“, „Portal“ oder „The Stanley Parable“ erkennen. Natürlich sind nicht alle Spiele so tiefgründig, und selbst diese tiefgründigen Spiele kann man oberflächlich und zur reinen Unterhaltung spielen. Hier ist eine nahezu gleiche Teilung wie bei Filmen feststellbar – da gibt es die stumpfen, mit Effekten vollgeladenen Action-Blockbuster aus Hollywood (etwa die „Call of Duty“-Spiele, „Medal of Honor“), die seichten, leicht unterhaltsamen Komödien (Jump’n’Run Spiele wie „Jack and Dexter“ oder „Ratchet & Clank“), den erbarmungslosen wilden Westen („Red Dead Redemption“ ist eine einzige riesige Liebeserklärung an die guten alten Clint-Eastwood-Streifen), es gibt das komplette Sport- und Autosegment und natürlich die sehr kunstvoll gestalteten, seriösen Arthouse Filme (etwa „Gone Home“, „Journey“, „Everybody’s Gone to the Rapture“). In gewisser Weise kann man auch die Abgrenzung zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur ansetzen: ein „Bioshock Infinite“ ist wie das Pendant zu Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, „Gone Home“ vielleicht wie das zu dem „Fänger im Roggen“, während „Assassin’s Creed“ eher einem Dan Brown ähnelt. Wo wir jedoch schon im Bereich Literatur sind: sehr bemerkenswert ist die Masse und auch die Qualität der Texte in so manchem Videospiel. Allein in den „The Elder Scrolls“, „The Witcher“ oder „Dragon Age“ Spielen gibt es eine unbeschreiblich große Zahl an Büchern, Rezepten, Notizen, Briefen und Karten, die eine so reiche Fülle an Hintergrundinformationen zu den Spielwelten liefern – und das in einer Detailverliebtheit die einem Tolkien nicht so weit entfernt ist. Natürlich heißt „Buch“ hier nicht, dass ein solches den gleichen Umfang hat; meist liest man einem solchen nur einige wenige Minuten. Dennoch, es sind deren so viele – da werden andere Kalender, geschichtliche Ereignisse, lang verstorbene wichtige Persönlichkeiten, zerfallene Ruinen, Religionen und Götter, gesellschaftliche Bräuche, Tiere, Monster und Pflanzen erfunden, und alles greift ineinander wie sauber zusammengefügte Zahnräder. Geschrieben sind diese Texte zum größten Teil sogar in durchaus lesbarer Sprache, auch wenn die Zuordnung zur Literatur dann doch noch etwas entfernt sein dürfte.

    Ein nächster in der Tat kunstvoller Aspekt in Videospielen ist die grafische Gestaltung. Wo anfangs noch sehr grobpixelige Darstellungen aufgrund der technischen Voraussetzungen unumgänglich waren, hat der Detailgrad in aktuellen Spielen ein unfassbar hohes Maß erreicht, sodass bisweilen das Spiel von einem Film nicht zu unterscheiden ist. Wie oft streifte ich doch durch fremde, fantastische Welten, auf dem Weg zu irgendeinem Questziel, und musste plötzlich ganz unwillkürlich stehen bleiben, innehalten und die Umgebung bewundern! Die Winde streifen da über die Grashalme und wiegen sanft die Bäume, da fliegen Vögel wild zwitschernd umher, da erzeugt der flache Einfall der Sonnenstrahlen eine goldene Luft… Zu welch wunderschönen Szenerien die aktuelle Technik hier mittlerweile in der Lage ist, ist beinahe zum Hinknien. Einige große Spielehersteller gehen schon dazu über, berühmte Schauspieler für die virtuellen Figuren zu engagieren; so kann es sein, dass man sich beim Spielen den Gesichtern von Kevin Spacey oder Ellen Page gegenüber sieht. Allein, die grafische Darstellung muss auch gar nicht so realistisch sein, um ein gutes Spielerlebnis zu liefern. Viele meiner Lieblingsspiele sehen eher altbacken aus, überzeugen aber durch Story und Gameplay. Das bereits erwähnte „Chrono Trigger“, der JRPG-SNES Klassiker „Terranigma“, ältere Zelda Spiele oder Indie Titel wie „Thomas was Alone“ sind grafisch aus heutiger Sicht total minimalistisch, was dem Spielerlebnis aber keinerlei Abbruch tut. Das beste Beispiel dafür dürfte das wohl seit einigen Jahren überall gefeierte „Minecraft“ sein – ich könnte kein anderes Spiel nennen, das trotz dem technischen Fortschritt zur Zeit der Erscheinung so mies aussah, aber so extrem erfolgreich und langfristigen, geradezu nachhaltigen Einfluss hatte. Der Grund dafür ist die vollkommen grenzenlose Möglichkeit der kreativen Gestaltung einer ganzen Spielwelt, auch in Zusammenarbeit mit anderen Spielern; gewissermaßen ein gemeinschaftlicher, kreativer Schaffensprozess. Schöne gestalterische Anreize sind auch Darstellungen im comicähnlichen Cel-Shading Look, wie das ebenfalls schon erwähnte „Okami“, „Borderlands“ und die Episodenspiele von Telltale Games.

    Ein weiteres Augenmerk möchte ich auf die Spiele von kleinen Independent-Studios lenken. Diese erachte ich als außerordentlich wichtig, da sie immer wieder mutige Schritte unternehmen, um neue Spielkonzepte auszuprobieren oder liebevoll altbewährte Genres neu aufleben zu lassen. In „Proteus“ läuft man bspw. auf einer nahezu vollständig zufällig erzeugten Welt und kann als Spieler eigentlich auch nichts anderes unternehmen, als herumzulaufen und die Welt zu erkunden. „I am Setsuna“ ist eine Ode an klassische japanische Rollenspiele in moderner Umsetzung. Eine wichtige Entwicklung sind außerdem die stark story-basierten und beinahe filmischen Spiele, die ihren Ursprung wohl in „Fahrenheit“ (2005), „Heavy Rain“ (2010) oder „Gone Home“ (2014) haben. Diese hatten einen merkbar großen Einfluss auf weitere eher ruhige, interaktionsarme Spiele der letzten Jahre („Life is Strange“, „Dear Esther“, „The Vanishing of Ethan Carter“, „Ether One“ u. v. m.) – aber auch in dem First-Party Spiel „The Last of Us“ (2013) ist schon eine immense Konzentration auf die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen und starker Story zu sehen. Ein unfassbar wichtiges Independent-Spiel der letzten Zeit ist für mich etwa „Cuphead“ – komplett konsequent gehalten im alten Cartoon-Look der 1920er Jahre, mit ständigem „Bildwackeln“ und künstlichen Filmfehlern, dazu ein geniales, weil auf ironische Weise aberwitziges Artdesign und ein bombastischer, eigens komponierter Soundtrack, der alten Jazz wirklich hervorragend zu imitieren versucht. Solche Spiele sind unschätzbar wertvoll und schlicht und ergreifend ganz, ganz große Kunst.

    Längst schon ist die Videospielbranche außerdem ein Schauplatz des ungebrochenen Kommerzes. Die Produktion eines großen AAA-Titels kostet nicht selten dreistellige Millionenbeträge und beschäftigt hunderte Mitarbeiter – was ein Grund für die unbedingte Notwendigkeit der Aufrechterhaltung von mutigen, experimentellen Indie-Studio-Ideen ist. Denn durch die nicht von der Hand zu weisende Profitgier der großen Publisher wie EA oder Ubisoft findet in Form des jährlichen Erscheinens neuer Ableger von beliebten Spieleserien das statt, was am ehesten als stumpfe Stagnation bezeichnet werden kann. Immer gleiche, bewährte Spielkonzepte werden in ein anderes Setting verlagert, eine andere Zeit, es werden geringfügige kleine technische Änderungen als die riesige Revolution schlechthin vermarktet (man denke nur an den lächerlichen x-ten Aufwasch eines neuen FIFA), es werden wunderschöne Trailer gezeigt, und am Ende bekommt der Spieler ein Spiel geliefert, das ein vollkommen anderes zu sein scheint, das viel schlechter aussieht, Bugs hat und erst durch den Endnutzer gefühlt als Beta-Tester fertig reift. Mikrotransaktionen, Releases unfertiger Spiele, die bewusste Ankündigung eines Season Passes und DLCs noch vor Erscheinen des Hauptspieles sind zum Branchenstandard geworden. Es sind dies tatsächlich Missstände, die das Vermögen der künstlerischen Entfaltung behindern, da vor allem bei großen Publishern die fixen jährlichen Releases feststehen und ihnen bei längeren Entwicklungszyklen Profit entgeht. Was die Spieler jedoch tatsächlich wollen, ist ein gereiftes Spiel – kein Mensch fordert eine überhetzte Entwicklung, nur um schnellstmöglich den neuen Ableger der Lieblingsserie spielen zu können. Längere Entwicklungszyklen zugunsten eines gereiften, vor allem auch innovativen und langfristig unterstützten Spieles sind durchaus geduldet, wie man etwa an den unregelmäßigen, dafür aber immens erfolgreichen Releases der „GTA“-Teile sehen kann. Kleinere Studios stehen zu einem gewissen Ausmaß noch nicht in dieser Profitgier und entwickeln hauptsächlich aus Motiven der gut ausgearbeiteten Verwirklichung einer neuen Idee.

    Nun zurück zu meinen anfänglich benutzten Worten der Diskriminierung und Heuchelei. Bei Videospielen denken die meisten Leute, die mit dem Thema nichts am Hut haben, doch in erster Linie an „Killer-Spiele“, an MMORPGs wie „World of Warcraft“ und an das vollständige Vernachlässigen jeglicher Verpflichtungen im echten Leben, all das für sinnlose Zeitverschwendung. Nach meinen Ausführungen dürfte klar sein: Videospiele sind so viel mehr als nur das. Natürlich gibt es auch diese Genres, denn die Vorwürfe kommen nicht von irgendwo her. Es gibt unfassbar gewalttätige Spiele, deren Brutalität kaum zu beschreiben ist; es gibt auch unfassbar süchtig machende Spiele, die tatsächlich viele Menschen ihr echtes Leben vernachlässigen lassen. Dies können Spiele wie etwa „Counter Strike“ oder „Dota“ schon sein – aber man muss auch bedenken, dass diese Spiele wirklich von enormer Komplexität sind und dem Spieler wahnwitzige Teamarbeit und strategisches Denken abverlangen und nicht einfach nur blöd und aggressiv machen. Es ist beispielsweise eine Illusion vollkommen pauschalisiert zu denken, dass Spieler von Ego-Shootern gern auch echte Menschen abschießen möchten und ihre Spielwelt als ihre Realität wahrnehmen. Beim Spielen von Shootern ist man auf einer viel abstrakteren gedanklichen Ebene, das virtuelle Abschießen von anderen Spielern ist nichts als eine Notwendigkeit zum Erlangen des Sieges. Etwa so wie: Schiebe den gelben Block A zum roten Block B (nur freilich sehr viel komplexer im tatsächlichen Spiel). Solcherart ist es nicht unterschiedlich zu anderen kompetitiven Spielen, die gänzlich ohne Gewalt auskommen. Dennoch ist dies nur eine Unterkategorie des so viel größeren Ganzen, genauso, wie es auch unfassbar brutale Filme und auch Serien gibt, die so süchtig machen, dass man unbedingt noch eine Folge sehen muss, sodass man auch hier Gefahr läuft, etwa soziale Kontakte zu vernachlässigen. In so einigen Filmen werden Dinge gezeigt, die meines Erachtens nichts mit Kunst zu tun haben (man denke nur an jeden Adam Sandler Film außer „Punch-Drunk Love“). Oder anders: Film im Allgemeinen ist Kunst, auch wenn nicht jeder Film im Einzelnen Kunst ist. Bei Spielen entfällt dieser erste große Filter, obwohl viele Spiele einen künstlerischen Anspruch rechtfertigen können. Die Diskriminierung besteht also darin, dass nur jener negative Teil gesehen und auch bewusst wahrgenommen wird, der den Leuten (etwa durch die Medien) bekannt ist; und auf Basis dessen wird dieser negative Eindruck auf die Gesamtheit aller Spiele und aller Spieler pauschal extrapoliert. Es ist in gewissem Maße also Diskriminierung aus Unwissenheit, oder aus Ignoranz. Das heuchlerische an dieser Stelle besteht doch darin, dass dieselben Leute, die sich über „Killer-Spiele“ und ähnliches echauffieren, am Abend gemütlich „Apocalypse Now“, „Rambo“ oder auch nur „James Bond“ ansehen und die dort gezeigte Gewalt für das alltäglichste der Welt, oder zumindest für eine wie auch immer besser geartete Gewalt als die in jenen „Killer-Spielen“ halten, von denen sie noch nie eines selbst gesehen, geschweige denn gespielt haben.

    Zum Schluss noch die folgende Bemerkung, die man nicht vergessen darf: Spiele sind verdammt unterhaltsam. Sollten sie das an irgendeiner Stelle nicht mehr sein, sondern in ernsthafter Erbitterung und Frust enden (ich blicke auf euch, MMOs), läuft ernsthaft etwas falsch. Zuletzt also die Frage, die sich ja unweigerlich stellt: Wieso sollen Videospiele, die sowohl in der Musik, in der Immersion auf den Konsumenten, in der gedanklichen Tiefe, der Philosophie den Filmen in nichts nachstehen (höchstens vielleicht in den vermittelten Bildern), wieso sollen Videospiele also keine Kunst sein? Spiele können bilden und Empathie vermitteln, ähnlich wie das Lesen, oder wie Filme es können. Für mich gibt es keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage, sodass nichts übrig bleibt als die laute und bestimmte Forderung nach der allgemeinen Anerkennung von Spielen als Kunstform. Ja, und nochmals ja! Videospiele sind Kunst!





    -------

    Gerade im Hinblick auf die Veröffentlichung von Wolfenstein 2 ist es vielleicht eine schöne Gelegenheit um diese Diskussion nochmal anzustoßen. Fühlt euch frei euch rege auszutauschen. Den Blogbeitrag findet ihr auch auf meinem "normalen" Blog, auf dem ich sonst größtenteils über Literatur schreibe. Neugierige sind stets willkommen.

Kommentare

Um einen Kommentar zu schreiben, melde dich einfach an und werde Mitglied!
  1. Yeager
    Mal ein Vergleich:

    - Das Schweigen der Lämmer als Buch
    - American Psycho als Film
    - Hatred als Spiel

    In allein drei Fällen geht es um Psychopathen. In allen drei Fällen wird mir sein Inneres und sein "Äusseres" gezeigt, also auch seine Taten. Im Fall des Spieles bin ich aber er und stumpfe nach einer Weile ab. Da gibt es also erhebliche Unterschiede.

    Kunst muss nicht gefallen, sie muss keinen Spaß machen, sie muss nicht bei Laune halten, sie muss keinen Sinn ergeben. Ein Spiel schon. Die GESCHICHTE des Spiels vielleicht nicht - aber das Spiel selbst (Mechanik) schon. Ist Mensch ärgere dich nicht Kunst? Oder Sackhüpfen? Ist Poker Kunst - oder Roulette? Oder Billard, Darts, Tic Tac Toe? Es sind allesamt Spiele, wie Computerspiele auch. Sind sie Kunst?

    Das Schaffen-Argument:
    Wäre also ein "bloßes" Schach an sich KEINE Kunst - aber wenn ich seine Figuren als Politiker darstellte und sie bei jedem Zug etwas kommentieren ließe, dann schon (?). Was GENAU ist also Kunst? Die Darstellung, die Vermittlung. Und da sind wir wieder am Anfang, bei der Spielmechanik. Ihr Zweck ist weder Darstellung, noch Vermittlung. Sie ist ihr eigener Zweck, ein Regelwerk, das wenn es vom Spieler umgesetzt wird dafür belohnt, wenn nicht, dann bestraft. So zerstört das Spiel in einem Spiel auch immer wieder z.B. emotionale Momente. Denn es muss ja weiter gehen.

    Es sind nicht Politiker oder Richter, die der Kunst-Ehrung für Spiele im Weg stehen. Sie selbst stehen sich im Weg. Ich habe z.B. mal Kapitel 1 von Fallout 3 einer befreundeten Künstlerin (die aber nichts zockt) gezeigt. Sie war begeistert und empfand es völlig aufgeregt als Kunst. Spätestens ab Kapitel 3, dem normalen Spiel also, war sie enttäuscht. Als das Spiel also zum Spiel wurde.

    "The Stanley Parable" ist zweifelsohne Kunst. Nicht umsonst fangen die meisten Rezensionen dazu mit dem Satz an: "Das ist eigentlich gar kein Spiel."

    Man muss kein Spielehasser oder Ahnungsloser sein, um Spielen den Kunst-Aspekt zu verwehren oder zumindest anzuzweifeln. Ich bin ein Spiele-Narr seit meiner Kindheit. Die Anzahl der Spiele, die ich zockte oder wenigstens gesehen oder was drüber gelesen habe, kann ich nicht zählen. Aber einfach "nur" weil sie etwas Kreatives sind, etwas, das kreativ geschaffen wurde, würde ich ihnen nicht attestieren Kunst zu sein.
  2. Yeager
    Das ist okay :)
  3. Scario
    Ich fürchte, man stimmt nur nicht mit dir überein. :) Nichts für ungut.
      1 Person gefällt das.
  4. Yeager
    Manchmal sind sie sogar wirklich darauf ausgelegt, nicht zuletzt durch Mods. Diese können das Spielgefühl und die Rezeption des Ganzen so stark verändern (Total Conversion), dass du tatsächlich ein anderes Spiel spielst oder sich Inhalte nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich verdreht haben. In Fallout 3 war es z.B. im Sinne des Erfinders letzlich gegen Sklavenhalter antreten zu müssen. Ja, du hast gewisse Freiheiten, kannst dich verbünden, kannst dich auf ihre Seite schlagen. Aber durch bestimmte Mods konntest du dir deinen eigenen Sklaven-Harem zusammen schustern - und plopp - war das Spielgefühl letztlich verdreht.

    All diese Möglichkeiten liefern dir weder Bücher, noch Filme. Bei Büchern gab es mal den Versuch, die Pen & Paper Varianten (Lesen Sie auf Seite 66, wenn Sie wollen, dass der Protagonist heiratet, wenn nicht: Auf Seite 72) - aber sie konnten sich nie durchsetzen, weil dieses Lesegefühl nicht dem Modus Operandi entsprach, in den sich das Hirn beim Lesen automatisch begab. Es wollte eine Geschichte lesen, die es zu etwas Eigenem im Kopf wiederspiegelt - aber sie auf diese Weise sozusagen on the fly selbst zu SCHREIBEN widersprach dem Gefühl. Bei Filmen geschah mit Interaktiven Filmen etwas ganz Ähnliches. Mitte der 90er Jahre verheissungsvoll als DAS Zwischending zwischen Game und Film dargestellt, verloren sie noch im selben Jahrzehnt jeglichen Reiz und alsbald wurde "Interaktiver Film" sogar zu einer Beleidigung. Bei Spielen hingegen passiert das fortlaufend - und wir merken es meist nicht.

    Berücksichtigt man dies alles, wird schnell klar, warum z.B. Hakenkreuze verboten sind. Es wird schnell klar, dass Leute Amok laufen können. Nicht WEGEN des Spiels, aber MIT HILFE dessen. Es war, was es sein wollte: Ein Medium. Ein Mittel zum Zweck. Nur dass wir meinen, dass der Zweck nur in der Unterhaltung oder einer Wow-Ist-Das-Cool Darstellung pseudo-künstlerischer Art statt fand. In Wirklichkeit ist es unser Kopf, der daraus macht, was er daraus machen will - viel stärker, als in anderen Medien und auf einer anderen, doppelbödigen Ebene. Also mehr, als nur ein Medium: Ein Katalysator! Eine Möglichkeit etwas zu realisieren, was weder das Spielsystem, noch die Narration wirklich angedacht hatten. Eine Möglichkeit Dinge gefühlt umzusetzen, die schon da waren: In uns. Man wird nicht zum Amokläufer, weil man einen schlechten Tag in Counter Strike erlebte. Man wird es, weil man es schon war, weil sich schwerwiegende Effekte schon im eigenen Selbst ansammelten, über Jahre hinweg - und diese mittels des Mediums katalysiert, fokussiert und letztlich in einer eigenen, automatischen Interpretation realisiert wurden. Von dort bis zur Umsetzung in die Tat ist der Weg unterschiedlich lang, aber auf jeden Fall dürfte er enteder vom Affekt begleitet, bzw. eingeleitet sein - oder ist von vornherein schon geebnet gewesen, wenn man, vielleicht ohne es zu wissen, ein ernsthaftes Defizit im Bereich der Empathie besaß - also psychopathische Tendenzen aufwies. Spiele sind nicht schuld, genauso wenig wie es Bücher oder Filme wären. Dennoch sind sie anders. Und ob sie Kunst sind: Schwierig. Wirklich schwierig.

    Insofern ist das alles weitaus komplizierter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
  5. Yeager
    Allerdings darf man nicht vergessen zu differenzieren:
    Deswegen sind die Spiele längst nicht "schuld" daran, dass jemand Amok lief. Das können sie gar nicht, denn dann hätten sie bei jedem so wirken müssen, was aber nicht der Fall war.
    Trotzdem ist die Wirkung nicht dieselbe, wie beim Buch oder Film. Das Element des Interaktiven ist es aber nicht, sondern der parallel laufende Prozess, der Abstraktion ermöglicht - egal, ob man sich dessen gewahr wird, oder nicht.

    In Spielen wird durch diese zusätzliche Verarbeitungsebene UND durch den Umstand der Interaktion nicht nur eine hohe Abstraktionsmöglichkeit, sondern auch Transformation erreicht. Du kannst also unabhängig von der Intention des Entwicklers eine Sache völlig anders, völlig eigen wahrnehmen. Viel stärker, viel abweichender, als dies bei Büchern oder Filmen der Fall ist, die du passiv entgegen nimmst und keine sekundäre Ebene hast.

    Du spielst in deiner eigenen Spielwelt im Geiste, ob es dir bewusst wird oder nicht. Das Spiel selbst schafft dir nur einen äusseren Rahmen dafür. Besonders deutlich wird das in Spielen, die sowieso auf diesen Effekt ausgelegt sind, nämlich Open World. Aber auch in endlosen Spielen, die also von Hause aus nie enden sollten, nämlich MMOs, ist ein ähnlicher Effekt zugange. Ja, du bist vermeintlich die Figur, die du da spielst. Aber eigentlich nicht. Eigentlich bist du das, was du damit assoziierst, du erschaffst dir eine eigene Figur. Die tatsächliche dient nur als reflektierender Anker. Manchmal nicht mal das. Frag mal in einem x-beliebigen MMO wie viele Männer Frauen spielen. Es sind sehr viele. Ich behaupte, dass aber nur die wenigsten von ihnen sich wirklich als Frau fühlen. Die meisten wollen was "fürs Auge". Trotzdem identifizieren sie sich auf einer gewissen Ebene mit der Figur. Es ist also Sexuelles in einer Abstraktion INNERHALB einer Abstraktion! Wenn das mal nicht komplex ist! Analog dazu Frauen, die Geralt in Witcher spielen, nur dass sie dort keine Wahl hatten.

    Der Effekt ist ein anderer, als vergleichbare bei Büchern und Spielen. Er ist damit verwandt, stellt aber etwas Eigenständiges dar. In den meisten Fällen nehmen wir diese psychologischen Rückkopplungen zwischen dem Medium, uns selbst und noch einmal innerhalb uns selbst nicht wahr. Denn genau das wird durch die Mechanik verhindert. So, wie du fast automatisch ein Fahrrad oder Auto fährst, ohne darüber nach zu denken, was genau du da tust, spielen wir - wenn wir Spieler sind. Wenn wir Gelegenheitsspieler oder Neuling sind nicht. Dann bedarf es der Konzentration, dann wird die mechanische Ebene noch wahr genommen - und stört meist noch. Man muss sich an sie gewöhnen. Sobald aber die Gewöhnung statt fand, verlieren wir die Wahrnehmung dafür.

    So, wie ein Autofahrer in Rage geraten kann durch das Autofahren selbst (das Kraft assoziierende Geräusch des Motors, der stressige Verkehr, der Sonntagsfahrer, der vor einem kriecht, die rote Ampel wieder mal, das schnelle Vorwärtskommen, das Achten müssen auf alles und jeden usw.) ohne sich darüber im Klaren zu sein warum eigentlich, so gibt es Vergleichbares auch in Spielen. In Filmen und sogar Büchern auch, aber anders, auf einer anderen und konzentrierten Ebene. Sozusagen ohne doppelten Boden. Spiele sind Film-Bücher mit doppeltem Boden. Und sie können alles verdrehen.
  6. Yeager
    Ich glaube, ich werde nicht verstanden :)

    Gemeint ist nicht Überforderung, sondern subliminale psychologische Prozesse - unabhängig also von ihrer Rezeption oder Reflektion. Wenn ich ein (hypothetisches) Mass Effect Buch lesen würde, wäre ich sowohl in meinem bewussten Selbst, als auch unterschwellig mit den nieder geschriebenen und sich in meinem Kopf zu einem Eigenleben in meiner Vorstellung samt narrativ-emotionalen Wirkungen entfalteten Erlebnis beschäftigt. Das Umblättern wäre ein bedeutungsloser mechanischer Prozess. Wenn ich einen (hypothetischen) Mass Effect Film schaute, passierten vergleichbare Prozesse, allerdings bereits in abgemilderter Form, da meiner Phantasie deutlich weniger Spielraum zur Verfügung stünde, als beim Buch. Trotzdem wäre ich "im Film". Einen sekundären Prozess wie das Umblättern gäbe es hierbei gar nicht, es sei denn, man würde das Sitzen im Kino und schauen als einen eigenständigen wahrnehmen.

    Wenn ich aber Mass Effect SPIELE, dann gibt es einen parallel laufenden Prozess dazu. Die eigentliche Spielmechanik. Bewusste, halbbewusste oder unterschwellig quasi-automatisch ablaufende Sub-Prozesse: Ducken, Laufen, Nachladen, Dort hin, Nein! Dort ist besser. Da hin. Der Gegner zuerst. Welcher Skill? Welche Waffe? Steuere ich jemanden, gebe ich Kommandos an Begleiter? Mache ich es selbst? Scheisse, ich schaffe es nicht. Mist, Item verbraucht, wieviele habe ich davon noch? Boah, wie unfair ist das Level? Das hätten sie besser machen können! Etc. etc. etc.

    <- Und DIESER parallel laufende Prozess der Mechanik ist in seiner Gesamtauswirkung KEIN geringfügiger im Vergleich zum Umblättern beim Buch oder Still Sitzen bleiben beim Film - oder Stehen und Gucken auf ein Bild oder eine Skulptur. Es geht dabei aber nicht um die Interaktivität, denn die wäre bei einer experimentellen Skulptur zum Beispiel auch denkbar. Es geht darum, dass hier eine Überlagerung zweier, voneinander de fakto unabhängiger psychologischer Verarbeitungsprozesse statt findet: Die Mass Effect STORY, samt ihrem mal mehr, mal weniger immersiven Storytelling - und die eigentliche Game-Mechanik, die völlig austauschbar ist: Ein Deckungs-Shooter mit einer Prise RPG. Aber auch, wenn sie einzigartig oder großartig wäre: Es ist ein separater Prozess, komplett egal, ob ich ihn als solchen wahrnehme.

    Entsprechend anders wirkt psychologisch z.B. die Darstellung von Hakenkreuzen: Im Falle des Buches und des Filmes wird sie im einzigen Prozess zentriert. Ich kann mich ihrer nicht entziehen, bin zur Verarbeitung gezwungen. Im Falle des Spiels sieht es anders aus - und entsprechend kann die Wirkung anders ausfallen. Da bin ich zur Verarbeitung nicht gezwungen, da wird das Ganze durch den Mechanik-Prozess überlagert. Und am Ende kann die Wirkung sogar so sein, dass es für mich einfach nur ein Symbol unter Vielen ist. Gestern war es das Alien bei Doom, heute ist es die Nazi-Flagge, morgen wird es was anderes sein.

    Und das ist nicht nur ein klarer Unterschied, sondern auch ein folgeschwerer. Denn die Abstraktionsfähigkeit des menschlichen Gehirns würde mir sogar etwas ermöglichen, was mir im Falle des Buches und des Filmes mindestens sehr schwer fiele, wenn nicht gar unmöglich: Die Verdrehung der Perspektive. ICH wäre dann evtl. der Nazi, in meiner "Wohlfühl"-Welt. Das dürfte der Grund sein, warum Hakenkreuze in Büchern und Filmen erlaubt sind, in Spielen aber nicht. Unterschätzt nicht psychologische Wirkungen in ihrer Tiefe.

    Die allerwenigsten Shooter lassen einen einen Psychopathen spielen. In den meisten Fällen ist man der "Gute". Dennoch werden immer wieder Games bei nachweislichen Psychopathen, die Amok gelaufen sind gefunden. Mit linearer Logik ist das nicht erklärbar. Sie hätten doch "spüren" müssen, dass ihr Verhalten amoralisch ist! Sie spielten doch den "Guten", jagten doch die "Bösen", wieso verdrehten sie es in der Realität? Genau deswegen. Weil es etwas ganz Anderes ist.
  7. Scario
    Gerade viele storybasierte Spiele sind so kinderleicht zu bedienen das wirklich nur extreme Spielanfänger mit der Interaktion so überfordert sein könnten das man es als Ablenkung vom Gezeigten interpretieren könnte. Bei den meisten Spielern läuft die Spielerbewegung ja komplett automatisch ab(kinesthetic projection)

    Mechaniken an sich können auch zum Storytelling beitragen. In Metal Gear Solid 2 wird dem Protagonisten immer mehr die Kontrolle über sein Leben entrissen und der Spieler bekommt das am Ende zu spüren in dem viele Geräte nicht funktionieren, man wird von seiner Ausrüstung getrennt, und kann manche Bewegungen nicht mehr ausführen. Ausserdem niest der Protagonist komplett zufällig und kann nahe Wachen damit alarmieren. Die Kontrolle wird dem Spieler hier selbst immer mehr entrissen. Ob das nun Absicht war oder nicht lässt sich hier genauso diskutieren wie über den Sinn und Bedeutung von Gemälden. Nicht jeder bemerkt es - und das muss auch nicht so sein.
  8. Yeager
    Ich meinte nicht Ablenkung vom Alltag, sondern Ablenkung vom Gezeigten. Wenn ich ein Buch lese, dann bin ich in der Geschichte drin. Wenn ich einen Film schaue, auch. Wenn ich aber ein Spiel spiele, kommt es mir nur so vor, als wäre ich in der Geschichte drin. In Wirklichkeit bediene ich "nur" die Mechanik des Spiels - und bekomme nebenher die Geschichte vermittelt. Mir fällt dabei nicht auf, dass ich mich gar nicht mit dem Sachverhalt selbst auseinander setze - denn ich werde von ihm durch die Mechanik abgelenkt. Ich muss sie bedienen, mich den Regeln anpassen, andernfalls kann ich es nicht spielen.
  9. Yeager
    2 von 2

    Ich hatte mal einen Blog zu "deinem" Thema:

    https://goo.gl/MjkeWt

    Todes-Tourismus.

    Dabei habe ich versucht aufzuzeigen, dass manchmal ein Spiel Kunst sein kann, das sich das niemals vorgenommen hat und von dem man es niemals erwartet hätte - während andere, die genau das sein wollen, es eben nicht sind. Und wie wahnsinnig schwer es ist, das gesamte Thema.

    Filme, Bilder, Bücher - das sind allesamt Themen für sich. Man könnte Jahre darüber schreiben. Aber wenn man es nur auf Spiele eingrenzt, ist der größte problematische Faktor in meinen Augen gar nicht mal die Interaktivität, sondern etwas anderes:

    Spiele waren schon immer in ihrem eigenen Selbstverständnis im wahrsten Sinne des Wortes verspielt. Sie sollten und wollten Spaß machen, beschäftigen, ablenken. Ein Film kann auch Spaß machen - aber lenkt er ab? Ein Buch kann auch beschäftigen - aber lenkt es ab?
    ABLENKUNG - das ist die große Hürde - und nicht Interaktivität!

    Und da ist auch wieder der Bogen zu den Hakenkreuzen:
    Wenn ein Film diese darstellt, lenkt er nicht von ihnen, ihrer Bedeutung, ihrer Geschichte ab. Selbst, wenn er sie ins Absurde zieht, wie bei diesem trashigen Nazis auf dem Mond Film (Namen vergessen), passiert das nicht oder war zumindest nicht so beabsichtigt.

    Bei Spielen sieht das anders aus. Spiele sind eigentlich nur ein Regelwerk der Mechanik mit einem Skin drüber. Das war's. Ob und was für eine Geschichte sie haben, ob und welche Emotionen sie erzeugen, ob und wieviel Reflektion im Spieler sie auslösen - das steht bei ihnen immer hinten an. Weil die Mechanik das ist, wovon sie leben. Nur deswegen unterscheiden sie sich von Büchern und Filmen, denn es wären durchaus Spiele denkbar, die so nah an den anderen Medien liegen, dass es schwer fiele da eine Grenze zu ziehen. Tut es aber nicht, denn da ist die Mechanik. Sie wird zum Selbstläufer, sie trägt sich selbst - und sie lenkt ab. DAS ist der springende Punkt, das ist der große Unterschied.

    Die Möglichkeit einer bewussten Auseinandersetzung mit einem Medium dürfte einer der zentralsten Faktoren sein, die Kunst vielleicht nicht definieren, aber zumindest ausmachen. Die Fähigkeit und / oder Absicht darüber nachdenken zu können, zu wollen, diesen Prozess zu ermöglichen. Spiele wollen das nicht, schon gar nicht in erster Linie. Und wenn sie es doch mal wollen, dann floppen sie meist, wie z.B. Spec Ops - The Line.

    Es ist und bleibt ein schwieriges Thema und wird niemals mit einer "SIND SIE!" oder "SIND SIE NICHT!" - Aussage einfach so beendet sein können. Das glaube ich nicht. Und wenn, dann spricht mehr dagegen, als dafür - besagter Mechanikfokus eben - den Spiele nicht ablegen KÖNNEN, selbst, wenn sie es wollten. Denn dann wären sie keine Spiele mehr - sondern Variationen von Büchern, Bildern und Filmen. Ignoriert der Rezipient hingegen diesen Aspekt, dann müsste er auch Bohrmaschinen zusprechen, dass sie Kunst seien. Denn auch diese haben einen Fokus auf ihrer Mechanik, auch deren Benutzung kann unterhalten und Emotionen können sie auch auslösen, wenn man sich z.B. in den Daumen bohrt. Und da hast du dann das ganze Ausmaß des Dilemmas vor Augen.

    In meinen Augen stehen Spiele in einer ewigen Grauzone zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Sie stehen allerdings hartnäckig darin, wodurch sie eine Chance haben das irgendwann zur eigenen Domäne zu ernennen, mit einem eigenen Namen. Das wäre einzigartig in der Geschichte.

    Dass jenseits dieser philosophischen Betrachtungen jede Menge Fehl- und sogar zielgerichtete Missverständnisse gesellschaftlicher Art stehen, von dir besagte und angeprangerte Heuchelei und Diskriminierung (ich setzte noch Doppelmoral als Aspekt dazu) - das steht wiederum auf einem ganz anderen Blatt.
      2 Person(en) gefällt das.
  10. Yeager
    1 von 2

    Und mir sagt man nach, ich würde Walls of Text schreiben :)

    Ich habe dir ein Like dagelassen, obwohl ich keineswegs mit dir übereinstimme. D.h. nicht, dass ich eine invertierte Meinung habe, sondern eine zwiegespaltene.

    Weisst du, was Picasso mal zum Thema Kunst gesagt haben soll?
    "Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich das Wissen für mich behalten."

    Ich glaube, er hatte Recht.
    Ich glaube, es ist wirklich sehr, sehr schwer Kunst in irgendeiner Form zu definieren, vielleicht sogar unmöglich - und wird das auch immer bleiben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es nicht selten ein Anliegen der Kunst ist, genau diesem kategorisierendem "So, nun weiß ich's, pack's in ne Schublade und brauch nicht mehr drüber nach zu denken!" unbedingt aus dem Weg gehen will - aus gutem Grund.

    Deswegen sehe ich es ganz anders, mir reicht es nicht, dass da ein paar Sachen "künstlerisch" dargestellt werden oder zum Nachdenken anregen sollen oder einfach nur nicht der Norm entsprechen - oder einfach nur besonders gut aussehen. Wenn man die "TopDown"-Perspektive heran zieht. Zieht man die "BottomUp" heran, dann ist alles, was der Mensch erschafft Kunst. Dann kann ich wie einst Beuys Butter in die Wandecke schmieren und es als Kunst titulieren - ich meine das ohne jeden Sarkasmus, völlig ernst! Dann stehen ein "The Stanley Parable" auf Augenhöhe in Sachen Kunst mit einem World of Warcraft, zusammen mit Tetris, zusammen mit Moorhuhn und Command & Conquer. Dann wird es noch schwieriger.
      1 Person gefällt das.
Top