Wer die Wahl hat, hat die Qual

Von 8Lisa91 · 19. Oktober 2015 · Aktualisiert am 19. Oktober 2015 ·
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  1. Videospiele führen uns oft an Orte, die wir im echten Leben nie betreten würden. Sie erzählen Geschichten, die wie im Film, im Fernsehen und in der Literatur realitätsnah oder vollkommen fantastisch sein können. Und sie bürden uns manchmal Entscheidungen auf, die wir sonst nie fällen müssten.

    Ich stehe vor der verschlossenen Tür einer Hütte und habe die Wahl, entweder dem gestürzten Mädchen zu helfen, das noch auf dem Boden liegt und um Hilfe ruft, oder nach dem Schlüssel zu greifen, der direkt vor mir blinkt. Irgendwo, nur wenige Meter entfernt, lauert noch das Ding, das uns verfolgt hat. Meine Freunde schreien durcheinander. "Helfen!", rufen die meisten, aber ich entscheide mich dafür, mir den Schlüssel zu schnappen und die Tür aufzusperren. Ich will nur noch eins: In die verdammte Hütte, denn da drin kommt es mir sicher vor.
    Die aufregende Musik ebbt ab. Die Gefahr scheint vorerst gebannt. Sowohl das Mädchen als auch meine Spielfigur haben es unversehrt in die sicher scheinenden vier Wände geschafft. Die Freunde, die neben mir auf dem Sofa sitzen, atmen erleichtert auf und lachen. Sie ziehen mich mit meiner Entscheidung auf, sich selbst zu retten, und sagen Dinge wie "Jetzt wissen wir wenigstens, woran wir sind, wenn wir uns mal in so einer Situation befinden." Nur die Freundin, die genau neben mir sitzt, meint, dass sie sich genauso entschieden hätte wie ich. Eine Diskussion entsteht, in der Argumente für und wider der beiden Möglichkeiten besprochen werden und in dessen Verlauf sich die ein oder andere Meinung ändert.

    Diese Entscheidung musste ich unter Zeitdruck fällen. Und man könnte nun natürlich sagen, dass das einfach nur im Spiel geschah und ich im schlimmsten Fall nur einen NPC auf dem Gewissen hätte, dessen Tod mich im echten Leben nicht weiter belastet, aber blitzt da nicht doch eine kleine Spur des "wahren Selbst" hervor? Würde ich nicht auch im echten Leben eher nach dem Schlüssel greifen und die Tür öffnen, anstatt einer Person, die etwas entfernt auf dem Boden liegt und hinter der sich irgendwo noch eine Bedrohung befindet, aufhelfen?
    Natürlich weiß ich das nicht. Ich bin noch nie mit jemandem vor einem Verfolger davongerannt und musste mich noch nie entscheiden, ob ich entweder nach dem Schlüssel oder nach meiner Begleitung greife. Wirklich logisch gedacht, habe ich in dem Moment im Spiel jedenfalls nicht, da ist einfach eine Art Fluchtreflex durchgekommen. Im Zweifelsfall wäre ich wohl einfach ein grauenhafter oder egoistischer Flucht-Partner, aber wenigstens wären wir sicher im Haus.

    Als Spieler ist man es gewöhnt, dass die eigenen Entscheidungen in den meisten Spielen nicht viele Auswirkungen auf die Handlung haben. Aber fies sind sie manchmal dennoch. Wer SOMA gespielt hat, weiß, vor welch teuflische Wahl man an dem ein oder anderen Punkt gestellt wird. Und egal, für was man sich entscheidet, danach hat man das Gefühl, sich für das Falsche entschieden oder etwas Böses getan zu haben. Auch wenn man hier, anders als im ersten beschriebenen hektischen Szenario, die Zeit hat, über die Wahlmöglichkeiten nachzudenken und die eigene Wahl den Verlauf der Geschichte nicht verändert, macht es das nicht unbedingt besser, eher schwerer. Ja? Nein? Nein? Ja? Je mehr man denkt, desto schwerer fällt die Entscheidung, bis man sich am Ende schweren Herzens doch für eine der beiden Möglichkeiten entscheidet. Gewissensbisse plagen einen noch lange nach dem Entschluss.
    Doch so unangenehm diese Stellen auch sind, sie zeigen einem eben doch einen Teil der eigenen Person, die man zuvor noch nicht kannte. Sie zeigen einem, was für eine Person man ist, wenn man nur die Wahl zwischen zwei schlechten, unangenehmen oder fiesen Möglichkeiten hat, die man beide schrecklich findet. Gerade wenn man die Zeit dafür hat, gründlich nachzudenken, erfährt man vieles über sich selbst. Vor allem, wenn man sich selbst hinterfragt und über die Gründe nachdenkt, wenn man erkennt, warum man sich wie entschieden hat. Man erkennt die Art, wie man nachdenkt, wie man an Probleme herangeht und Lösungen findet. Oder eben nicht, wenn es keine Lösung gibt.

    Dass das dann nur im virtuellen Rahmen stattfindet, macht es einem im Nachhinein leichter. Man muss sich nicht ganz so sehr um Konsequenzen scheren. Im schlimmsten Fall fängt man halt einfach noch mal von vorne an und macht es besser oder versucht es zumindest. Das macht einen entscheidungsfreudiger. Oder man macht Dinge, die man im echten Leben nie machen würde. Man wagt mehr.
    Irgendwie ist das aber auch wie im echten Leben. Manchmal muss man sich mit dem abfinden, was schief gelaufen ist. Manchmal hat man nur die Wahl zwischen schlimm und schlimmer. Manchmal macht man Fehler. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als mit dem Blatt zu spielen, das man auf die Hand bekommen hat. Die nächste Entscheidung wartet eh schon.
    Pech haben dann nur die Menschen, die Probleme damit haben, sich für etwas zu entscheiden, aber für die sind solche Spiele dann vielleicht ein gutes Training. :D

    Über den Autor

    8Lisa91
    Schreiben, Kino, Games&Medien, Kultur

Kommentare

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  1. 8Lisa91
    Ryuzaki, ich verstehe, was du meinst. Meine Schwester ist auch so eine chronisch Unentschlossene und es nervt mich manchmal auch total :D Es gibt Dinge, bei denen überlege ich auch eine Zeitlang, bis ich mich dann letztendlich entscheide, aber im Normalfall mache ich das ziemlich schnell. Vielleicht, weil ich nicht daran denke, was alles schief laufen kann, und ich mir nicht so nen Kopf mache, was ich verpassen würde oder was für "schreckliche Konsequenzen" eine "falsche" Entscheidung mit sich bringen könnte. Immerhin weiß man ja im Voraus selten, was alles passieren kann und das finde ich nicht schlimm :)
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  2. Ryuzaki
    Es ist auch für einen selbst wichtig, sich mit seinen Entscheidungen nicht zurückzuhalten. Wenn ich in meinem eigenen Leben nicht die Entscheidungen treffe, wer dann? Ein anderer wird mir das nicht abnehmen. Auch kann ich es nicht ausstehen, wenn Leute ewig bei einer Sache herum eiern und sich nie für einen Weg entscheiden können. Selbst wenn dieser Weg nicht der optimale ist, so möchte ich diesen doch immer mit besten Gewissen beschreiten und dazu stehen und nichts bereuen. Selbst dann, wenn es nicht immer einfach ist. Aber das ist eine Erkenntnis, die ich selbst erst machen musste.

    @ Yeager
    Ich weiß, was du meinst. Was habe ich mich damals geärgert, als am Ende der Selbstmordmission einer aus meinem Team gestorben ist. Und was habe ich mich geärgert, als ich beim zweiten Durchgang die besagte Person am Leben halten konnte, aber dafür eine andere umkam. Erst beim dritten Anlauf habe ich es dann endlich geschafft, alle Teammitglieder am Leben zu erhalten. Ich habe mir damals wie blöd ein Loch in den Bauch gefreut, so sehr sind mir die Leute ans Herz gewachsen. :D
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  3. 8Lisa91
    Im Großen und Ganzen habe ich auch keine Probleme damit, mich für etwas zu entscheiden. Manche Entscheidungen sind schwerer als andere, aber das geht ja jedem so und kommt ganz auf die Sache an, um die es geht.
    Ich bewundere die Entschlossenheit, mit der du deine Meinung äußerst, auch wenn du dir damit nicht immer Freunde machst. Lustigerweise geht es mir manchmal ähnlich. Bei manchen Dingen kann man einfach nicht den Mund halten. Wenn ich allerdings versuche, diplomatisch und sachlich meinen Standpunkt zu erklären, haben die meisten Menschen kein Problem damit, auch wenn sie nicht meiner Meinung sind bzw sie können es wenigstens akzeptieren :)

    @Yeager: Es ist manchmal echt erstaunlich, wie sehr einem Videospielcharaktere ans Herz wachsen können und wie einen Skrupel plagen, wenn man seinen/ihren Tod verschuldet o. Ä.
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  4. Bellasinya
    Ja Entscheidungen sind schwer. Ich bin in Spielen auch häufig freier und mutiger was meine Entscheidungen angeht. Aber manchmal denke ich auch da, ewig nach. Vor allem wenn es um gewissens Entscheidungen geht oder um zwei Personen, die beide nur Pest oder Cholera sind, wie zum Beispiel bei Pillars of Eternity. Ich bin häufig nicht glücklich mit der Entscheidung, aber wenn dann muss ich dahinterstehen. Nicht einfach, aber gerade das hat mich auch im normalen Leben gelehrt den Mund aufzumachen und unangenehme Themen anzusprechen oder mich einzuschalten wenn ich etwas unmöglich fand. Das hat mir zwar oft furchtbaren Hass gebracht und ein Zorn der nur auf mich konzentriert war. Und andere Leute, die sich plötzlich raushalten, sodass ich alleine dastehe. Trotzdem fühle ich mich besser, dass ich nicht den Mund gehalten habe. Und zu allen die dann hintenrum zu mir kamen und mir gesagt haben, dass sie auf meiner Seite sind habe ich dann häufig gesagt. Danke, aber das bringt ja auch nichts.
    Spiele zeigen, dass man sich manchmal entscheiden muss, und dass man dann damit leben muss. Es ist nicht immer bequem oder gut, aber immerhin hat man sich entschieden.
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  5. Yeager
    Normalerweise bin ich eher ein Freund, als ein Feind von Entscheidungen. Ich habe damit kein Problem. Jedenfalls nicht immer.
    Bei Mass Effect war es manchmal anders, gerade bei den Selbstmordmissionen. Das ging mir unter die Haut, denn man entwickelte eine Art Beziehung zur jew. Figur. Sich dort zu entscheiden, wen man in den sicheren Tod schickt, fiel mir ausserordentlich schwer.
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  6. 8Lisa91
    Nach der Entscheidung, in der ich nach dem Schlüssel gegriffen und nicht Jessica geholfen habe, haben wir darüber diskutiert und mir kam es in dem Moment einfach sinnvoll vor, den Schlüssel zu holen. Ich hatte ja das Ziel vor Augen: Rein in die Hütte. (Meine Schwester, die damals auch anwesend war, heißt ebenfalls Jessica, woraufhin ich mir noch mehr Vorwürfe anhören musste, weil ich der NPC-Jessica nicht geholfen hatte :D )
    Die Freundin, die der gleichen Ansicht war wie ich, hat damals auch ein logisches Argument geliefert, wie ich finde. Sie meinte, dass die Person am Boden ja auch selber aufstehen könne und während sie das macht, müsse sich einer ums Tür Öffnen kümmern. Natürlich kommen dann Fragen auf, ob die Person das nicht alleine schafft, ob man sich nicht selber in unnötige Gefahr begibt, etc. pp.
    Ich finde es aber sehr interessant, wie Leute denken/sich entscheiden und das dann erklären, da gibt es oft große Unterschiede und interessante Argumente, also danke für deinen Kommentar! :)
    Grüße
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  7. Ryuzaki
    Ich selbst bin Jessica damals zu Hilfe geeilt und hab den Schlüssel erst einmal links liegen lassen. Ich konnte und wollte in dem Moment einfach nicht riskieren, dass ihr etwas zustößt und sie zu Schaden kommt.
    Aber ob ich mich im wirklichen Leben auch so entschieden hätte... vermutlich hätte ich da eher nach dem Schlüssel gegriffen und einfach gehofft, dass die gestürzte Person von selbst wieder auf die Füße kommt. Denn auch wenn ich unter Zeitdruck eine Entscheidung treffen muss, so hab ich im Hinterkopf doch immer noch das Wissen, dass das hier nur ein Spiel ist und mir persönlich nichts passieren kann. In einem Spiel möchte ich, trotz der drohenden Gefahr, der "Good Guy" sein, der vielleicht nicht immer vernünftig aber, meinem ethischen Verständnis entsprechend, richtig handelt.
    So auch bei The Walking Dead von Telltale: Bleibe ich bei einer Person und helfe ihr gegen die anstürmenden Zombies oder fliehe ich. Im Spiel bin ich natürlich geblieben, in der Wirklichkeit würde ich sicherlich die Beine in die Hand nehmen und um mein Leben rennen.

    Grüße
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