The Witcher 3: Verteidigung eines Hypes

Von Yeager · 22. Mai 2015 · Aktualisiert am 26. Mai 2015 ·
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  1. Die einen lehnen es ab, weil sie jeden Hype ablehnen und weil es klar war, dass The Witcher 3 kein Nischenprodukt werden würde. Den anderen ist es zu bunt, gemessen an der düsteren Welt in der es spielt. Weitere regen sich über grafische Downgrades auf. Wieder andere bezeichnen es gar als unspielbar wegen der Steuerung und ganz andere hacken auf jedem Detailfitzchen herum, dass sich auch nur ansatzweise eignet, um auf Basis dessen ein wenig Kritik zu üben. Denn GameStar ist schließlich unseriös, wie wir alle wissen, die Wertungen sind gekauft und es gehört allgemein zum guten Ton überall das letzte Wort zu haben.
    Oder nicht?

    Was ist los?

    Hat man vergessen, worum es eigentlich geht?
    Bei Rollenspielen? Bei GUTEN Rollenspielen?

    Ich bin ein begeisterter Rollenspieler. Ich liebe Schinken wie Baldur's Gate oder das erste Dragon Age. Ich bin ein Fan von Rundentaktik, die ich hier schwerlich vorfinde. Mein Rechner ist gute 2 Jahre alt und wird mir zum Thema Ultrasettings nur den Mittelfinger zeigen. Meine Skills in Sachen Gamepad-Bedienung bewegen sich auf Vollnoob-Niveau, meine "Begeisterung" über konsolenartige PC-Portierungen lässt sich nur mittels Kraftausdrücken sinnvoll zum Ausdruck bringen, die ich hier nicht aussprechen darf, weil ich sonst gesperrt werden würde.

    Und dennoch macht mir The Witcher 3 einen Heidenspass. Warum?
    Weil es etwas herausragend kann: Eine Geschichte erzählen.
    Viele Geschichten sogar. Mich mitzunehmen auf eine denkwürdige Reise in eine andere Welt, die so wirkt, als gäbe es sie wirklich. Die bewusste, gewollte Überschneidungen besitzt mit unserer realen.

    War es nicht das, worum es bei Rollenspielen eigentlich ging?

    Hype - na und?
    Ja, es gibt einen Hype und jener war abzusehen. PopCorn ist auch Massenware. Und? Isst man es deswegen nicht mehr?

    Buntes Grauen

    Ja, es ist bunt, erzeugt aber gerade dadurch genau jene Polarisierung zusammen mit den überaus ernsten, zeitlosen Themen (wie z.B. Rassismus, Krieg von seiner hässlichsten Seite, Vergewaltigungen, Hungersnot, ... ), um die es seit dem ersten Teil ging: Es zwingt zur Positionierung, wirkt nicht distanziiert, streckenweise gerade aufgrund dieser farblich vermeintlichen Überzeichnung verstörend. Das wahre Leben ist auch kein Grau in Grau - und dennoch voller menschlicher Abgründe.

    Nähe statt Distanz

    Eine düstere Welt auch düster zu zeichnen würde eine EINDEUTIG düstere Stimmung erzeugen - und damit zu etwas beitragen, was für The Witcher absolut nicht üblich ist: Zum Klischee.
    The Witcher lebt in einer realitätsnahen, weil ambivalenten Welt. Ohne ein simples Gut und Böse. Dafür aber mit Hintergründen (also plausiblen Erklärungen warum etwas so ist, wie es ist, warum jemand so gehandelt hat, wie er gehandelt hat). Teils auch geschichtlichen. Da mischen sich, ähnlich wie bei Tolkien, reine Fantasy-Elemente mit real-historischen. Das merkt man an vielen Details. Die Stadt "Wyzima" lehnt sich am polnischen "w zimie" an, was übersetzt "im Winter" heisst (w(y) = in/im, zima = Winter). Die Stadt Novigrad ist eine Anspielung auf Novgorod, die sehr alte Hauptstadt der gleichnamigen russischen Handelsrepublik im Mittelalter. Die Namen der Charaktere und ihre Geschichte spielen auf mittelalterliche Konflikte zwischen germanischen und slawischen Völkern an, mischen sich zum Teil oder bringen auch (scheinbar) alles durcheinander. Nilfgaard hat z.B. Anspielungen auf das feudale Frankreich, nutzt daher auch nicht zufällig die typische "aux"-Endung (wie z.B. bei "Bordeaux"), deren Sprache wirkt aber wie ein eigenartiges Mischmasch aus Latein mit germanischem Einschlag, alles andere als vornehm-nasal. Die Probleme der Menschen entsprechen keiner High-Fantasy ("Bitte lieber Held, unser Leben ist scheisse, weil wir von Drachen bedroht werden"), sondern stammen aus der Realität ("Das Monster ist da, weil ein Fluch vorliegt. Der Fluch liegt vor, weil eine Frau, die vergewaltigt und ermordet wurde diese Region verflucht hat, bevor sie qualvoll starb").
    Die gesamte Spielreihe WILL polarisieren. Sie WILL den Spieler fabel-artig konfrontieren - mit seiner realen Welt. Und die ist wie gesagt auch bunt - aber deswegen weder rein böse, noch rein gut. Hätte man sich nun für ein Dark-Fantasy-typisches Düster-Setting in Sachen Belichtung entschieden, hätte man diesen bewusst verstörenden Effekt der Ambivalenz zerstört. Man hätte sozusagen stimmungsmässig dem Spieler die Bewertung und Beurteilung des Gesehenen abgenommen. Sogar das Denken abgenommen und ihn sich leicht distanzieren lassen ("Das ist nicht echt. In der realen Welt scheint auch mal die Sonne."). Doch das ist so ziemlich das Letzte, was die Witcher-Reihe beim Spieler erzeugen will: Distanz.
    My 2 cents.

    Glauben an den (PR-)Weihnachtsmann

    Ja, es enstpricht keiner frühen PR-Vorzeige-Version. Nur: Welches Spiel tut das? Seit wann? Und selbst wenn: Dann wäre das Gemecker gross, dass es ja keiner spielen könnte, weil nur die wenigsten HighEnd-Hardware besitzen. Und das Gemecker wäre auf Konsolenseite noch viel lauter. Und welchen Einfluß hat das auf den Spielspaß? Was will man denn bitte? Spielen - oder seinen Freunden die Allmacht des eigenen Rechners vorführen? Ist die Welt durch ein paar fehlende Nebel in Bodennähe jetzt weniger glaubwürdig, die Immersion sofort zerstört? Wenn man ein grafisches Skyrim versprochen, aber ein MineCraft geliefert hätte, hätte ich die Aufregung verstanden. Aber ja ich weiß, es geht ums Prinzip: Sich daran halten, was man verspricht. Doch wenn es so ist, wenn es um Grundsätzliches geht: Wer bitte ist so naiv einer PR-Abteilung auch nur ein "Guten Morgen!" zu glauben?!

    Niemand ist perfekt

    Ja, es hat auch Macken, macht nicht alles perfekt. Ja, das Gefühl der Schwammigkeit (bei beiden Eingabemöglichkeiten) beim Loslaufen kann aufgrund der versetzt eintretenden Beschleunigung nerven. Wenn man wieder mal am Loot oder am zu pflückenden Pflänzchen vorbei lief. Man gewöhnt sich aber daran oder schaltet um auf Gehen. Es wirkte eh noch nie realistisch, wenn ein Charakter permanent durch die Gegend hetzt, Avatar zu sein bedeutete auf Speed zu sein. Ja, es gibt auch wieder mal Gesichter-Recycling, die Animationen wirken nicht immer passend zur Stimmung der Situation oder laufen in Kämpfen (zu) lange ab, sodass nicht immer das Gefühl entsteht die Situation zu beherrschen. Vielleicht ist das sogar Absicht. Doch selbst wenn nicht: Wo, in welchem Game läuft dahin gehend alles rund? In 30 Jahren Spiel-Erfahrung ist mir da noch keins untergekommen.

    Steuerung aus dem Fegefeuer, nicht aus der Hölle

    Ja, die Steuerung hätte besser sein können. Aber auch viel schlechter, ich erinnere mich da mit hochgestellten Nackenhaaren an Dark Souls. Ich brauchte ca. acht Stunden, um mich an die Steuerung in The Witcher 3 zu gewöhnen, nun läufts perfekt. Mit Maus und Tastatur wohlgemerkt, da mein Gamepad nur für absolute Notfälle (in anderen Games) gekauft wurde. Ja, ich hätte mir auch lieber eine reine PC-Steuerung gewünscht, statt dieses Kompromisses, der weder M/T-, noch Gamepad-Nutzer wirklich zufrieden stellt. Doch das hätte geheissen: Doppelte Entwicklungskosten - oder Verzicht auf eine Plattform. Was man sich angesichts der Entwicklungskosten bei einem Team mit dreistelliger Mitarbeiterzahl wohl kaum erlauben kann. Ja, ist nicht alles das Gelbe vom Ei. Aber man kann sich daran (gut) gewöhnen, auf dem PC vermutlich sogar besser als auf den Konsolen, da man schliesslich Alternativen zur Auswahl hat.

    Skill-Tiefe VS Skill-Breite


    Ja, das Skillsystem entspricht keinem Bombast. Es dauert verhältnismässig lange aufzuleveln und man freut sich über jeden Fortschritt. Anders als die GameStar sehe ich das System aber nicht als "dünn" an. Beispiel: Investiert man auch nur 1 Punkt in das Abblocken, kann man bereits Geschosse umlenken, was sich erheblich (!) auswirkt. Bei zwei reflektiert man sie auf den Gegner. Bei drei machen diese dort doppelten Schaden. Was ist daran dünn? Man spielt zudem den Hexer Geralt aus Sapkowskis Romanen - und nicht Hypersupermegahardcore-Möchtegern-Ultrapro-Hastenichtgesehen Magier "Haumichtot" aus einem beliebigen MMO, wo man für jeden Hol- und Bringquest gleich mit Ultra-Overpowered-Skills ausgestattet wird, sowieso von Hause aus fliegen kann und somit sowohl zu sinnfreien Schwanzvergleichen einlädt, als auch zur allgemeinen Langeweile beiträgt.

    Langeweile durch Balance?

    Ja, die Gebiete und Gegner sind nicht immer ausbalanciert. Aber will ich das? Will ich mitlevelnde, stets einschätzbare Gegner, wie etwa damals in Oblivion, so dass ich im Endeffekt das Gefühl habe, man hätte auch schon zu Level-1-Zeiten mir gleich den Endboss präsentieren können? Sich das ganze Spiel sparen können? Ist es nicht vielmehr überaus befriedigend zurück zu kommen und jenen, die vor ein paar Leveln noch für viel Ärger sorgten, einen vom Pferd holten und dann feige zu zehnt niedermachten, mal so richtig auf die Fr...e zu geben? Quasi als Dankeschön? Ist es nicht spannend, dass man niemals weiss, wie leicht oder wie schwer ein Kampf werden wird? Jedenfalls nicht vorher? Das muss jeder für sich beantworten. Für mich sind das lediglich rhetorische Fragen.

    Maßgeschneidert VS Fliessband

    Ja, das Crafting ist unübersichlich, häufiges Hin- und Herschalten zwischen den Reitern und Personen ist vonnöten. Doch wie sieht es in der Praxis aus? Man stellt ein alchimistisches Gebräu eh nur ein Mal her, danach übernimmt das das Spiel automatisch im Tageswechsel, sofern man die Zutaten hat. Man kann nichts auf Vorrat herstellen, nicht über das Maximum des jeweiligen Tranks hinaus gehen. Was spannungs- und taktikfördernd ist: Wenn einem in einer Höhle der Nachtsicht-Trank "Katze" ausgeht, muss man zur Fackel greifen. Doch da sind entzündliche Gase. Also: Gucken und explodieren oder nix sehen aber eventuell überleben? Oder Gas geben und hoffen, dass "Katze" reicht. Waffen, Rüstungen? Schon allein wegen der Gewichtsbelastung stelle ich die erst dann her, wenn ich die Levelanforderungen erreicht habe. Und jeweils nur ein Exemplar für Eigenbedarf. Das heisst unterm Strich: Man craftet relativ selten - und dann kann man mit den Konsolenbedingten Problemen auch leben.

    Sherlock von Riva

    Ja, der Hexersinn wird inflationär häufig gebraucht, die Bezeichnung "Sherlock" von Riva (@ Michael Graf) ist nicht ganz von der Hand zu weisen ;-). Aber man spielt nun einmal einen professionellen Monsterjäger. Und was macht so ein Monsterjäger? Nun, eventuell Monster jagen. Dafür ist dann auch ein wenig Geschick beim Fährtenlesen nötig und jenes kann auch zu anderen Zwecken gebraucht werden. Geschmacksache. Ich hatte damit bisher nie ein Problem. Weder lief ich mit daueraktivem Sinn durch die Gegend, noch nervte mich dessen Einsatz.

    Wann ist ein Rollenspiel ein Rollenspiel?

    Ja, wider der Kategorisierung "Rollenspiel" kann man nur eine Rolle spielen: Die von Geralt (was auch nur teilweise stimmt, aber ich will nicht spoilern). Auch wenn man eine Frau ist im echten Leben. Na und? Wie oft spielte ich als Mann schon weibliche Charaktere? Lara Croft zum Beispiel. In MMOs sogar NUR weibliche, da die männlichen entweder sanft-schön oder pseudo-mystisch oder trottelig-doof oder Ich-bin-im-wahren-Leben-ein-Wandschrank-und-sehe-auch-so-aus daherkommen. Wenn sie nicht gleich wie ein Teddy-, Panda- oder sonst ein Plüsch-Bärli aussehen. Alles nicht so meins. Bin ich Geralt von Riva? Selbstverständlich nicht. Ich spiele aber MEINE Version von Geralts Geschichte, bin sozusagen ein Aspekt dieser Figur. Nicht Geralt ist mein Alter Ego - ich bin sein's! Wie bei Lara Croft also (als Mann). Ausserdem handeln Sapkowskis Romane nun mal eben überwiegend von Geralt - und nicht etwa von Rittersporn, dem selbst verliebten Barden oder Zoltan, dem besoffenen Zwerg (wobei beide interessant wären). Wie viele Rollenmöglichkeiten muss es geben, damit sich ein Rollenspiel auch Rollenspiel schimpfen darf? Drei wie beim Ur-Diablo? Zig wie bei World of Warcraft? Wer definiert das? Action-Adventure? Wenn The Witcher 3 ein Action-Adventure ist, was ist dann Dragon Age Inquisition? Ein Schlauch-Shooter mit WiSim-Elementen?

    GameStar liegt richtig

    Jeder hat ein Recht auf seine Meinung.
    Meine ist mehr oder minder die von der (achso unseriösen) GameStar:
    All diese oben genannten Schnitzer verzeihe ich The Witcher 3, denn dafür kann es das, was es eigentlich soll, worum es eigentlich geht, richtig, richtig gut.

    Konsequent im Kompromiss

    CDPR hat die Witcher-Trilogie konsequent begonnen, konsequent weiter entwickelt und nun konsequent beendet. Konsequenz war auch stets das Synonym für die moralisch nie eindeutigen Entscheidungen des Hexers. Daher ist es umso erstaunlicher, dass der dritte Teil, wenn man ihn en gros betrachtet durch einen ganz anderen Begriff zu brillieren scheint, der zudem noch wie das exakte Gegenstück zu "Konsequenz" anmutet, obschon er ebenfalls mit "K" beginnt:
    Kompromisse.

    Das sieht man an der Steuerung, man sieht es in den Kämpfen, man sieht es in den Optionen (wo man sogar das gesamte Interface ausblenden kann, damit sich auch Gothic-like-Puristen wohl fühlen). Diese Kompromissbereitschaft, unter der weder der Hardcore-RPGler, noch der Gelegenheitsabenteurer zu sehr leiden müssen, mit der sie sich beide arrangieren können - die ist wiederum konsequent durchgezogen worden. Wegen eines weiteren Begriffs, der mit "K" beginnt, nämlich "Konsole".
    Ob es uns PC-Spielern gefällt oder nicht, aber der Konsolenmarkt kann von Firmen nicht vernachlässigt werden. Die Frage ist nur, welches Niveau wir dadurch erhalten. Wenn es immer das des Witchers wäre, hätte ich nichts dagegen.

    Über den Autor

    Yeager
    Chuck Yeager durchbrach als erster Mensch die Schallmauer.
    <br/>Ich stolperte über seinen Namen als damals noch kleiner Junge beim Gucken von "Der Stoff aus dem die Helden sind".
    <br/>Sein Name gefiel mir, wurde zum Nick und blieb es.

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