Jenseits des Release-Gefälles

Von Bastius · 10. November 2011 · Aktualisiert am 17. November 2011 ·
Kategorien:
  1. Es war einmal vor langer Zeit ein Computerspielchen. Es stammte aus dem beschaulichen Indie-Weiler am Innovationsstrom und beschloss, sich auf ein großes Abenteuer zu begeben, um die Welt jenseits des Release-Gefälles zu erkunden. So bestieg es die "Engine", ein kleines Ruderboot, aufs Wesentliche reduziert. Die Engine bot nur noch weiteren Platz für einen Koffer. Und dieser wiederrum bot auch nur noch Platz für drei Dinge! So musste Computerspielchen sich entscheiden: Konzept, Innovation und Spielspaß wurden fest verpackt. Es waren ihm die liebsten Dinge, niemals würde es ohne sie aufbrechen wollen, schon gar nicht auf eine so lange Reise.

    Einer der Dorfweisen, Open-Source nannten sie ihn, unterstützte das Vorhaben, wurde aber schnell übertönt: Es war der Raubkopierer, der allen Angst machte. Ein gar mythisches Seeungeheuer. Riesenhaft, völlig finster, unerbittlich! Allesverschlingend! Für wahrhaft apokalyptische Konsequenzen sei es verantwortlich. So zumindest die Erzählungen, denn nie kam jemand von einer Begegnung mit ihm zurück. Ungeschützt konnte Computerspielchen also nicht losreisen! Und so arrangierte es sich mit dem unbehaglichem Gedanken, die Innovation wieder auszupacken und statt ihrer die Community mitzunehmen.

    Computerspielchen legte nun endlich ab. Die Engine tauchte langsam in den Strom hinein. Es verging einige Zeit... Dunkle Flecken wurden auf das Wasser geworfen, sie kletterten den Schimpfsrumpf empor. Es wurden immer mehr, bis sie sich zu einer großen Fläche zusammenschlossen. Licht brach nur noch bruchstückhaft bis zur Wasseroberfläche durch. Der Ideendschungel umschloss den Fluss. Lianen tasteten sich am Schiffsbauch entlang. Ein wildes, akustisches Durcheinander schüchterte Computerspielchen ein: Es war ein wirres Visionieren, Debattieren und Phantasieren, doch es verlor sich im dichten, seltsamen Bewuchs.

    Die Vaporware-Stromschnellen lagen voraus. Kurz darauf würde der Innovationsstrom in den Kommerz münden, dazu mussten sie jedoch erst einmal überwunden werden. Computerspielchen ließ sich nicht beirren, griff fest nach dem Bord. Die Engine wurde wild umhergerissen, verfehlte nur knapp einige aus dem Strom ragende, messerscharfe Klippen. Gefährliche Hüter über Ernst und Funktionstüchtigkeit. Doch Computerspielchen widerstand dem allen und schoss nun mit neuem Elan in den Kommerz.
    Der Kommerz wurde schon vor langer, langer Zeit begradigt und so wurde auch Computerspielchen immer zielstrebiger.

    Vorbei am alten, knorrigen Blizzardbaum, der fest umschlungen von der Publisher-Rankpflanze Activision war. Eine einsame Wurzel fischte im Wasser. Doch schnell verlor sich Computerspielchens Aufmerksamkeit in einem Zug, der sich seinen Weg entlang dem Ufer bahnte. "LCE" prangte in großen, leicht angeschrägten Buchstaben, als glichen sie sich der Geschwindigkeit des Zuges an, auf der Seite der Lokomotive. Computerspielchen sagten diese Symbole nichts. Die Lokomotive zog einige Waggons hinter sich her, auf manchen war in großen Buchstaben DLC geschrieben, auf anderen Multiplayer. Der Zug scherte aus und entfernte sich vom Fluss. Der letzte Waggon trug die Aufschrift Patches. Er verschwand schnell im tiefgrauchen Rauch, den die Lokomotive hinter sich zurückließ und der nun langsam zum Fluss hinüberzog.

    Nach einiger Zeit wurden die Gewässer wieder unruhig, Strömungen schaukelten Computerspielchen durch. Sie mussten vom Electronic Arts Massiv weit im Norden stammen, welches fortan die Umgebung dominierte. Dessen Gipfel Mount Origin durchstieß die Wolkendecke, es gewitterte um seine Krone, Blitze schlugen Felsbrocken heraus, die in den Hype katapuliert wurden. Einer, besonders schnell, raste vom Himmel herab gen dem Visceral Games. Er verfehlte den Ort knapp, doch zerschmetterte die Brücke der Ambitionen. Dessen Bruchstücke nun in den Hype hinabsanken. Unbeeindruckt davon schoss der Hype in den Kommerz, brachte die Ordnung durcheinander. Erst viele Kilometer flussabwärts sollte sich das Gewässer von seinem Zufluss wieder beruhigen.

    Eingeschüchtert setzte Computerspielchen seine Reise fort. Bis die Engine vom Kurs abwich, Computerspielchen musste gegensteuern. Der Bit Torrent, ein reißender Wasserfall, zog das Boot zu sich. Computerspielchen bemerkte den Ubisoft Game Launcher, ein gewaltiges, schweres Eisengitter, welches versuchte dem Bit Torrent das Wasser abzugreifen. Vergebens, wie es schien. Doch Computerspielchen überwand auch dieses Hindernis, der Wasserfall vermochte es nicht, es hinab in seine Tiefen zu reißen.

    Computerspielchen erreicht den Corporate Creativity Stausee, der Wind schlug einige Wellen und blies vereinzelte Rauchwolken über den See hinweg. Sie stiegen von Feuerstellen auf, die aus umfunktionierteten Boykottschildern bestanden. Um sie herum saßen erschöpft die letzten Reste einer Rebellion. Gerade erhob sich einer von ihnen, Computerspielchen konnte nicht verstehen, was er zu sagen hatte. Dieser eine richtete seine Hand Richtung des EA Massivs. Dann sprangen auch die anderen auf, gemeinsam zogen sie flussaufwärts.
    Die Ursache des gescheiterten Aufstands erspähte Computerspielchen sogleich:
    Der Steam-Staudamm thronte erhaben am Horizont. Schon jetzt hallte der Lärm gewaltiger Turbinen zum Computerspielchen hinüber. Durch DRM-Einlässe gelangte das Wasser des Kommerz zu den Turbinen.
    Die gewonnene Energie ließ die Community-Glühbirne gleißend hell erstrahlen. Geblendet und orientierungslos trieb das Computerspielchen der kühlen Betonmauer entgegen.
    Es gab jedoch ein Vorbeikommen und so erreichte das Computerspielchen die Sequel-Ebene.

    Plötzlich schlug unter einer gewaltigen Wasserfontäne ein Geschoss backbordseits ein. Der Bug eines Uboots durchbrach die Wasseroberfläche, streckte sich über diese hinweg und fiel dann wellenschlagend wieder auf die Wasseroberfläche zurück. Alarmsirenen ertönten, Luken wurden hektisch aufgeworfen. Ein Trupp schwarzgekleideter, bewaffneter Männer stürmte heraus.
    Plötzlich raste ein Flugzeug im Sturzflug dem Uboot entgegen. Die Motoren krächzten und zogen schwarze Rauchschwaden hinter sich her, doch verstummten im immer ohrenbetäubenderen Heulen des herabrasenden Flugzeugtorsos.
    Das Flugzeug stürzte in das Uboot, schnitt das Deck auf und legte so die Innerein offen: Gewaltige Raketenschlote wurden bedrohlich rot angestrahlt, nur noch umschlossen von einem kreisrunden Stahlskelett, dessen Rippen sich schützend über die funkensprühende Kommandozentrale beugten. Eine Flügelhälfte, vom Aufprall abgesprengt, schleuderte dem Trupp entgegen. In letzter Sekunde und scheinbar wie in Zeitlupe beugten diese sich gerade rechtzeitig weg. Das Wrackteil schlägt hinter dem Trupp auf, nur um wieder Schwung aufzunehmen. Noch einige Male wiederholte sich dieser Vorgang, bis es das Ruder in Stücke riss und im Meer versank.
    Ein umherschlagendes Kabel riss einen Soldaten von den Füßen und drohte ihn an der Außenhülle des Uboots hinab in die klaffende, Feuer speiende Wunde zu ziehen. In letzter Sekunde, bereits im freien Fall befindend, erreichte ihn die rettende Hand eines anderen Soldaten.
    Als plötzlich ein Kampfhubschrauber das Feuer eröffnete. Die Soldaten suchten hinter aufgeborstenen Stahlplatten der Schiffshülle Schutz. Fast identisch aussehende Soldaten seilten sich ab. Der Trupp aus dem Uboot wurde in ein Feuergefecht verwickelt. Einer brüllte in sein Funkgerät: "Erbitten umgehend Luftunterstützung! Soap, markieren Sie das Ziel!" Dann stürmte einer, vermutlich Soap, dem Feind entgegen, warf sich heldenhaft in den Kugelhagel, überlebte diesen wie durch Zauberhand, sprang dann plötzlich in Deckung, wartete einige Momente, stürmte wieder hervor. Warf einen Infrarot-Marker zu den feindlichen Soldaten.
    Stürmte durch denselben Kugelhagel zurück, wurde von seinen Kameraden bejubelt. Dann erdonnerte der Himmel. Pechschwarze Streifen am Himmel zeigten den Verlauf der Geschosse, die die Feindesgruppe kurz darauf vollständig atomisieren sollte.
    Dann plötzlich eine Funkspruch: "Price, Sie müssen uns nochmal helfen: Sie müssen den angreifenden Flugzeugträgerkampfverband ausschalten. Wie ist mir egal! Wenn's sein muss, nutzen Sie die verdammten Raketen der Russen!" Der Funkspruch wurde sofort weitergeleitet. Soap bekam die Aufgabe in das brennende und langsam sinkende Ubootwrack hinabzuklettern und die Raketen scharf zu machen. Dann (plötzlich) ein Countdown: Der Start der Raketen stand unmittelbar bevor.
    "STOPP!!", ertönt ein lauter Schrei dessen Herkunft nicht feststellbar war, "das ist zu viel des Guten: Machen wir den Flugzeugträger wieder raus!"

    Stille, Leere. Das Computerspielchen zweifelte, ob Geradegeschehenes tatsächlich gerade geschehen war.

    Inzwischen war die Nacht eingebrochen, Nebel sankt langsam auf die Flussoberfläche hinab. Die Ufer waren nur noch schemenhaft zu erkennen.

    Wieder Krieg! Entfernt donnerten Panzergeschosse ein Tal entlang , inzwischen ist das Computerspielchen sehr geübt im Identifizieren solcher Dinge. Am Ausgang dieses Tals muss wohl der Kommerz entlangfließen. Maschinengewehre ratterten dimm. Dann schraubte sich Leuchtspurmunition in den Nachthimmel. Ein Gratisfeuerwerk, dachte sich das Computerspielchen und freute sich innerlich. Bis Kampfjets dicht über seinem Schiff hinweg düsten. Es musste sich festhalten, um nicht von Bord gerissen zu werden. Dann verschwanden auch diese mitsamt dem Feuerwerk im sternenlosen Schwarz der Nacht.

    In der Ferne erklang laute Musik, noch gedämmt. Das Computerspielchen nahm Fahrt auf, der Fluss zog es zur lauten Musik. Der Nebel lichtete sich, das Wasser erstrahlte in allen erdenklichen Farben. Lichtsäulen ragten in den Himmel, verloren sich jedoch in der Endlosigkeit. Hier musste es sein: Das Release-Gefälle war erreicht! Ein kleines Kanu ruderte dem Computerspielchen entgegen. Mit einem Blumenkranz ausgestattet wurde das Computerspielchen ins Spektakel entlassen. Am Release-Gefälle wurde die Release-Party gefeiert. Misstrauisch beäugten es Marketing und Analyst der große Zerschmetterer. Es konnte ihre Blicke nur für einen Moment fangen, dann vertieften sie wieder in der meterdicken "Product Lifecycle Management"-Enzyklopädie .
    Das ganze Spektakel erschien Computerspielchen so unwirklich, als solle etwas verschleiert werden. Im letzen Augenwinkel erspähte Computerspielchen dieses Etwas: Da war er wieder, der LCE. Lifecyle Express! Dieser ergoß nun seine Ladung in den Fluß. Die schweren Waggons beugten sich dazu langsam unter lautem Knarzen flusswärts. Dann trieben die grauschimmernden Schlieren an der "Engine" vorbei. Einige umschlossen das Boot. Dieses Rauschen wurde immer lauter. Gemeinsam stürmten sie unaufhaltsam dem Horizont entgegen, sie ließen alles hinter sich. Die im Licht funkelnden Wellen bogen sich glatt. Für einen Moment fühlte es die Schwerelosigkeit. Wassertropfen standen in der Luft. Dann rasten weiße Tentakel dem Boot entgegen. Sie griffen nach Computerspielchen.
    Ein heftiger Schlag erschütterte es, sie rissen es in die Tiefe, doch gaben es wieder frei: Das Release-Gefälle war überwunden.
    Der Mond hüllte alles in ein gräuliches Blau. Doch was Computerspielchen nun erblickte, erschreckte es zuftiefst: So weit es blicken konnte, zur rechten Seite: nichts; zu seiner Linken: nichts.
    Die Mythen waren alle wahr! Die Service-Wüste, es gab sie tatsächlich. Trostlos und schier endlos im Ausmaß, beherrschte sie Computerspielchens Sinne.
    Doch wem sollte es davon je berichten können? Von hieran gab es kein Zurück mehr. Es würde wohl dem Fluss weiter folgen müssen.

Kommentare

Um einen Kommentar zu schreiben, melde dich einfach an und werde Mitglied!
Top