Stille LAN, heilige LAN

Von Juetas · 4. Januar 2018 · Aktualisiert am 11. Januar 2018 ·
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  1. [​IMG]What a wonderful world


    Tradition ist einer dieser Begriffe, der für jeden ein eigenes Bild im Kopf zeichnet. Ob das jetzt das Wiener Schnitzel am Sonntag oder eine riesige Tomatenschlacht im August ist, gelebter Brauch löst meist ein heimeliges und behütetes Gefühl aus. So auch in meinem engeren Freundeskreis, der 1x im Jahr nach Weihnachten eine LAN-Party veranstaltet. Seit über 15 Jahren in Folge. Ein kleiner (längerer) Ausflug in die Gegenwart der Vergangenheit.


    Es waren einmal quasi-Nerds

    Freundeskreise sind gemeinhin etwas Dynamisches. Auch quasi-Nerds lernen regelmäßig neue Leute kennen, und sei es nur durch die berufliche Tätigkeit oder Mitgliedschaft in irgendeinem beliebigen Verein. Unsere Freundesgruppe, mit dem wenig kreativen aber bedeutungsschwangeren Namen „die Phreaks“, entstand bereits zu Schulzeiten, und wurde durch Verwandtschaft oder Freunde eben dieser ergänzt. Vor allem die humoristische Passform war ausschlaggebend, wer Simpsons oder die nackte Kanone nicht lustig fand, hatte es schwer mit uns. Gezockt haben schon alle, der Boom der Computerbranche tat dann sein Übriges hinzu. Dennoch hat jeder von uns auch seine individuelle Geschichte, wie er zu diesem Hobby kam. Eher früher als später. Und so begab es sich, dass wir im Laufe unserer Jugend bereits viel Computer spielten. Und darüber redeten. Und noch mehr spielten.

    Der damaligen Technologie geschuldet traf sich ein Teil von uns häufig zu epischen Matches auf dem Nintendo64. Ob nun Perfect Dark, Mario Party, ISS 64 (nicht die Raumstation) oder Golden Eye, Duelle als auch kooperative Schlachten waren Dauergäste in den Wohnzimmern unserer Eltern. Als die Desktop-PCs dann langsam in die Privathäuser Einzug hielten, begann der erste große Frühling, virtuell gesprochen. Ich verbrachte Stunden mit Blade Runner, Baldurs Gate, Simon the Sorcerer und Warcraft 2 um den seinerzeit streng limitierten Internetdatenverkehr nicht zu belasten. Blöd nur, dass die parallel laufenden Podcasts und Audio-Streams trotzdem Bandbreite kosteten, aber was interessiert das jugendliche Rebellen. Ich bereue nichts. Meine Eltern vielleicht schon eher.

    [​IMG]Die dicken Bertas

    Jung und wild

    Etwa um diese Zeit, als ich meine Freizeit mit stundenlangen Counterstrike 1.5 – Matches gegen Bots verbrachte (du verdammtes Datenlimit), kam die erste Idee zu einer LAN-Party auf. 2002 erwachte sie dann zum Leben, stilsicher am Dachboden eines Elternhauses unserer Heimatstadt. Im Hintergrund schon damals unbenutzte Fitnessgeräte, wir waren ja jung und wild, und Sport trieben die meisten von uns ohnehin freiwillig. Der Platz war also spärlich vorhanden, nicht zuletzt aufgrund der dicken Röhrenmonitore, die den mitgebrachten Klapptisch allein vereinnahmt haben. Geschlafen wurde am Boden oder auf Liegestühlen, eine weiche Unterlage benötigte niemand. Wir waren elektronische Soldaten-Veteranen, immer hart im Nehmen, haben wir doch schon mit unschuldigen 16 Lenzen unzählige Kriege gefochten. Wen haben wir nicht schon alles so jung geteabaged.

    Während Quake und Counterstrike (Pool Day!) beinahe alternativlos für uns waren, wurden auch viele Singleplayer-Spiele gespielt. Das sind Spiele, für die man kein Internet brauchte, weil man nichts aktivieren musste. Ja, sowas gabs damals. Achievements? Wir wussten selbst, wie gut wir waren. Oder behaupteten es zumindest. Internet-Aktivierung? Braucht zu viel Datenrate. Installation abgeschlossen, Play klicken. Die Klassiker, die wir alle immer wieder gezockt haben, wurden nebenher auch eifrigst besprochen, sei es Knights of the old Republic, Mafia oder zig andere. Die Erinnerungen an perfekte Sommer, die zum genau richtigen Teil im Freibad, vor dem PC und im Bett verbracht wurden. Allein schlafend natürlich, wir waren ja immer schon quasi-Nerds.

    [​IMG]Der Autor hatte damals viel zu viel Zeit

    Entwicklung ohne Wickel

    Und so zogen sie dahin, die sonnigen Tage unserer Jugend, die immer gern verklärt werden. Nur, dass unsere wirklich cool waren. Während die ersten LAN-Parties noch pro Jahr in x-facher Ausführung abgehalten wurden (Schulstart, Semesterferien, Ostern, Sommerferien), wurde es immer schwieriger, mehrmals im Jahr unsere Pixelfressen oder die anderer Bösewichte zu polieren. Diese Veränderung kam ähnlich überraschend wie Haare unter den Achseln: Jeder muss da durch, aber komisch ist es irgendwie schon. Da gibt es dann Arbeit (igitt), Mädchen (igitt) oder andere, plötzlich auftauchende Interessen (igittigitt). Wie alles im Leben durchlief auch unsere damals schon als Tradition bezeichnete Versammlung der Phreaks einigen Anpassungen. Nicht zuletzt mussten immer wieder die Veranstaltungsorte gewechselt werden. Welches Elternteil will schon 5 Tage- und Nächte lang grölende, versiffte und später auch angetrunkene Halbstarke beherbergen. Und dann auch noch zur christlichen Weihnachtszeit. Danke Jesus.

    Wir bezogen also Stellung in leeren Wohnsitzen, deren Besitzer über Weihnachten im Urlaub verweilten. Natürlich nur mit deren Einverständnis, wir waren ja nicht die feuchten Banditen. Oder baten den hiesigen Bürgermeister um einen Raum, welcher in einem zu dieser Zeit leerstehenden Kindergarten gefunden werden konnte. Inzwischen ist es ein wenig einfacher, befinden wir uns doch in einem Alter, wo Menschen gern Häuser kaufen und Kinder zeugen. Ersteres verschaffte uns einen für die letzten beiden Jahre beständigen Party-Ort. Letzteres könnte das jedoch bald wieder verhindern. Sorgen sind aber etwas für den Alltag, kommt Zeit kommt LAN. Und auch Internet ist mittlerweile flächendeckend verfügbar, egal wo die Bude steht. Vorbei die Zeit, wo ein nicht ganz so legal erworbenes Spiel nicht gespielt werden konnte, weil kein funktionierender Crack auf den Festplatten vorhanden war. Mit 56k war man dann der Held der Party.

    [​IMG]The beginning

    Digitale Wellnesswoche

    Über die Ernährung muss an sich nicht gesprochen werden, das Thema stößt nur sauer auf. Klarerweise sind Fertig-Pizzen, Bierfässer und Lieferdienste die besten Kumpels. Während früher die Fresspakete im Schnee vergraben wurden, weil keine elterliche Kühltruhe noch Platz für 50 weitere Gerichte hatte, genügen heute 2 Klicks im Browser um den Döner liefern zu lassen. In den nicht zuletzt dadurch aufkommenden Leerlaufzeiten gibt es auch abseits des PCs Beschäftigung. Diejenigen unserer Freunde, die nicht teilnehmen aber uns besuchen wollen (und den Geruch ertragen können) schauen vorbei und spielen ein wenig vor dem Fernseher. Damals wurde noch der Sega Dreamcast in den Rucksack gepackt, heute funktioniert das alles tadellos über Steamlink. Filme werden natürlich regelmäßig angesehen, aber auch körperlichen Ertüchtigungen wie Schwimmen wird nachgegangen. Aufgrund der unterschiedlichen Rhythmen sind in der Regel ohnehin nur des Abends/Nachts alle durchgängig anwesend. Dadurch ergibt sich ein gewisser Ablauf.

    Irgendwer schreit tagsüber einfach einen Titel in die Runde, und jeder der möchte spielt mit. Denn einerseits gibt es mehr als genug Spiele, für die keine gerade Anzahl an Leuten benötigt wird. Andererseits ist es weniger ein Zwang Computer zu spielen als eine digitale Wellnesswoche. Jeder kann tun wonach ihm ist. Wenn einem die Gelüste nach 5 Tage durchgehend zocken stehen, hervorragend. Aber wenn ein anderer zwischendurch Yoga macht, die Sauna besucht, wandern geht oder mehr schläft als die andren, ist das auch gut. Duschen ist ebenso optional. So etwas funktioniert natürlich nur mit engen Freunden und sehr toleranten Mitspielern, aber es fühlt sich einfach großartig an. Man ist eins mit seiner virtuellen Natur, olfaktorisch ist man sogar eins mit seiner echten Natur. So ähnlich müssen Neandertaler früher gerochen haben. Und ich bin unendlich Dankbar dafür.

    [​IMG]Multifunktions-Esszimmer

    Zurück in die Zukunft

    Die Dynamik des Marktes macht unsere Feierlichkeit nicht einfacher. Gefühlt gibt es so viele Spiele wie nie zuvor, aber kooperative Must-Haves sind irgendwie nicht anteilsmäßig gewachsen. Und auch wenn Evergreens wie die alten Serious Sam Teile oder Age of Empires, mit denen wir uns die Nächte um die Ohren geschlagen haben, noch immer unsere Herzen jubilieren lassen, kamen sie dieses Jahr nicht zum Tragen. Spricht natürlich aufgrund der vorhandenen Alternativen für die Auswahl, aber auf eine gewisse Art auch dagegen. Denn äquivalenter Ersatz blieb keiner im Gedächtnis. Klar drängt sich der Gedanke auf, dass unsere Runde einfach älter geworden ist, aber das ist es nicht. Nicht nur. Die letzten Jahre haben wir vorab eine Liste mit Spielen erstellt, die gut klangen. Immerhin stießen wir so auf grandiose Juwele wie TheShip. Aber heuer war die Liste dennoch ernüchternd kurz. Vielleicht muss mehr Zeit in die Suche investiert werden, das nimmt bisweilen jedoch die Ungezwungenheit.

    Veränderung geschieht heutzutage schneller als jemand kreative Spielvorschläge wie „Qualien vs Prattlefield 1942“ rufen kann, sie ist nämlich allgegenwärtig. Eine der wertvollsten Eigenschaften als Mensch ist daher, mit Veränderung mithalten oder zumindest umgehen zu können. Der Bereich ist hierbei irrelevant, ob Beziehung, Beruf oder Netzwerkparty. Sollte sich irgendwann eine gewisse Müdigkeit einstellen, muss dagegen gearbeitet werden, wenn es die Sache für einen wert ist. Aufgeben widerspricht der Aufgabe. Selbst wenn wir uns nicht mehr um 5 Uhr Früh nach einer durchzockten Nacht ein Baguette in den Ofen schieben und noch eine Runde Anno starten. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Aber die LAN bleibt. Hoffentlich.

    [​IMG]Ein Teil der Crew, jährliche Lanshirts inklusive

    Über den Autor

    Juetas
    Computerspieler aus Leidenschaft bei Tag. Schläfer bei Nacht. Versucht mit Worten umzugehen und damit Meinungen zu PC Spielen zu formulieren. Über einen Besuch auf meinem Blog (https://taschtestet.wordpress.com/) freu ich mich natürlich. Aber nur wenn ihr lieb seid. Ach, egal, kommt einfach.

Kommentare

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  1. virtual_elvis
    Danke für den tollen Blog :D Hach, das erinnert mich wohlig an alte Zeiten, angefangen von der ersten Mini-Lan mit 2 Amiga 1000 & Nullmodemkabel bis hin zur ausgewachsenen 15-20 Leute LAN im Jugendzentrum.

    Leider ist die letzte LAN locker 12 Jahre her, alle Leute sind verstreut in der Welt, mit Arbeit, Familie und was weiß ich was beschäftigt. Man kennt das ja von sich selbst, ich bin jetzt mittlerweile 46, Family mit 2 Kindern & Hund, da bleibt wenig Zeit und dann Abends ein paar Runden am PC zocken ist halt doch bequemer... aber vermissen tue ich es !

    Bleibt dran an der schönen Tradition ;)
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