Die philosophischen Ideen in Bioshock 2

Von NikolajNeron · 31. August 2016 · Aktualisiert am 5. September 2016 ·
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  1. Nach meinem Artikel über den ersten Teil der Videospielreihe „Bioshock”, in dem ich die dort repräsentierte politische Philosophie analysiert habe, widme ich mich nun in ähnlicher Absicht den Ideen des 2010 erschienenen Bioshock 2. Jener Teil erfreute sich gerade bei Erscheinen keiner allzu großen Beliebtheit. Zu abgeschlossen, zu imposant wirkte der Vorgänger, so dass es eine Fortsetzung von vornherein schwer haben musste. Auch die spielerischen Neuerungen blieben überschaubar. Doch vielleicht ist jetzt gerade vor dem Erscheinen von „BioShock: The Collection” die Zeit für eine Neubetrachtung gekommen. Mancher mag in der Retrospektive sogar zu der Schlussfolgerung gelangen, dass Bioshock 2 vielleicht sogar der beste Teil der Serie ist. Was die philosophischen Ideen und die Vorstellungen eines idealen Zusammenlebens angeht, kann dieser Teil jedenfalls durchaus mithalten.

    Auch hier ist wieder eine Spoilerwarnung auszusprechen. Ich bemühe mich keine großartigen Details zur eigentlichen Haupthandlung preiszugeben, doch an vielen Stellen lässt sich dies natürlich nicht vermeiden. Wer ein völlig unvoreingenommenes Spielerlebnis haben möchte, sollte Bioshock 2 vorher selbst durchspielen.

    Die Grundideen Sofia Lambs

    Bioshock 2 führt uns erneut in die Unterwasserstadt Rapture – acht Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils. Inzwischen hat die Psychologin Dr. Sofia Lamb die Kontrolle über Rapture übernommen. Sie ist die Hauptantagonistin und mit ihren Vorstellungen bildet sie einen starken Kontrast zum Antagonisten Andrew Ryan aus dem ersten Bioshock, der eine regelfreie, marktwirtschaftliche und libertaristische Utopie erschaffen wollte. Sie verachtet den Individualismus und hängt kollektivistischen Gedanken
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    an. Lamb ist die Stimme, die danach fragt, was mit denen geschieht, die in einer konkurrenzorientierten Gesellschaft abgehängt werden. Sie geriert sich als die Stimme der Schwachen. Bezeichnend dafür erzählt Bioshock 2 weniger die Geschichte der Eliten dieser Stadt wie noch der erste Teil, sondern führt uns in Gegenden, in denen sich einfache Menschen aufhalten. Man könnte fast sagen, dass das Team um den neuen Creative Director Jordan Thomas das alte Setting von Bioshock nahm und seine Prämissen radikal umgekehrte: Dieselbe Stadt, aber eine andere Perspektive. Nicht der Altruismus sei nach Lamb das Problem, wie es Andrew Ryan propagierte, sondern der Egoismus als zerstörende Kraft jeden Zusammenlebens. Lamb glaubt an die Förderung des Gemeinwohls jenseits bloßer Erfüllung individueller Interessen. Sie präsentiert uns die Antithese für alles, wofür Ryan stand, der die auf Konkurrenz sinnende Natur des Menschen bestärkte, während Lamb überhaupt hinterfragt, ob wir an eine solche Natur als Menschen gefesselt sind. Ist der Mensch nicht zu mehr fähig? Ließe sich nicht eine bessere Utopie mit besseren Menschen verwirklichen? Ryan baute eine Utopie um den Menschen herum. Sofia Lamb kommt zu der Einsicht, dass für eine perfekte Gesellschaft auch der perfekte Mensch notwendig wird.

    Der enorme Fortschritt und die Entdeckung einer Substanz, die es möglich macht, starke Genmanipulationen an Menschen vorzunehmen, bringt Sofia Lamb auf eine einmalige Idee: Was wäre, wenn man sämtlichen Egoismus aus einem Menschen verbannen könnte? Was wäre, wenn ein solches Wesen alle Bedürfnisse, Sorgen und Wünsche seiner Mitmenschen kennen würde, um das Allgemeinwohl zu fördern? Wäre dies nicht der perfekte Altruist? Dies ist das Ziel von Sofia Lamb und sie möchte diesen neuen Menschen schaffen, indem sie ihre eigene Tochter (Eleanor) dazu verwendet. Sie soll die erste „wahre Utopistin“ werden. Im Spiel übernehmen wir nun die Rolle eines Protektors („Big Daddy“ genannt), der Eleanor retten soll, bevor Sofia Lamb ihren Plan in die Tat umsetzen kann. Dies ist der grobe Rahmen, in welchem sich die Geschichte von Bioshock 2 entfaltet.

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    Symbolik und Referenzen

    Wurde Andrew Ryan nach dem Vorbild von Ayn Rand entworfen, so hat die Figur der Sofia Lamb durch ihre unterschiedliche Philosophie andere Quellen, worauf Creative Director Jordan Thomas einen Hinweis gab: „She is a very different thinker, based on John Stuart Mill and Karl Marx, and she is unwilling to allow any individual to compromise her plan.” [Link] Mit John Stuart Mill verbinden sie biografische Anlehnungen. Dieser wurde von seinem Vater James Mill streng in der utilitaristischen Lehre erzogen. Auch Sofia Lamb hatte einen intelligenten Mann als Vater, der ihr ähnliches beibrachte. Wir erfahren im Spiel, dass er Arzt gewesen sei und dass er sie lehrte einem einfachen moralischen Kalkül zu folgen: Jede Entscheidung muss sich nach dem allgemeinen Wohl richten. Von ihrem Vater hätte sie den sogenannten „Triage-Imperativ“ gelernt. Triage, zu deutsch „Einteilung“, ist eine Bezeichnung für ein Verfahren bei medizinischen Notfällen. Es geht darum eine Priorisierung vorzunehmen, wenn es zu viele Verletzte gibt um die die sich nicht gleichzeitig gekümmert werden kann. Dieser „Triage-Imperativ“ in seiner Lambschen Ausführung ist im Grunde ein utilitaristisches Prinzip: Handle so, dass der größte Nutzen für die Allgemeinheit produziert wird. Entscheidend ist dabei, dass man nicht auf den individuellen Nutzen, sondern auf den Gesamtnutzen schaut. Diese Erziehung gibt Sofia Lamb auch an ihre eigene Tochter weiter. Sie sagt ihr: „Du wirst erzogen werden wie ich selbst: dazu, das Wohl deiner Mitmenschen über dein eigenes zu stellen.“ Interessant ist in dieser Hinsicht auch, dass das geistige Vorbild John Stuart Mill durch seinem Vater eine Art erzieherisches Experiment über sich ergehen lassen musste. Sein Vater wollte aus ihm ein Genie machen, eine Person, die exemplarisch dazu beiträgt eine Reform der Gesellschaft anzustreben, die dem Utilitarismus genügt. In ähnlicher Weise versucht Lamb ihre Tochter Eleanor mit noch extremeren Mitteln zum perfekten Menschen zu machen. Nicht zuletzt ist John Stuart Mill auch noch ironischerweise derjenige, der als erster das Wort „Dystopie“ prägte.

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    Des Öfteren findet man im Spiel an den Wänden die Aufschrift „Lamb is watching you“ in Anlehnung an den Roman von George Orwell „1984“, eine der bekanntesten Dystopien eines totalitären Überwachungsstaates. Zweifellos sind viele Motive von der grenzenlosen Kontrolle, die sich über andere Menschen angeeignet wird, bis hin zur Gehirnwäsche in Bioshock wirksam. Dort treten sie insbesondere als genetische Manipulation und Abrichtung durch Pheromone auf. Interessanterweise wird die Überwachung auf beiden Seiten des ideologischen Spektrums thematisiert. Einerseits durch Lamb und ihre volle Kontrolle über Rapture, welches sich vollständig ihrem Ziel unterordnen muss, allerdings auch in der Vorgeschichte, wo der Libertarist Andrew Ryan noch die Fäden in der Hand hatte. In Rapture herrschte gegenüber den Anhängern von Lamb eine ähnliche Stimmung wie in den USA der Nachkriegszeit, der McCarthy-Ära, in der jeder Anflug sozialistischer Bestrebungen verfolgt und bespitzelt wurde. Dies wird durch die Person des Stanley Poole verkörpert, der sich unter die Anhänger von Lamb mischte, um sie zu infiltrieren: „Ryan geht gegen Sofia Lamb vor und ich soll dabei mitmischen. Sie bauen was auf, dass Lamb insgeheim eine Kommunistin ist […]. Ich mach mich an diesen Wales ran, der arbeitet für die Lamb. Ich tu so, als wollte ich beitreten. Dann werden wir ja sehen, ob er sich seinen Bart wegen Jesus stehen lässt oder wegen Karl Marx.“

    Mit Lambs Attacke auf das Verständnis von sich selbst als Individuum, findet sich auch wieder eine Referenz auf Ayn Rand. In der weniger bekannten Erzählung „Anthem“ malt sie sich eine dystopische Zukunft aus in der sämtliche Individualität getilgt wurde, so dass sogar das Personalpronomen „ich“ vollständig ersetzt wird durch „wir“. Jeder versteht sich nur noch als Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft wird im Roman als absolut rückständig dargestellt, so dass die Menschen glauben die Erde sei eine Scheibe und dass Aderlass eine gute Form der medizinischen Versorgung sei. Rands Kritik in dieser Erzählung ist eindeutig: Nur der Individualismus ermöglicht Fortschritt. Kollektives Denken behindere Innovation und befördert Rückständigkeit.

    Auffällig ist darüber hinaus die übertriebene religiöse Symbolik. Im Gegensatz zum Rapture von Andrew Ryan, in dem jegliche Religiosität verpönt war, sieht man im Rapture von Sofia Lamb überall Schreine mit Kerzen und Sprüche der Erweckung. Das Buch von Sofia Lamb „Einheit und Metamorphose“ (Unity and Metamorphosis) liegt überall aus und erscheint als Äquivalent zur Bibel. Sie selbst baut eine Art Kult auf, der sich die „Rapture-Familie“ nennt. Doch der Einzug der Religion ist keinesfalls ein Phänomen, welches erst in Bioshock 2 thematisiert wird. Wenn man sich im ersten Bioshock durch die Gebiete der Schmuggler kämpft, entdeckt man überall Bibeln, die offenbar illegal importiert wurden. Auch das Wundermittel für die Grundlage der Genmanipulation heißt bereits im ersten Teil „Adam“. Das Mittel, um bestimmte Fähigkeiten permanent einsetzen zu können „Eve“.

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    Im zweiten Bioshock ist das erste Graffiti, welches der Spieler sieht, die Aufschrift: „Fallen, Fallen Is Babylon“, was ein Ausdruck aus dem Johannes-Evangelium ist, wo es heißt: „Und er rief mit mächtiger Stimme: Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon, die Große, und ist eine Behausung der Teufel geworden und ein Gefängnis aller unreinen Geister“ (Joh 18:2). Das beschreibt in etwa die höllischen Zustände, die in Rapture Einzug erhalten haben. Sofia Lamb vereinigt allein in ihrem Namen beides: Wissen und Glauben. Der Name „Sofia“ kommt aus dem Griechischen und steht für Weisheit. Im Spiel ist sie Wissenschaftlerin und versucht ihre Utopie mit wissenschaftlichen Mitteln zu erreichen. „Lamb“ bedeutet im deutschen „Lamm“ und das Agnus Dei (Lamm Gottes) ist ein weitverbreitetes Symbol für Jesus Christus. Erst recht drängt sich die Symbolik auf, wenn man den Namen ihrer Tochter betrachtet. „Eleanor“ ist eine Abwandlung von Eleonore und bedeutet so viel wie „Gott ist mein Licht“. Das Lamm taucht sowohl im alten als auch im neuen Testament im Kontext von Tieropferungen auf. Mit Bezug auf Jesus wird im neuen Testament gesagt: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ (Joh 1:29; Joh 1:36). Die Rolle von Eleanor Lamb besteht in einer solchen Opferrolle, nur dass sie nicht für die Sünden der anderen stirbt, sondern ihre Persönlichkeit dafür aufgibt, andere vor Sünden zu bewahren. Sie soll das schlechte Egoistische tilgen und nur noch das gute Altruistische bewahren. Wenn Eleanor Lamb als „erste wahre Utopistin“ bezeichnet wird, so könnte man sie in Anbetracht ihrer Rolle auch ohne Probleme als „Messias“ sehen. Sie wird das Glück und die goldene Zeit bringen. Das ist die Rolle, die ihr von ihrer Mutter angedacht wird.

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    Ein neuer Mensch für ein absolutes Kollektiv

    Sofia Lambs Ideale lassen sich nicht einfach auf ein bestimmtes Programm eingrenzen, wie der Libertarismus oder der Objektivismus von Andrew Ryan in Anlehnung an Ayn Rand. Lambs Ideen sind eine breite Mischung aus einem gesellschaftlichen Kollektivismus, einem moralischen Utilitarismus und Einschlägen von religiösen Heilsvorstellungen sowie einer Vorstellung von einem „neuen Menschen“. Ich werde versuchen diese Ideen zu betrachten und wie sie sich im zweiten Teil von Bioshock niederschlagen.

    Hinter dem Begriff Kollektivismus verbergen sich viele unterschiedliche Positionen in Abgrenzung zum Individualismus. Im groben lässt sich sagen, dass ein Kollektivismus dem Kollektiv eine Priorität gegenüber dem Individuum zubilligt: Das Ganze ist mehr wert als der Einzelne. Kollektivismus lässt sich als Begriff mit vielen Positionen von der liberalen Demokratie bis zum totalitären Regime vereinbaren. Man sollte sich deshalb nicht davon verführen lassen, anzunehmen, dass diese Position sofort bedeutet, dass der Einzelne keine Rolle spielt. In schwach ausgeprägten Vorstellungen des Kollektivismus könnte man schlicht sagen, dass das Individuum der Gemeinschaft nicht schaden oder nicht auf Kosten aller anderen Leben sollte. In bestimmten Ausprägungen geht der Kollektivismus mit der Überbetonung von kollektiven Konstrukten wie Volk oder Nation, aber auch schlicht territorialen Abgrenzungen wie Stadt oder Dorfgemeinschaft einher. Auch Klassen oder Bevölkerungsschichten können kollektive Vereinigungen bilden, die über dem Individuum stehen. Bei Sofia Lamb entdecken wir eine besondere Form des Kollektivismus, der sich nicht in ein vernünftiges Gleichgewicht mit individuellen Zielsetzungen und Bestrebungen setzen möchte, sondern das Individuum komplett auflösen will. Lamb hält nicht nur den Egoismus für grausam, sie hält sogar die Tatsache für problematisch, dass Menschen von sich selbst als ein „Ich“ denken, also die Tatsache, dass wir ein Bewusstsein von uns selbst haben: „Selbst-Bewusstsein ist kein Wunder“, sagt Sofia Lamb zu ihrer Tochter: „Es ist ein Trick der Gene, eine endlose innere Leier, die ständig fragt: ‚Was ist für mich drin?‘. Um der Welt zu dienen, müssen wir taub werden gegen das Selbst.“ Eleanor sollte deshalb als erste lebende Utopistin „der ganzen Welt dienen, ohne eigene Interessen. Zwingt man einem solchen Wesen ein Bewusstsein auf, kappt man ihm die Flügel.“ Das ist viel radikaler als jede kollektive Vorstellung, die man sich ausmalen kann.

    Lamb meint, dass eine Ausschaltung des Selbst-Bewusstseins nicht allein durch Erziehung oder kulturellen Wandel zu erreichen ist. Deshalb bedient sie sich der biologischen Mittel, die ihr zur Verfügung stehen. Durch den Fortschritt in der genetischen Manipulation lässt sich ein Mensch schaffen, dem dieses Selbst-Bewusstsein fehlt. Es ließen sich einzig die altruistischen Eigenschaften bewahren und jeder evolutionären Entwicklung trotzen. Das Motiv des „neuen Menschen“ fand sich historisch insbesondere in realsozialistischen Gesellschaftsvorstellungen wieder. Die Idee ist, dass eine Gesellschaft nur so gut ist, wie ihre Mitglieder. Um eine wirklich neue Gesellschaft aufzubauen mit einer neuen Moral bedarf es deshalb eines neuen Menschen. In der DDR sprach man deshalb auch von der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit. Anlehnungen mag es auch zum Konzept des „Übermenschen“ bei Nietzsche geben (bei diesem jedoch mit einem spezifisch anti-kollektivistischen Tenor). Doch die Frage nach einem neuen Menschen erhält bei Lamb eine kritische Zuspitzung. Dieser neue Mensch wächst in Lambs Vorstellung nicht einfach kulturell über ein früheres Menschsein hinaus oder ist das Ergebnis wachsender Bildung und Einsicht. Er ist das Produkt des biologischen Fortschritts. Der neue Mensch (oder der ‚Utopist‘) kann bei Lamb wissenschaftlich erschaffen werden und ist nicht das Ergebnis persönlicher Anstrengung, um über sich selbst hinauszuwachsen.

    Eine solche Form des Kollektivismus passt gut mit der moralischen Grundvorstellung zusammen, die sich auf Altruismus und das Wohl für die Allgemeinheit stützt. Man muss nach Lamb die egoistischen Eigenschaften bekämpfen und sie nicht (wie Ryan) auch noch fördern. Normalerweise koste es Kraft sich um das Wohl anderer zu sorgen, normalerweise sei es schwierig nicht in das Konkurrenzdenken und den eigenen Egoismus zurückzufallen. Doch dieser innere Trieb lässt sich durch technische Mittel überwinden. Über Gil Alexander, welcher die erste Versuchsperson vor Eleanor war einen neuen Menschen zu schaffen, sagte Sofia Lamb: „Dr. Alexander wird buchstäblich für das Allgemeinwohl leben. Seine Liebe und Loyalität wird sich gleichermaßen auf die gesamte Menschheit verströmen. Für mich ist das eine schwere Übung in Disziplin. Für ihn wird es Instinkt sein.“ Statt uns immer wieder zu zwingen hilfsbereit und altruistisch zu sein und vielleicht daran zu scheitern, können wir diesen inneren Kampf einfach umgehen. Warum nicht die schlechten Eigenschaften abtöten und nur die guten Eigenschaften belassen, wenn wir doch die technischen Möglichkeiten dazu haben? Doch wie genau kann man eigentlich entscheiden, was dem Allgemeinwohl am meisten dient und was nicht? Was genau ist eine altruistische Handlung? Welcher Maßstab existiert dafür? Sofia Lambs Anlehnung an John Stuart Mill verriet bereits die Nähe zum Utilitarismus. Der Utilitarismus sagt im Groben: Eine Handlung ist genau dann richtig, wenn sie das größte Glück der größten Zahl mehrt bzw. den größten Nutzen stiftet. Wenn Sofia Lamb den Altruismus und das Leben in der Gemeinschaft buchstäblich predigt, stellt sich die Frage, weshalb sie dann zum Erreichen ihrer Ziele auf Mord und Entführung zurückgreift oder gar das Leben ihrer Tochter billigend aufs Spiel setzt? Dies ergibt sich aus dem erwarteten Nutzen, den die Handlungen von Lamb bewirken sollen. Die perfekte Gesellschaft wiegt alles wieder auf, was dafür getan werden muss, um sie zu erreichen. Ein Utilitarist müsste sagen: Wenn ich einen Menschen töten muss, um zehn Menschen zu retten, dann müsste ich es tun. Das ist anders als eine ethische Überzeugung, die davon ausgeht, dass der Mensch beispielsweise unbedingte Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum hat, die auch dann nicht ohne seine Zustimmung gebrochen werden dürften, wenn dies den Nutzen aller anderen deutlich steigern würde (dies würde Andrew Ryan sagen). Folter ist in vielen Staaten beispielsweise auch dann verboten, wenn die Informationen, die durch diese Folter erhalten werden könnten, zur Rettung von vielen Leben führen würde.

    Weshalb Lamb auch nicht davor zurückschreckt, ihre Tochter Gefahren auszusetzen, besteht in ihrer Ablehnung von Familienbindungen, da diese für parteiliche und nicht am Gemeinwohl orientierte Handlungen verantwortlich ist: „Biologische Loyalität bringt uns gegen den Rest der Welt auf, den wir doch gleichermaßen lieben sollten.“ Ein
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    konsequenter Utilitarist darf seine eigene Familie nicht besser behandeln als alle anderen. Für Sofia Lamb ist die Familienbindung ein biologischer Fehler oder zumindest eine Last. Selbst der religiöse Kult, den Sofia Lamb erschaffen hat, ließe sich durch das utilitaristische Paradigma erklären. Es wirkt auf dem ersten Blick widersprüchlich, dass eine brillante Wissenschaftlerin sich gleichsam einen irrationalen religiösen Kultus hingibt. Das Spiel lässt es aber mehr oder weniger offen, ob sie selbst von allem überzeugt ist, woran ihre Jünger glauben (als Kontrast gibt es im Spiel „Vater Wallace“ – ein Anhänger Lambs, der ein viel stärkerer religiöser Fanatiker ist). Übereinstimmend mit ihrer utilitaristischen Ausrichtung wäre es plausibel anzunehmen, dass ihr die Religion für das Erreichen ihrer höheren Ziele schlicht nützlich ist. Die Religion ist, frei nach Karl Marx, „Opium des Volks“. Das ganze Szenario zeigt uns, wie Religion von Machthabern politisch instrumentalisiert werden kann und wie sich damit Massen für die eigenen Interessen mobilisieren lassen.

    Lambs Philosophie als unklares Gesellschaftsmodell

    Der prägende Unterschied zwischen den Darstellungen einer politischen Gemeinschaft in Bioshock 1 und Bioshock 2 besteht darin, dass im ersten Bioshock die Zeit der Utopie schon vorbei ist. Sie ist bereits gescheitert, wenn man sich als Spieler durch Rapture bewegt. Im zweiten Bioshock erleben wir stattdessen das „Werden“ einer Utopie, eine Gemeinschaft, die erst noch geschaffen werden muss . Ein häufiges Motiv ist deshalb auch die Entwicklung oder Umgestaltung, denn nicht nur Sofia Lambs Hauptwerk heißt „Einheit und Metamorphose“, sondern auch das Symbol ihrer Bewegung ist der Schmetterling, ein schönes Insekt, welches jedoch erst am Ende seiner Entwicklung zu dieser Schönheit gelangt. Wie die Gesellschaft am Ende aussieht, die sich Lamb vorstellt, wird nicht dargestellt. Wir sehen ihre Absichten und Theorien, wir sehen wie sie kollektives Gedankengut etabliert, aber noch nicht, wie es aussieht, wenn Eleanor tatsächlich zur ersten Utopistin geworden ist. Das Spiel legt darüber hinaus nahe, dass sie die einzige ihrer Art werden kann, da das Verfahren äußerst aufwändig ist und die erste Testpersonen, Gil Alexander, davon in den Wahnsinn getrieben wurde. Überwältigt von den vielen Wünschen und Neigungen der Menschen, die er als perfekter Altruist in ein Gleichgewicht bringen musste, zogen diese ihn mal in die eine und mal in die andere Richtung, so dass er es nicht verkraften konnte. Es ist wie eine Metapher auf das Scheitern planwirtschaftlicher Bestrebungen, da es unmöglich sei, wie die Befürworter des freien Marktes sagen würden, die vielen Interessen der Menschen von einer zentralen Stelle ausbalancieren zu lassen. Die Optimalvorstellung sieht jedoch derart aus, dass Eleanor bedingt durch ihre genmanipulierten Kräfte und ihre weit fortgeschrittene Intelligenz ein perfektes Zusammenleben ermöglicht.

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    Eleanor Lamb wäre dann so etwas wie ein fleischgewordener „unparteilicher Beobachter“ (ideal observer oder impartial spectator). Dies ist eine Denkfigur, wie sie prominent bei Adam Smith auftaucht, auf die sich aber insbesondere Utilitaristen berufen. Es geht dabei im groben darum, dass sich bei ethischen Streitigkeiten vorgestellt wird, wie ein wohlwollender Beobachter entscheiden würde. Dieser Beobachter wäre nicht Teil des Streits, hätte selbst keine Eigeninteressen und könne deshalb völlig objektiv Urteile fällen. Unparteilich handeln heißt nach den Utilitaristen so zu handeln, dass der größte Nutzen erzielt wird. Dies soll der Bewertungsmaßstab sein und nicht das Schicksal einer einzelnen Person und sei dies auch ein Familienmitglied. Dass es einen vollständig unparteilichen Beobachter gibt, der nicht durch Vorurteile oder durch irgendeine noch so entfernte Parteinahme in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkt wäre, ist ein kaum zu erreichendes Ideal. Selbst für Richter gilt dies nicht und diese sind auch gebunden an das Gesetz, welches für sie die Leitlinie ihres Urteils bildet. Eleanor jedoch wäre als Utopistin ohne Eigeninteresse für eine solche Rolle perfekt geeignet.

    Dies zu erreichen hat jedoch seinen ethischen Preis und Bioshock 2 führt uns die Schrecken, die von solchen Visionen ausgehen, bestens vor Augen. Einen Kollektivgeist zu schaffen und das Selbst zu unterdrücken, erfordert massive Eingriffe in die Freiheit derjenigen, die diesen Kollektivgeist verkörpern sollen. Es erfordert ein strenges, totalitäres Regime, welches wahlweise mit religiösen Heilsversprechungen gekoppelt wird, um dieses Handeln zu rechtfertigen. Selbst wenn wir eingestehen, dass Menschen zu egoistischen Verhalten neigen und selbst wenn wir eingestehen, dass dies moralisch verwerflich ist, stellt sich immer noch die Frage, ob es deshalb legitim ist dieses Verhalten durch Manipulationen (seien sie nun genetischer oder anderer Art) zu ändern. Wahrscheinlich würde Sofia Lamb dem entgegenhalten, dass wir selbst mit einer vorurteilsbehafteten ideologischen Auffassung auf Gesellschaft blicken, indem wir diese lediglich als eine Ansammlung von Individuen betrachten. Tatsächlich, so würde sie vielleicht sagen, geht es um das Netzwerk oder die Beziehungen zwischen Individuen. Dies ist es, was zählt, genauso wie die individuelle Ameise unwichtig und dumm ist im Vergleich zur Intelligenz und Macht einer Kolonie. Und ist es für den Menschen nicht ohnehin unmöglich ein Leben gänzlich ohne Gemeinschaft zu führen? Ist nicht der Reichtum oder der Wohlstand, den sich viele angeeignet haben, nur unter gemeinschaftlichen Umständen möglich? Wieviel hängt denn tatsächlich von individueller Leistung ab? Was hängt dagegen von den sozialen Bedingungen ab, in die man hineingeboren wird? Das sind legitime Fragen, die Lamb gerade in Absetzung zu Andrew Ryans radikalen Libertarismus stellt, die aber von ihr in einer äußerst radikalen Weise beantwortet werden.

    Fazit

    Bioshock 2 ist das Pendel, welches im Gegensatz zum ersten Bioshock in eine andere Richtung ausschlägt. Hätte man aus dem ersten Teil die Lehre ziehen können, dass die grenzenlose Verfolgung der eigenen Interessen problematisch für das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist, so zeigt Bioshock 2, dass auch ein extremer Kollektivismus nur ein weiteres unheilvolles Extrem ist. Die Philosophie und die politischen Ideen lassen sich allerdings in diesem Teil nicht so deutlich greifen wie im ersten Teil. Es ist eine bunte Mischung verschiedenster Fragestellungen und unterschiedlichen philosophischen Konzepten. Zumindest dahingehend geht das Spiel meiner Ansicht nach sogar noch deutlich über seinen Vorgänger hinaus. Mit dieser Breite kommt jedoch auch ein Verlust an Profil sowie Nachvollziehbarkeit zustande, so dass die gezeichnete Utopie und die Ideale dahinter mitunter als weniger eindringlich erscheinen als beim großartigen Vorgänger. Nichtsdestotrotz bleibt Bioshock 2 mit seinen zahlreichen philosophischen und kulturellen Referenzen ein Kunstwerk, welches zum Nachdenken anregt und damit der Serie treu geblieben ist.
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Kommentare

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  1. GreenStorm
    Dem würde ich so definitiv nicht zustimmen. Das mag sicherlich für bestimmte Gesellschafts- oder Altergruppen gelten, aber für ebensoviele auch nicht.
    Ich habe mich im Gegenteil sehr darüber gefreut, diese zwei relativ einfachen und klaren Texte, die viele politische und philosophische Gedanken anschaulich (anhand der Spiele, um die es ja geht), und Kritik daran erläuternd anmerken. Toller Artikel, der auch keine 10 Minuten Lesezeit in Anspruch nimmt, und viel Gesellschaftskritik des Spiels für die breite Masse zugänglich macht.

    Ein Review "aus der Sicht eines Gamers" in Punkto Mechaniken, Grafik etc. fand ja bereits durch Spielemagazine wie dies hier eines ist statt.
  2. matssa
    Du gehst davon aus, dass nur Deppen auf Gamestar unterwegs sind.

    Es wird sicher einige promovierte, vielleicht sogar habilitierte Gamer geben, die sich hier und jetzt noch mehr über einen solchen Artikel freuen als ich mit meinem popeligen Studienabschluss.

    Es gibt so viele Gamer. Schüler, Azubis, Studenten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Arbeitslose, alte, junge, Nerds und Partygänger. Ist doch super, wenn es auch mal Artikel gibt, die jeden zum Nachdenken anregen können.

    Übrigens finde ich es schade, dass so etwas die User übernehmen müssen. Einen solchen Artikel würde ich mindestens im Plus Angebot erwarten.
      1 Person gefällt das.
  3. Trashmaster
    Sehr Gute Arbeit!
    Hat sich Gut Lesen lassen und wirklich Spaß gemacht bis zum Schluß.

  4. TheVG
    Sorry für die Verspätung, aber der Urlaub kam dazwischen :)

    Erst mal Glückwunsch zu deinem tollen zweiten Blog zu "Bioshock", liest sich hervorragend und hat einen tollen Überblick inne.

    Ich fand den zweiten Teil spielerisch jetzt nicht wegweisend und in der Story stellenweise etwas wirr. In der Aussage hat man vieles, wie du schon erwähnt hast, umgekehrt, da habe ich mich aber auch gefragt, ob das reine Umdrehen um 180 Grad die Figuren betreffend denn sinnvoll war. Da hätte auch das Spiel ein wenig mehr Änderung erfahren dürfen, leider waren mir die Änderungen ein wenig zu simpel geraten.

    Wenn die Spiele allgemein betrachtet dazu taugen sollten, viele Aspekte von Herrschaftssystemen zu beleuchten, dann hat auch Teil 2 sehr gut funktioniert, keine Frage. Trotzdem wirkte es ein wenig so, als hatte man im Baukastenprinzip Ryan entfernt und Lamb eingesetzt. Ist auch nur meine Sichtweise, weil Sequels leider nach dem Prinzip einfachhalber so entwickelt werden.
  5. Yeager
    Intelligent - aber zu intellektuell.
    Die Kunst besteht darin dasselbe zu sagen, was du sagtest - es aber einfacher und v.a. kompakter zu formulieren. Eine Kunst, an der ich schon so manches Mal verzweifelte :)

    Eine Bitte für zukünftige Blogs:
    Mehr Blöcke mit mehr Zwischenüberschriften bitte. Erleichtert das Lesen ungemein. Ansonsten steht man vor einer Wall of Text, die abschreckend wirkt. Ich kenne mich damit (leider) aus.
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  6. NikolajNeron
    Vielen Dank für die tollen Rückmeldungen! Ich habe mich über jeden einzelnen Kommentar wirklich sehr gefreut und das motiviert mich auch sehr in Zukunft vielleicht noch weiterzuschreiben!

    Das mit der Länge des Blogbeitrags nehme ich gerne auf. Grundsätzlich ist es schon richtig, dass immer noch Raum für die ein oder andere präzisere und kürzere Formulierung da ist. Ich denk mal, wenn man sich für das Thema interessiert, dann nimmt man das vielleicht noch in Kauf. Wen das Thema jedoch überhaupt nicht interessiert, für den ist dann natürlich der ganze Beitrag nichts. Das ist auch vollkommen ok. Ich verstehe nur das mit dem "fehl am Platz" nicht so richtig. Wo sollte es denn sonst Leute geben, die sich wie ich dafür überhaupt ansatzweise interessieren könnten, wenn nicht in einer Community von Gamern? Ich glaube kaum, dass man "woanders" (wo auch immer das sein soll) nur halbwegs nachvollziehen könnte, weshalb ich auch ganz persönlich so vernarrt in Bioshock bin und ich bin ganz froh, dass es hier Menschen gibt mit denen man über sowas sprechen und schreiben kann.

    Tut mir leid falls es auf dich so gewirkt hat.

    Super! Ich beschäftige mich auch gerade wieder mit Infinite. Wenn du Lust hast, können wir uns ja gern mal darüber austauschen. :)
      6 Person(en) gefällt das.
  7. Terranigma
    Das Wort der Wahl wäre "Eloquenz".
      4 Person(en) gefällt das.
  8. angelan
    Sehr guter Artikel auf richtig hohem philosophischem Niveau.
    Respekt!
    Macht mich neugierig auf den Beitrag zu Bioshock 1
      1 Person gefällt das.
  9. Ritter des Herbstes
    ...Wie gut, das in meinem ersten Kommentar der Zynismus irgendwie untergegangen ist :D
    Wo man JBee eigentlich wiedersprechen müsste, ist die Sache mit dem Seitenhieb vonwegen "(nur) ein Spiel".
    Schöne ergänzung! Absurd, wie leicht man doch die treibende Kraft im Spiel, nämlich den Spieler ausklammert.
      3 Person(en) gefällt das.
  10. Sinsemilla
    Also ich denke schon dass ich den Artikel verstanden habe! Dein Post stellt einfach mal alle als zu doof für diesen Artikel dar. Bildlich gesprochen bist du in den Raum reingekommen und hast jedem als Begrüssung eine Ohrfeige gegeben. Merkst du eigentlich was du schreibst?
      4 Person(en) gefällt das.
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