Das Erzählen von Geschichten und die Immersion

Von Thore · 3. Mai 2021 ·
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  1. Ich mag fiktionale Geschichten.
    Wenn der Autor, der Regisseur, der Direktor, oder von mir aus auch der Großvater am Lagerfeuer, es richtig macht, dann taucht man in die fiktionalen Welten regelrecht ein. Geschichten sind eine Möglichkeit, um die reale Welt anhand phantastischer Ereignissen zu erklären. Sie bringen einen gerne zum Lachen, immer zum Nachdenken, oftmals zum Diskutieren und manchmal zum Weinen. Man kann für eine kurze Zeit den Alltag vergessen und fühlt mit den Figuren der Erzählung. Man teilt ihren Schmerz und ihre Hoffnungen. Man freut sich mit ihnen über bezwungene Hindernisse und verzweifelt an ihren Niederlagen. Das nennt sich Immersion. Der Effekt, wenn man die reale Welt um sich herum vergisst und die fiktive Welt für kurze Zeit zur Realität wird.

    Dabei ist es nicht wichtig, ob die fiktive Welt denselben Gesetzmäßigkeiten folgt, wie unsere Realität. Wichtig ist nur, dass sie den Regeln folgt, die sie sich selbst setzt. Als Beispiel nehmen wir einmal die Welt von Geralt, dem Hexer. In dieser Welt gab es ein Ereignis, was die Verbindung der Sphären („Conjunction of the spheres“) genannt wird. Durch dieses Ereignis wurde die Magie in die Welt des Hexers gespült, zusammen mit hungrigen Monstern und auch den Menschen, die sich direkt die Herrschaft über diese Welt unter den Nagel gerissen haben. Abgesehen von besagten Monstern, dem permanenten Rassismus gegen die ursprünglichen Bewohnern der Welt (Elfen und Zwerge) und den oftmals rücksichtlos intriganten Regenten, ist es eine idyllische europäisch-mittelalterliche Fantasywelt, die hervorragend für den nächsten Urlaub geeignet wäre.
    Man stelle sich vor: Geralt reitet in dieser mittelalterlichen Welt entspannt auf einem Feldweg der nächsten Taverne entgegen. Der Wind wiegt das Korn auf einem Feld, irgendwo zwitschern Vögel in den Bäumen und in der Ferne heult leise ein Wolf. Der Hexer legt den Kopf schief, irgendwas stimmt nicht. Krachend bricht ein Monster Truck direkt aus Mad Max aus dem Unterholz. Laute Metal-Musik schallt Geralt entgegen und ein weiß bemalter Warboy brüllt ihm auf der Motorhaube hockend, mit aufgerissen Augen und einen Molotovcocktail schwenkend, einen Kriegsschrei entgegen. (Man beachte die fünf Minuten production value im Bild)
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    Ich vermute nicht nur Geralt wäre verwirrt. Die Welt des Hexers beinhaltet weder Monster Trucks noch Warboys. Die internen Regeln wurden gebrochen. Die Frage "Wo kommt dieser Monster Truck her?" drängt sich sofort in das Unterbewusstsein des Spielers und die Immersion bekommt Risse, wenn man anfängt, solche Fragen zu stellen.

    In der Welt des Hexers hat die Ziehtochter von Geralt, Ciri, die Fähigkeit zwischen den Dimensionen zu reisen. Da man als Spieler unterbewusst die Immersion zurückhaben möchte, fängt man an, sich Erklärungen für den Monster Truck zu überlegen. So würde man die Anwesenheit dessen vermutlich durch eine ähnliche Fähigkeit des Reisens zu erklären versuchen. Das Problem ist nicht, dass es unmöglich wäre, einen Monster Truck aus Mad Max in der Mittelalterlichen Welt des Hexers zu haben, sondern das es keine interne Regel gibt, die dessen Anwesenheit unmittelbar erklärt. Das Problem ist, dass der Spieler selbst anfangen muss, die Geschichte und die Regeln für den Autor zu schreiben.

    Wenn das passiert, dann ist das erstmal kein Weltuntergang. Unterbewusst bauen wir als Zuschauer für kleine Unstimmigkeiten ständig Brücken für unsere Immersion. Meistens bemerkt man das überhaupt nicht und ich würde behaupten, keine einzige fiktive Welt ist hundertprozentig in sich stimmig, auch wenn ich das natürlich nicht belegen kann.
    Immersion ist auch immer subjektiv. So ist bspw. alleine die Vorstellung von Tolkiens Mittelerde als Konzept bereits lächerlich für einige Leser. Orks, Elben, Riesenadler und Zwerge verursachen bei ihnen inhärent so viele Fragen, dass keine Immersion entstehen kann. Andere Leser wiederum können sich sofort in diese Welt hineinversetzen. Natürlich gibt es Hobbits, die den ganzen Tag nur Pfeife rauchen und Bier trinken. Warum sollte es dieses Völkchen nicht geben können?

    Problematisch wird es allerdings dann, wenn man zu viele dieser »Immersionsbrücken« selbst bauen muss, um sich diese Fragen zu beantworten. Als Beispiel führe ich dabei einmal Mass Effect 3 aus 2012 an. Es waren so viele neue Elemente in den letzten Minuten vor dem Finale eingeführt worden und so viele Fragen am Ende offengelassen, dass die Immersion und die narrative Kohärenz der Geschichte für viele Spieler nicht mehr vorhanden waren. Der resultierende „Shitstorm“ entstand dabei nicht aus einem Vakuum heraus, aus Spaß oder weil die Leute nichts Besseres zu tun hatten. Er entstand, weil viele Spieler im entscheidenden Moment aus ihrer Immersion gerissen worden sind und die potentiell über hundert Stunden dauernde Geschichte für sie keinen Abschluss fand. Einige Beispiele: Warum und wie kann die Maschine am Ende quasi gottgleiche Kräfte haben? Warum flüchtet mein Pilot und wo landen die Charaktere, mit denen ich hundert Stunden verbracht habe? Ich selbst dachte beim Abspann damals verwirrt, dass ich irgendwas falsch gemacht hätte und deswegen irgendwie das Spiel "verloren" hätte.
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    Stichwort Charaktere: Wichtig für Geschichten sind immer die Charaktere. Es ist in fiktiven Geschichten nicht spannend oder fesselnd nur über Ereignisse zu lesen. Man muss sich als Zuschauer in die Situationen hineinversetzen können, um das Gezeigte nachempfinden zu können. Zu sehen, wie ein Königreich ein anderes überfällt, nur um dann von einem Dritten überrannt zu werden, ist an sich nicht spannend. Spannend wird dann, wenn man der Geschichte des einfachen Soldaten folgt, der versucht durch die schwierigen Zeiten zu kommen. Oder der Königin, die darum kämpft, dass ihr Land nicht von dem Tyrannen nebenan unterjocht wird.

    Da ich seit meinem siebten Lebensjahr Videospiele spiele und mich diese Dinge gerne und oft beschäftigen, habe ich mich entschlossen, darüber zu schreiben, wie ich das Geschichtenerzählen in Videospielen erlebe. Was für Höhen und Tiefen es für mich gab und welche Spiele mir besonders im Gedächtnis geblieben sind. Das wird ein persönlicher Blog und damit auch subjektiver Blog. Ich könnte mir vorstellen, dass ich oftmals nicht unbedingt die Meinung des Mainstreams treffe, aber falls das unerwartet irgendwie auf Interesse stößt, dann freu ich mich natürlich über konstruktive Diskussionen.

    Über den Autor

    Thore
    Jahrgang 85. Ich spiele Videospiele seit ich 7 oder 8 Jahre alt war. Ich bin schon immer von gut erzählten Geschichten fasziniert gewesen.
    Misie Gaming gefällt das.

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