Leserrezension: Disco Elysium - Ode an das Leben

Ode an das Leben

Manchmal ist das Leben scheiße. So richtig scheiße, so scheiße, dass man sich am liebsten in die Vergessenheit besäufen wollen würde, so sehr, dass man sich einfach nur wünscht, dass das Leid ein Ende findet - ein solches Gefühl haben wir alle sicherlich so oder so ähnlich mal gehabt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Man ist so sehr am Boden, dass man glauben mag, es bestehe keine Hoffnung mehr. Disco Elysium bringt uns in diese Situation, um uns zu fragen: wollen wir denn wieder aufstehen?

Besoffener, halbtoter Detektiv = perfekt

Disco Elysium handelt von einem älteren Polizisten in der politisch zerrüttelten Stadt Revachol in der fiktiven Welt von Elysium, modern und trotzdem heruntergekommen. Ohne Erinnerungen an unser Leben, weil wir uns durch Drogen und Alkohol komplett abgeschossen haben, stehen wir in einem Motel auf, wissen nicht mal, wie wir aussehen oder heißen, nur um dann in der Lobby anzukommen und gesagt zu bekommen "Hey, du bist doch der Polizist! Mach deinen Job, draußen hängt ein Toter!" Zur Unterstützung bekommen wir Lieutenant Kim Kitsuragi, ein zuverlässiger, ernsthafter Polizist, der allerdings stets dem Rassismus ausgesetzt ist, obwohl er doch in Revachol geboren wurde. Und was als simpler Mordfall anfängt, verändert sich mit der Zeit zu einem heftigen politischen Pulverfass - und es liegt an uns, den betrunkenen Polizisten und Kim, diesen Fall zu lösen, bevor was wirklich übles in Revachol passiert. Uns, und den 24 Stimmen in unserem Kopf.


Da liegen wir, völlig abgeschossen, das Zimmer verwüstet und halbnackt. Und gehört hat man uns wohl auch. Aus dem Schlamassel werden wir uns nicht rausreden können.

Dabei treffen wir auf die verschiedenen Bewohner des Distrikts Martinaise in der Stadt Revachol - drogensüchtige Kinder, Kryptozoologen, einfache Arbeiter, Buchverkäuferinnen, reiche Leute... Martinaise bietet eine breite Palette an Menschen aus allen Schichten und politischen Richtungen, dabei werden jedoch nie Klischees bedient. Alle Einwohner sind authentisch, haben ihre eigenen Sorgen, Ideologien oder zwischenmenschliche Probleme. Und auch unser Partner Kim ist hervorragend geschrieben, kommentiert das Spielgeschehen, macht sich Notizen, wenn wir uns auffällig verhalten, und wenn wir völlig über die Strenge schlagen wollen, weil wir bspw. eine junge Erwachsene anschreien wollen, weil sie sagte, wir sollten doch mit unserer Kopfbedeckung korpulieren, dann maßregelt er uns auch. Denn wenn eines in Disco Elysium groß geschrieben wird, dann die Freiheit, den eigenen Polizisten so zu gestalten und zu formen, wie man will.

Hokus-Pokus-Detektive in einem Buch zum Spielen

Das tun wir zum einen durch das Gameplay selbst. In Disco Elysium wird nicht gekämpft; erwartet keine klassischen Kämpfe aus RPGs wie Pathfinder: Wrath of the Righteous, Divinity oder ähnlichem. Wenn es überhaupt mal brenzlig wird, dann durch Dialoge und Skillchecks, denn die sind das Gameplay von Disco Elysium. Als Polizist ist es unser Job, Menschen zu verhören, ihnen Informationen zu entlocken, nachzufragen und natürlich an Tatorten zu ermitteln, Beweise anzuschaffen und Konflikte zu lösen. Das funktioniert so wie in jedem anderen RPG auch - wir sprechen jemanden an, ein Dialogfenster öffnet sich und wir können Fragen oder Aussagen stellen, auf die unser Gegenüber dann reagiert. Die Dialoge sind hierbei exzellent geschrieben. Selbst das scheinbar unwichtigste Detail wie eine Mülltonne, mit der wir reden können ( ja. ) könnte uns einen Hinweis geben. Und wenn nicht, naja, dann war es halt extrem lustig. Unsere Zeit ist allerdings begrenzt, und manchmal können wir Quests erst dann weiterführen, wenn ein neuer Tag anbricht. Die Zeit schreitet allerdings nur voran, wenn wir uns mit Leuten unterhalten. Für das Erkunden der Welt haben wir jedoch so viel Zeit, wie wir uns nehmen wollen.


Hier unterhalten wir uns mit unserem Partner Kim. Dialoge und kluge, kreative oder abgefahrene Antworten geben uns Erfahrungspunkte. Mit einem Skillcheck könnten wir nun Kim überzeugen, dass der Mordfall doch sexy sein könnte. Wenn wir das wollten.

Oft kommen wir dabei auf Skillchecks, diese gibt es in weiß und rot, sowie passive. Weiße Skillchecks dürfen wiederholt werden, wenn wir versagen, müssen aber einen Fähigkeitspunkt investieren - rote Skillchecks können nicht wiederholt werden. Wo man in anderen RPGs allerdings bei einem versagten Skillcheck auf Konsequenzen fürchten müsste, ist Disco Elysium anders - bloß, weil wir einen Skillcheck vermasseln, ist das nicht das Ende. Manchmal können versagte Skillchecks uns sogar ganz neue Möglichkeiten eröffnen, etwa dann, wenn wir uns einen Namen ausdenken müssen, mit dem wir uns bei Kim vorstellen können, und das völlig verhunzen. Dann bekommen wir nämlich eine völlig bescheuerte Antwortmöglichkeit, die ich hier mal nicht verraten werde - und das beste ist, wir können dann die ganze Zeit einfach damit fahren... aber wir müssen es nicht.

Disco Elysium weiß auch, dass wir Spieler gerne mal experimentieren, und nimmt sich daher viele Anleihen aus dem Pen-and-Paper Bereich, was die Freiheit im Rollenspiel angeht. Wir können einen ernsthaften, ruhigen Polizisten spielen, das ist absolut möglich. Wir können aber auch uns zu einem Superstar mausern, der denkt, die Welt dreht sich um ihn, oder wir werden ein Prophet der Apokalypse - oder wir kommen auf noch abgefahrenere Ideen. Dazu ein kleines Beispiel vom Beginn des Spiels gefällig?

Im Buchladen neben dem Motel ist eine besorgte Verkäuferin, die der festen Überzeugung ist, dass der Gewerbebereich verflucht sei, weil alle Unternehmen im Bereich früher oder später pleite gegangen sind. Die negativen Energien hält sie also hinter einem Vorhang im Laden versteckt. Wir könnten nun den Vorhang mit Gewalt aufziehen und die Tür auftreten, um uns Zutritt zu verschaffen. Wir könnten mit ihr aber auch uns ernsthaft unterhalten und versichern, dass das alles nur ein Mythos ist. Oder wir gehen voll auf diesen Fluch ein und behaupten, wir seien ein paranormaler Detektiv, der solche Energien spüren kann und wurden extra für sie nach Martinaise geschickt, um den Fluch zu brechen. Noch lustiger wird es dann nur, wenn der sonst so ernste und berechnende Kim plötzlich mitspielt und der Frau versichert, wir sind definitiv "Hokus-Pokus-Detektive."



Solche Situationen gibt es andauernd in Disco Elysium. Quests können unfassbar lustig werden, sie können aber auch sehr schnell extrem ernst werden, so ernst, dass einem teils wirklich die Spucke weg bleibt und man sich fragt, was man da gerade erlebt hat. Disco Elysium bietet alles, und besonders einen hohen Wiederspielwert dank der Skills, den 24 Stimmen, die eingangs erwähnt wurden.

Wir, der von Türen genervte, moralistische Langweiler-Polizist



Wenn wir Disco Elysium starten, dürfen wir einen von drei vorgefertigen Presets auswählen, oder unsere Fähigkeiten eigens anpassen. Dabei bietet Disco Elysium vier Attribute mit jeweils sechs Fähigkeiten. Intellekt bestimmt, wie schlau wir sind; Psyche, wie gut wir Gefühle verstehen und uns darstellen können; Konstitution gibt unsere Körperkraft wieder; und Motorik bestimmt, wie wir uns in brenzligen Situationen und jenen mit Fingerfertigkeit schlagen. Wir können uns spezialisieren, bspw. also ein Haudrauf sein, der aber völlig blöd ist, ein feinfühliger Polizist sein, dem aber ständig Sachen aus der Hand fallen, oder, oder, oder, die Möglichkeiten sind grenzenlos. Gedanken sollten wir uns trotzdem machen, denn die Wahl unserer Fähigkeiten beeinflusst das, was wir sehen und erleben, und nicht nur das.

Ein hoher Logikwert zum Beispiel ist nützlich, um kausale Zusammenhänge festzustellen, um zu erkennen, was sich bspw. am Tatort vorgetragen hat. Ein zu hoher Wert könnte uns aber auch auf Schlüsse kommen lassen, die zu weit gedacht sind. Hohe Empathie lässt uns Menschen einfach verstehen, aber dann könnten wir bei jedem Schicksalsschlag weinen, was auch nicht Sinn der Sache wäre - zu niedrig und wir wirken wie ein Psychopath. Und wenn wir hohe Werte in Körperapparat haben, wollen wir jedem, der uns blöd kommt, instinktiv eine runterhauen.

Wo Disco Elysium dann aber wirklich heraussticht mit seinen Dialogen, ist, wenn die 24 Fähigkeiten bzw. Stimmen plötzlich sich miteinander unterhalten. Wenn Logik A sagt, könnte Innenleben B sagen, Willenskraft sagt C und Suggestion D. Da wird sich dann gestritten und wir sitzen da und grinsen, während sich alle Fähigkeiten versuchen, gegenseitig auszuspielen - und wir dann entscheiden müssen, was denn nun die richtige Entscheidung wäre. Wollen wir Drogen nehmen, will Elektrochemie uns regelrecht dazu verführen, während Willenskraft zu uns sagt, wir brauchen das nicht, wir kommen auch ohne zurecht. Und wenn dann noch Ausdauer hinzukommt und Willenskraft bestätigt, überlegen wir zwei mal, ob wir wirklich welche nehmen wollen - dabei bringen Drogen uns mächtige Vorteile wie bessere Fähigkeiten. Wo wir schon dabei sind: Willenskraft und Ausdauer bestimmen unsere Lebenspunkte, eingeteilt in Moral und Gesundheit. Fällt einer dieser Werte (bspw. durch schlechte Antworten, fiese Bemerkungen anderer Personen oder einfach dummen Ideen wie mit dem Fuß auf ne Maschine treten), sterben bzw. geben wir auf. Heilen können wir uns aber jederzeit, sofern wir Medizin gekauft oder gefunden haben.


Ein Gespräch mit Enzyklopädie, eine Intellekt-Fähigkeit. Ist ihr Wert hoch genug, gibt sie bei bestimmten Dialogen Anmerkungen und Ideen wieder. Wir unterhalten uns also nie nur mit einer Person - sondern auch mit unseren Fähigkeiten.

Zuletzt gibt es dann noch Gedanken, die wir uns im Spiel aneignen können. Gedanken sind so etwas wie Forschungen, die wir nach bestimmten Dialogen einleiten können - zwölf dürfen wir insgesamt haben. Wir erhalten Gedanken, indem wir bestimmte Antworten immer wieder abgeben oder Aktionen durchführen. Wer oft sagt, er vertrete das Gesetz, darf demnächst, wenn gewünscht, sich als eiskalter Gesetzbringer ansehen und bekommt Fähigkeitsboni. Wer sich politisch äußern möchte, kann Ultraliberal, Kommunist, Faschist oder, falls nichts davon zusagt, Moralist werden. Und wer ständig versucht, Türen zu öffnen, das aber nicht schafft, der kann darüber nachdenken, warum nicht alle Türen aufgehen. All diese Dinge geben Boni. Und ist oben drein verdammt lustig.


Alle Gedanken bringen Boni oder Mali, wie man links erkennen kann. Hier studiert mein Charakter gerade, warum er mal wieder eine Tür nicht aufgekriegt hat.

Manchmal ist alles Mist, und das ist okay

Hier zeigt sich aber auch erneut eine der stets bemerkbaren Stärken von Disco Elysium: wir können so gut sein, wie wir wollen, es klappt nicht immer alles. Wir können hohe Werte in Fähigkeiten haben - manchmal schaffen wir einen Wurf dann trotzdem nicht, weil er kritisch fehlschlägt. Das kann aber auch andersrum sein und sorgt für regelrechte Glücksgefühle. Die Gefahr, gerade in wichtigen Situationen fehlzuschlagen, ist immer da, und sorgt für Spannung; ob es nun darum geht, eine Tür zu öffnen, eine Person zu verhören oder vielleicht sogar aus einer wirklich lebensgefährlichen Situation herauszukommen, Disco Elysium kann knallhart sein. Und ist auch eine Metapher an das Leben, weil selbst in den besten Momenten immer noch etwas schiefgehen kann. Wie oft ist es mir passiert, dass ich mit 97% Chance im Spiel (höchster Wert) einen Fehlschlag erlitten habe, und genauso mit 3% Erfolg, wo ich aus Verzweiflung geworfen habe und dann der Bildschirm grün leuchtet.

Disco Elysium kann beizeiten extrem lustig sein, kann aber auch wirklich schnell ernst werden. Da können wir uns bei einer Arbeiterfrau über ihren Mann lustig machen und stereotypische Sachen aufzählen - gehen wir zu weit, werden wir aber ernsthaft beauftragt, den Mann zu finden, was zu einer der meiner Meinung nach heftigsten Quests im ganzen Spiel führt. Disco Elysium lehrt, dass Fehlschläge in Ordnung sind. Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden, wir sind doch schon völlig am Boden, ohne Name, ohne Dienstausweis-und Waffe, ohne irgendetwas handfestes, warum sollten wir uns jetzt noch weiter fertig machen - wobei wir das tun könnten, wenn wir wollten, das Spiel bietet diese Freiheit.

Dieses Spiel ist extrem politisch, aber nur, wenn man das wirklich will - wer möchte, kann sich raushalten, so wie ich es tat. Dieses Spiel kann sehr nervenzerreißend sein, aber nur, wenn man das auch möchte. Aber was Disco Elysium immer versucht, ist einem beizubringen, dass Fehlschläge niemals das Ende sind, dass wir am völligen Boden der Existenz sein können und das Leben trotzdem weitergeht, und wir uns auch wieder aus dem Mist, in dem wir geraten sind, herausholen können - wenn wir das denn wollen.

Dann steht man eben wieder auf

In seinen besten Momenten ist Disco Elysium herzzerreißend, humorvoll, aber auch einfühlsam, und hin und wieder bringt es einem ehrlich zu den Tränen, weil es so gut geschriebene Charaktere und Schicksale bietet. Alles ist Mist in Martinaise; Politik, Menschen, Infrastruktur. Keiner will dort leben, aber jeder gibt sein bestes, auf seine eigene Art und Weise. Als jemand, der selbst depressiv war vor einigen Jahren, trifft Disco Elysium ins Herz - manchmal fies, manchmal erwärmend, dann zum Beispiel, wenn ich ein Verhör völlig vermasselt habe, mein Charakter sich fertig macht und mein Partner Kim tröstend sagt "Hey, ist schon okay. Ist nicht schlimm, wir kriegen den Fall auch so gelöst. Denk nicht zu sehr drüber nach, ärger dich, aber mach weiter." Sowieso ist Kim wohl einer der besten Gefährten, die man in einem RPG haben kann, zumindest kenne ich keinen besseren. Er ist dieser eine Freund, den jeder haben will, der es akzeptiert, wenn man völligen Mist baut, komplett irres Zeug anstellt und einen zurück auf den Boden der Tatsachen bringt - oder bei überambitionierten Projekten unterstützt, tröstet, aber immer auch tadelt, wenn man wirklich zu weit geht.

Ja, Disco Elysium bietet wirklich viel, über das man reden kann, und eigentlich verdient das Spiel noch mal einen eigenen Blogeintrag, in dem man über die Themen des Spiels diskutieren kann. Es bietet extrem viel Interpretationsfreiheit - für mich ist es aber ein Spiel, das am nächsten ans Leben rankommt.

Das Leben kann richtig scheiße sein. Aber dann steht man wieder auf und macht weiter. Disco Elysium lehrt das. Das macht es zu einem der besten RPGs überhaupt. Vielleicht das Beste.

Wertung

94/100

+ Exzellent geschriebene Charaktere
+ Kim ist ein hervorragender Begleiter
+ Kompakte, spannende Open World
+ Toll ausgearbeitete Welt
+ Völlige Freiheit der Persönlichkeitsgestaltung
+ Guter Soundtrack
+ 1A-Sprecher
+ Angenehm einfaches, aber motivierendes Gameplay
+ Cooler Artstyle unterstreicht Atmosphäre
+ Bis zum Schluss spannend
+ Tolles Finale
+ Dank Fähigkeiten hoher Wiederspielwert
+ Spricht behutsam auf Meta-Ebene an

- Selten zähe Dialoge