Idealismus auf dem Mars

Von Kalnasir · 3. Juni 2020 · ·
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  1. Wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist…

    Ich verfolge hehre Ziele. Ich will den Mars kolonisieren, eine zweite Heimat im Universum für die Menschheit schaffen. Mit einem Milliardenbudget ausgestattet (danke Europa) sende ich als Ökologe (danke Idealismus) meine erste Rakete zum Mars und nehme mir vor, auf dem roten Planeten endlich das Utopia zu schaffen, das auf der Erde immer als unmöglich galt, weil irgendwas mit Markwirtschaft.
    Neben mir gibt es noch drei weitere Bewerber im Rennen um den Mars. Da wären: Die USA als weitere Kontinentalmacht, die natürlich immer dort aufkreuzen, wo es etwas zu holen gibt, auch wenn es sich diesmal nicht um Öl handelt.
    SpaceY (ha…) als Visionär der zivilen Raumfahrt, hoch technologisiert und versorgt mit günstigem Nachschub vom Heimatplaneten.
    Und die Kirche der neuen Arche: Eine Sekte, die in der Kolonisierung des Mars Erlösung und Befreiung sucht. Na dann viel Spaß…
    Mir ist klar, dass meine Operation die erfolgreichste sein wird und vor allem, dass ich den größten Beitrag zur Begrünung des Mars leisten werde. Meine Kolonisten werden diejenigen sein, die als erste frische Marsluft außerhalb der Kuppeln atmen werden. Aber bis dahin ist es ein langer Weg und ich will keine Zeit verlieren!

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    Zu Beginn ist die Marsoberfläche unwirtlich und unerforscht.

    Alles eine Frage der Logistik
    Ich lande also meine Rakete an einem vielversprechenden Ort und meine Drohnen beginnen direkt emsig damit, die Ladung zu löschen und die Ressourcen zusammen mit den auf dem Mars verstreuten Metallen in die von mir dafür vorgesehenen Lager zu transportieren. Um an Baumaterial zu kommen, baue ich meinen eigenen Extraktor, verlege ein Stromnetz mithilfe der von Mutter Erde mitgebrachten Baupläne für Generatoren und beginne damit, Wasser aus der Umgebung zu dampfen. Aus diesem Wasser gewinne ich Treibstoff für die Rakete, vernetze alles schön mit Rohrleitungen, baue einen marseigenen Drohnenknotenpunkt, damit die Rakete wieder abheben kann und die ersten Schritte sind getan. Nebenbei forsche ich (befeuert durch das großzügige Budget der europäischen Raumfahrtorganisation) intensiv an neuen Technologien, die mir das Leben auf dem Mars erleichtern und beginne damit, die Umgebung zu scannen, um reichere Vorkommen an (seltenen) Metallen und vielleicht sogar unterirdische Wasservorräte zu entdecken! Ha, SpaceY, und wie weit seid ihr? Egal, keine Zeit zum Schnüstern, weitermachen! Und überhaupt: Warum dauert das hier alles so lange? Geschwindigkeit auf Maximum, von nichts kommt nichts.

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    Zuerst einmal muss Infrastruktur her! Elektrische Leitungen verbinden Produktionsstätten miteinander.

    Die Drohnen wuseln zwar emsig über die Marsoberfläche, aber ansonsten ist hier alles ziemlich leblos, also muss Lebensraum her! Kuppeln sind zwar materialintensive Bauten, aber mein Extraktor brummt unnachgiebig, Metalle liegen sowieso überall herum und Polymere habe ich mitgebracht. Während ein Teil der Drohnen mit dem Bau beschäftigt ist, kümmert sich ein weiterer darum, die Versorgung der Kuppel sicherzustellen: Sauerstoff und Wasser müssen her. Beides kein Problem: Das MOXIE 2020 ist geglückt, die Technologie ausgefeilt, die Sauerstoffversorgung steht. Im gleichen Moment melden die Scanner einen Wasservorrat unweit des Kuppelfundaments und meine Forschung ermöglicht mir den Bau von Feldern innerhalb der Kuppel. Ein paar Pumpen, ein paar Generatoren, ein Feld, et voilà. Überleben gesichert. Jetzt noch ein paar ansehnliche Wohnräume für meine Kolonist*Innen und ich bin der erste Kommandant einer Marsmission, der Menschen auf dem Mars angesiedelt hat.

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    Die ersten Menschen auf dem Mars

    Ich bin allerdings anspruchsvoll. Ich will keine abgewrackten Pseudowissenschaftler*Innen oder halbgares Erdengelumpe. Nur die fähigsten Wissenschaftler*Innen sollen Zugang zu meiner Kolonie haben! Wer kein Wissenschaftler*Innen ist, aber trotzdem etwas leisten kann und will, darf die Restaurants und die Bars betreiben, die die Wissenschaftler*Innen brauchen, um nicht durchzudrehen. Neben drei Wissenschaftler*Innen zur Forschung und sechs Botaniker*Innen zur Bestellung des Feldes, finden also mit der ersten Rakete auch drei Nicht-Wissenschaftler*Innen ihren Weg in mein Utopia. Dann ist die Rakete voll. So sieht es also bisher aus: Eine Kuppel, eine Kneipe, ein Diner, ein Feld, ein Forschungslabor, drei Häuser für je vier bis fünf Personen. Weiteren Nachschub an Menschen verhindert mein Finanzier aus Sicherheitsgründen. „Erstmal abwarten“, sagen sie. „Halte diese Kolonisten erst einmal zehn Tage lang am Leben“, sagen sie. Hm, okay, kein Grund für mich stillzustehen. Ich sammle eifrig Ressourcen, fordere unbemannte Rover und Saatgut von der Erde an, baue die Kolonie aus. Den Kolonist*Innen soll es gutgehen. Ich baue weitere Kuppeln, lege Gärten, Parks und einen Sportplatz an. Ich bereite die Kolonie auf die ersten Marsgeborenen vor, errichte einen Kindergarten, eine Schule, einen Spielplatz. Ich sorge vor und baue eine Krankenstation, verzichte aber auf eine Sicherheitsstation; soweit vertraue ich meinen Kolonist*Innen. Währenddessen grasen meine Rover die Vorräte auf der Marsoberfläche ab und erforschen Anomalien. Die Rohstoffvorkommen decken sich nach und nach auf. Ich überlege, wo ich meine Kuppeln als nächstes platziere, um Metallvorkommen abbauen zu können, damit die Kolonie autark wird und nicht mehr auf Nachschub von der Erde angewiesen ist.

    Nachdem alle Aufträge erteilt sind, gönne ich mir einen Moment der Ruhe. Ich platziere die Kamera in einer Kuppel, reduziere die Spielgeschwindigkeit auf das Minimum. Meine Kolonist*Innen sitzen in ihren Häusern am Tisch und essen oder gönnen sich eine Auszeit im Park. Auf dem Feld wässert ein Sprenger gerade die Saat. Ein Forscher hängt über einem Mikroskop im Labor. Auch in ihrer Freizeit tragen die Kolonisten ihre Arbeitskleidung, nach Farben sortiert. Ich freue mich auf die weitere Entwicklung; die Menschen hier sehen glücklich aus.

    Der Aufstieg des Utopias

    Meine Metallvorräte wachsen an, der Rover leistet ganze Arbeit. Auch die ersten Feldfrüchte werden bereits geerntet. Beiden Ressourcen weise ich eigene Depots zu und sehe zu, wie der Vorrat wächst. Sehr gut. Die Frist, die personellen Nachschub verhindert, neigt sich dem Ende zu. Ich sollte so langsam entscheiden, welche Personen ich als nächstes anfordere. Mit Nahrung bin ich versorgt, aber ich brauche Mediziner*Innen. Zwei Stück sollten erstmal ausreichen, dazu noch drei Wissenschaftler*Innen, um die Forschung weiter anzukurbeln und das Gebäude weiter auszulasten. Und dazu fünf Ingenieur*Innen, damit ich endlich eine eigene Polymer-Fabrik an den Start bringen kann. Ein erster Schritt zur Unabhängigkeit. Den Rest fülle ich mit ungelernten Menschen auf. Bei der Auswahl achte ich aber penibel darauf, dass sich keine Alkoholiker*Innen, Vielfraße oder Melancholiker*Innen in meine Kolonie schleichen. Das sind Eigenschaften, die den Fortschritt und das Wohlergehen meiner Kolonie potenziell behindern könnten. Viel lieber nehme ich da fitte und robuste Workaholics, die zudem noch gut aussehen. Willkommen im zukünftigen Utopia! Eine zweite Rakete lade ich voll mit weiteren Rohstoffen und Bauplänen für Fabriken, in denen ich Elektronik- und Maschinenteile herstellen werde. Die Polymerfabrik hingegen kann ich schon selbst bauen, es lebe der Fortschritt!

    Meine Sauerstoff- und Wassertanks sind voll. Weitere Kolonist*Innen landen, Essen gibt es genug. Die Produktion von marseigenen Polymeren läuft an, alle sind glücklich und zufrieden. Und siehe da: Die ersten marsgeborenen Kinder kommen auf die Welt-zwei-Punkt-null. Auf dem Spielplatz lernen sie wichtige Eigenschaften für ihr Leben, in der Schule kann ich sie indoktri… kann ich auswählen, welche Fähigkeiten sie ausbilden sollen, damit sie noch wertvollere Mitglieder für die Kolonie werden. Mit der Zeit können sie die Arbeitsplätze einnehmen, die in der Bar und dem Diner noch offen sind.

    Die Kolonist*Innen wollen mehr Möglichkeiten zum Einkaufen. Hm… Keine postkapitalistische Kolonie also… Na gut. Da ich Polymere mittlerweile selbst herstelle, baue ich einen Laden für Kunstgegenstände aus besagtem Material. Wenn es euch glücklich macht… Aber mit was bezahlen die Kolonist*Innen eigentlich? Egal. Nehmt eure kitschige Vase und arbeitet weiter.

    Meine Kolonie ist erfolgreich, immer mehr Bewerber melden sich für ein Leben auf dem Mars. Ich baue Metall-Extraktoren, um die Versorgung zu sichern und Fabriken, um mich weiter unabhängig zu machen. Die benötigten Ingenieure hole ich soweit es geht von der Erde, weitere kann ich mittlerweile in meiner eigenen Universität ausbilden. Die Kolonie floriert. Immer mehr Menschen tummeln sich unter diversen Kuppeln und gehen ihrer Arbeit nach. Dabei achte ich darauf, dass die Kuppeln nicht überfüllt sind. Sich eine Kuppel mit 30 anderen Leuten zu teilen, ist manchen Menschen unangenehm, also achte ich darauf, dass diese Zahl nicht überschritten werden kann, indem ich Wohnraum begrenze und gegebenenfalls in neue Kuppeln auslagere. Aber: Der Stromverbrauch steigt und meine Windkraftwerke fordern einen ständigen Nachschub an Maschinenteilen, um funktionsfähig zu bleiben… Solargeräte sind da deutlich anspruchsärmer, funktionieren aber nur bei Sonnenlicht… Moment. Auf dem Mars gibt es keine Wolken, die Fabriken arbeiten nur tagsüber. Problem gelöst!

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    Die Kuppeln ergänzen sich gegenseitig mit unterschiedlichen Angeboten und Arbeitsplätzen.

    Menschliches Versagen

    Mit der Kolonie wächst aber auch die Zahl der Herausforderungen: Meine Kolonist*Innen sind sich anscheinend zu fein, in einer Kuppel zu arbeiten, die „zu weit“ weg ist. Wo bitte ist euer Problem?! Die Kuppeln sind sogar durch Tunnel miteinander verbunden, die Kolonie insgesamt besteht aus circa sechs dieser Bauten. Zum Mars könnt ihr fliegen, aber für einen Fußmarsch von zehn Minuten reicht es nicht? Die Effektivität meiner Einrichtungen leidet, manche Gebäude sind nicht voll ausgelastet während sich manche Einwohner*Innen über Arbeitslosigkeit beschweren. Ist ja nicht so als hättet ihr keine Möglichkeiten! Meine Güte…
    Na gut, dann baue ich halt mehr Kuppeln. Irgendwo brauche ich ja sowieso Platz für die neuen Fabriken. Ich ordere Nachschub von der Erde, das Material wird geliefert, der Bau kann beginnen. Ein weiterer Schritt zur Autarkie. Meine Drohnen arbeiten unermüdlich weiter, schaffen das Material heran und machen nur eine Pause, wenn es auch wirklich nichts zu tun gibt. Dabei sind sie stets zuverlässig. Nur manchmal müssen sie ihre Batterien laden, aber das ist schnell erledigt.

    „We have a food shortage!“

    Was? Ich habe mich da wohl gerade verhört?

    „We have a food shortage!“

    Vier Kolonist*Innen hungern. Hektisch klicke ich die Meldung weg.

    „We have a food shortage!“

    Sechs, klick. Elf, klick. Zwanzig, klick. Verdammt. In meinem Eifer habe ich eventuell vergessen die Nahrungsmittelproduktion an die neue Bevölkerungszahl anzupassen. Hm, naja. Ich errichte eine weitere Kuppel mit drei Feldern und einem System zur Wasserwiederaufbereitung, sodass der Verbrauch niedrig bleibt. Außerdem kann ich ja Nachschub von der Erde… Meine Sponsorengelder sind aufgebraucht… Ein paar Vorräte sind noch drin, aber im Vergleich zu dem, was die Kolonie braucht, ist das ein kümmerliches Lunchpaket. In Ordnung, ruhig bleiben. Ich heuere weitere Botaniker*Innen an, damit die Felder möglichst schnell bestellt werden können. Ob sie alkoholabhängig oder spielsüchtig sind? Egal. Pflanzen brauchen zwei Tage zum Wachsen. Das kann klappen. Mir bleibt nichts anderes als abzuwarten.

    In der Zeit erreicht mich eine Nachricht von der Erde: Terroristen haben Tempelanlagen in Südostasien zerstört, Hunderte Menschen sind gestorben. Man weiß nichts über die Täter*Innen. In der Folge kommt es im Gewirr auf der Suche nach Schuldigen an mehreren Grenzen zu bewaffneten Konflikten, die sich langsam zu Invasionen ausbreiten. Die UN sieht sich gezwungen die Doomsday-Clock zu reaktivieren. Ein Warnsignal, dass man eigentlich hinter sich gelassen hatte. Gleichzeitig werde ich als Kommandant der Marsmission in die Pflicht genommen von einem anderen Planeten aus alles Notwendige zu tun, um die Eskalation auf der Erde zu vermeiden. So als hätte ich keine eigenen Probleme. Zusätzliche Mittel werden mir nicht zur Verfügung gestellt.

    Ich baue die Infrastruktur aus, sorge für mehr Wasser, Sauerstoff, Treibstoff, stelle die Energieversorgung sicher. Die neuen Botaniker*Innen bewirtschaften die Felder. Ich gucke buchstäblich den Pflanzen beim Wachsen zu.

    „A colonist has died.“, informiert mich meine KI-Assistentin.

    Was? Es ist keine zwei Tage her, dass ich über die Hungersnot informiert wurde. Können diese Kolonist*Innen nicht einmal zwei Tage ohne Essen durchhalten?

    „A colonist has died.“

    Ja, danke. Weiß ich. Aber was soll ich bitte machen? Ich mache mir über alle möglichen Dinge Gedanken, aber meine Handlungsmöglichkeiten helfen gerade überhaupt nicht weiter.

    „A colonist has died.“

    Getreide und Bohnen sind reif für die Ernte. Drohnen fahren das Essen so schnell wie sie können in die Kuppeln. Gerade noch einmal Glück gehabt. Die neuen Felder füllen die Vorratskammern im Laufe der Zeit bis zum Anschlag. Das passiert mir kein zweites Mal. Ich errichte zusätzliche Extraktoren, um seltene Metalle an die Erde verkaufen zu können, mein Budget muss im Falle einer solchen Notsituation hoch genug sein, um Nachschub von der Erde bestellen zu können. Dass das bitter nötig ist, zeigt in der Folge das gehobene Anspruchsdenken meiner Kolonist*Innen. Videospiele wollen sie haben. Na gut, ich baue widerwillig eine Einkaufsmöglichkeit für derlei Ablenkung. Dann versiegt erst mein Vorrat an Baumaterial, im Anschluss die Wasserquelle…

    Ich muss die Kolonie erweitern, aber auf das Material dafür warten. Solange sind Gebäude unterversorgt. Für die Instandhaltung der bereits bestehenden Infrastruktur benötige ich alleine schon einen Haufen Material, das die Kolonist*Innen genau dieses Material brauchen, um ihre merkwürdigen Bedürfnisse nach Kunst und Videospielen zu befriedigen, macht die Sache nicht leichter. Ich bestelle erst einmal mehr Material von der Erde.

    Krieg bleibt immer gleich…

    Mit der Bestellung einher geht eine weitere Nachricht: Ich sollte mich besser darauf einstellen, dass das die letzte Lieferung war, ein Krieg scheint unausweichlich. Menschen wollen von der Erde fliehen, drängen in meine Kolonie. Na gut, die Fabriken werden die Schichten aufstocken, eine höhere Produktion versorgt die Kolonie, das kann klappen. Zwanzig flüchtende Menschen suchen Rettung in meiner Kolonie, dann fünfzig weitere, dann einhundert. Ich baue mehr Kuppeln, brauche mehr Wasser. Das Baumaterial ist zu knapp, ich kann unmöglich fünf neue Kuppeln hochziehen. Gleichzeitig beginnen die obdachlosen Kolonist*Innen umherzustreifen, Essen zu stehlen. Ich ziehe vier Wachposten hoch, setze Personal ein, um die Ordnung wiederherzustellen. Um die Obdachlosigkeit einzudämmen, baue ich einfach fünf Hochhäuser in eine einzige Kuppel. Wohnraum für 120 Leute. In einer Kuppel. Arbeit gibt es in der Kolonie genug, aber die Plätze befinden sich von dieser Wohneinheit aus gesehen, am anderen Ende. Lieblos quetsche ich einen Park in die letzte freie Ecke, in dem gerade neun Leute bequem platzhaben. 100 Leute tummeln sich in einer Kuppel und stürzen sich auf einen freien Platz auf der Bank unter dem Baum, wenn jemand aufsteht…

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    Eines der Häuser reiße ich später wieder ein, siedle Kolonisten um. Zusätzlich stopfe ich hängende Gärten in die Mitte.

    Gegen die Diebstähle hilft das nicht. Mir ist mittlerweile egal, welche Befähigung die Bewohner*Innen meiner Kolonie haben. Sie dürfen da arbeiten, wo Arbeit gebraucht wird. Andernfalls drohen eine Unterbrechung der Energieversorgung und ein Ressourcenmangel. Die Übersicht habe ich längst verloren. Meine Forschung beschränkt sich immer auf das Gebiet, dass den größten Tropfen auf den heißen Stein, den ich Kolonie nennen, gießt. Dass sich dank meiner Terraforming-Bemühungen zwischen meinen Kuppeln mittlerweile ein paar grüne Streifen Land ziehen und die Temperatur nicht mehr durchgängig im negativen Celsius-Bereich festhängt, ist eine Randnotiz, die mir nicht mal mehr ein müdes Lächeln abringt.

    Einer meiner Wissenschaftler ist durchgedreht. Er droht eine meiner Drohnenstationen zu zerstören. Ich kann kaum auf das Gebäude verzichten. Auf ihn hingegen…

    „A colonist has died.“

    Um die Kriege auf der Erde einigermaßen einzudämmen, fordert man Ressourcen aus meiner Kolonie. Diverse Metalle, Nahrung… Ich liefere so gut ich kann, der Krieg eskaliert nicht völlig, er dauert an. Und erreicht schließlich den Mars. Ohne Vorwarnung oder Kriegserklärung wird meine Kolonie von einem Orbitalbombardement getroffen, Menschen sterben, Drohnen werden zerstört, das Versorgungsnetzwerk bricht zusammen. Einige Gebäude werden zerstört, Material zum Wiederaufbau fehlt. Die Versorgung mit Videospielen und Kunstgegenständen wird gekappt.

    „We have a food shortage.“

    Ich resigniere. Mein Plan war nicht für 150 Flüchtlinge ausgelegt. Eine neue Kuppel muss her, mehr Felder. Jeder, der keine Arbeit hat, ab auf die Felder! Zwei Tage reichen nicht. Die neuen Felder sind nicht ertragreich. Essen für 500 Leute wächst nicht über Nacht.

    „We have a food shortage.“

    Es muss doch eine Möglichkeit… Moment! Nachschub von der Erde ist nicht möglich, aber ich bin nicht alleine auf dem Mars! Ich klopfe zaghaft bei den anderen Kolonien an, tausche ein paar Technologien aus. Nachdem wir gutfreund sind, bettle ich die Kirche der neuen Arche um Essen an. Widerwillig schicken sie eine Rakete. Das Essen reicht für die Hälfte der Leute und das auch nur für einen Tag.

    „We have a food shortage.“

    Überraschenderweise erlebt die Kolonie in allen anderen Bereichen eine zweite Hochphase. Fabriken sind ausgelastet, die Vorräte werden aufgestockt, Energie ist genug vorhanden. Ich kann sogar einen künstlichen See anlege. Flüssiges Wasser auf dem Mars! Eine weitere Kuppel neben dem Ghetto – ausschließlich gebaut für Vergnügung – hält die Moral und die geistige Gesundheit im akzeptablen Rahmen. Eine Einkaufsmeile, ein Casino, ein Sportplatz, ein Restaurant, eine Bar. Sie schaffen Arbeitsplätze und sorgen gleichzeitig für Ablenkung.

    „A colonist has died.“

    Mich erreicht die Nachricht, dass das Ende des Krieges in meinen Händen liegt. Ich soll beweisen, dass ein Krieg um Ressourcen auf der Erde keinen Sinn macht, wenn wir Nachschub vom Mars liefern können. Sechs Transportraketen steuern auf meine Kolonie zu. Die Nachfrage: 400 Einheiten Metall, 200 Einheiten Essen, Maschinenteile, Polymere, Elektronik und seltene Metalle. Woher ich das nehmen soll?

    „A colonist has died.“

    Ich weiß es nicht. Metall habe ich da. Den Rest? Ich weiß es nicht. Drohnen beginnen die erste Rakete zu beladen.

    „A colonist has died.“

    Ständig unterbrechen Schäden in meinem Energie- und Wassernetzwerk die Versorgung. Mein Rover grast die Marsoberfläche nach weiteren Vorräten ab. Alles wird möglichst schnell zur Kolonie gefahren, um Löcher zu stopfen.

    Die erste Rakete ist mit 400 Einheiten Metall voll beladen.

    Dann: Die Ernte. Mein Lebensmittelvorrat schnellt in die Höhe.

    „A colonist has died.“

    Die Distribution dauert länger als mir lieb ist.

    „A colonist has died.“

    Surviving Mars

    Jede Mahlzeit, die eingelagert wird, fressen die Kolonist*Innen sofort. Jede verfügbare Mahlzeit taucht kurz in meiner Übersicht auf und verschwindet dann im Magen eines Kolonisten oder einer Kolonistin. Schließlich stabilisiert sich die Anzahl auf 300 Einheiten. Das Magenknurren kehrt nach einem Tag zurück, aber die Felder sind schneller als die Verdauungsysteme meiner Kolonist*Innen. Das war es. Das Überleben ist gesichert. Gleichzeitig kommt die Rakete mit meinen Vorräten auf der Erde an. 400 Einheiten Metall reichen anscheinend als Argument aus. Der Krieg ist zu Ende. Die Versorgungslinie wiederhergestellt. All das seltene Metall, das ich seit Beginn exportiert habe, hat mir ein Vermögen eingebracht, das ich jetzt in Material ummünzen kann. Meine Lager sind voll. Ich öffne die Geschäfte wieder. Reparaturen können vorgenommen werden. Die Wasserversorgung ist – dank riesiger Vorkommen – auf absehbare Zeit gesichert. Die Nahrungsmittelversorgung kann durch die Teilautomatisierung von Prozessen weiter verbessert werden. Und eine riesige Verbrennungsanlage pustet so viel Kohlenstoffdioxid in die Luft, dass sich langsam so etwas wie eine Atmosphäre bildet.

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    Die Begrünung des Mars schreitet voran, die Zahl der Kuppeln ist um einiges gestiegen. Zudem existiert nun ein künstlicher See.

    Erneut lehne ich mich zurück und betrachte meine Kolonie. Ein Pinguin watschelt durch das Bild, daneben eine Ziege. Kolonist*Innen sitzen auf Parkbänken und unterhalten sich, nehmen in Wohnzimmern ihre Mahlzeiten ein, forschen gebeugt über Mikroskopen an Dingen. Ich habe im Universum eine zweite Heimat für die Menschheit geschaffen. Ich habe den Mars kolonisiert.

    Am Frühstückstisch erzähle ich die Geschichte der Freundin meines Mitbewohners. Ich führe aus wie gut es meine Mitarbeiter… Kolonisten doch haben und was ich für sie alles geschaffen habe. An der Stelle, an der ich mich über deren mangelnde Flexibilität den Arbeitsplatz betreffend beschwere, unterbricht sie mich. „You sound like every corporate CEO ever“, sagt sie. Ich will etwas antworten, kann aber nicht.

    Ich wollte den Mars kolonisieren, das Spiel heißt aber nicht Colonising Mars. Ich habe überlebt. Für viele meiner Kolonisten gilt das nicht. Erst jetzt komme ich auf die Idee einen Friedhof zu bauen. Ich kann im Spiel aber keinen Friedhof bauen. Ich verfolgte hehre Ziele.


    Beschreibung:

    „Videospiele sind nicht politisch. Spielmechaniken haben keine Aussage. Aufbauspiele haben keine Narration.“
    Flüchtlinge haben eine 50% höhere Chance zu Verbrechern zu werden. Flüchtlinge sind Ingenieur*Innen, Botaniker*Innen, Wissenschaftler*Innen, Geolog*Innen und Ungelernte, die vor dem Krieg in ihrer Heimat fliehen.

    „Aufbauspiele sind etwas für trockene Logistiker. In Aufbauspielen baut man so vor sich hin und erschafft eine Siedlung nach seinen Wünschen. Aufbauspiele sind etwas für ruhigere Gemüter, abseits der vielen Vertreter des Action-Genres.“

    Viele Aspekte des Textes liegen vielleicht an meiner schlechten Spielweise, das mag sein. Aber meine schlechte Spielweise hat mich auf für mich sehr eindringliche Weise gezwungen, mich mit meinem Idealismus auseinanderzusetzen und mich selbst zu hinterfragen.

    Über den Autor

    Kalnasir
    Ich bin Lukas, spiele seit 20 Jahren Videospiele, wollte mal Journalist werden, war dann Lehrer, werde jetzt Konditor. Hmpf...

Kommentare

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  1. Kalnasir
    Die GUI verrät dir immer noch erst bei Mouse-Over wie viel du von einer Ressource produzierst, Wegfindung per Tunnel habe ich noch nicht ausprobiert, die automatische Zuweisung der Arbeiter*Innen gelingt aber gut. Man kann mittlerweile auch auswählen, ob in Betrieben nur Fachkräfte arbeiten dürfen, oder jeder. Kolonist*Innen suchen sich freie Wohnräumer in der Nähe ihrer Arbeitsstellen selbst, etc...
    Zudem brauchen sie auch nicht mehr zwangsläufig alle Gebäude zur Bedürfnisbefriedigung in einer Kuppel. Einkaufen und arbeiten geht auch in einer angrenzenden Kuppel, aber nicht in Kuppeln, die weiter weg sind. Das scheint mir aber Absicht zu sein und ist ein wichtiger Grund für die Entstehung des obigen Textes...
  2. akuba
    Ich hab den Gamestar-Test von 2018 gelesen, da waren ja noch üble Bugs drin (GUI, Fehler in der Spiel-Logik, Wegfindung, ...). Wurde da etwas verbessert?
  3. Kalnasir
    Es liegt sicherlich teilweise an meiner mangelnden Expertise. Das war auf jeden Fall meine erste Partie, die so lange lief. Aber hinzu kommt: Das Kriegsszenario das ich da schildere, ist eine der schwierigeren von mehreren möglichen zufälligen Questlines, von denen eine während der Partie auftritt. Ob die mangelnde Mobilität der Kolonist*Innen schlechtes Design oder Notwendigkeit sind... Da bin ich mir noch nicht sicher.
    Ich habe auch schon von Leuten im Forum gelesen, denen das Spiel viel zu einfach war. Um also auf deine Frage zu antworten:
    Das Spiel hat sicherlich Makel, ich aber auch...
  4. akuba
    Ist das Spiel schlecht gebalanced, oder musst Du einfach mehr spielen? :-) Klingt auf jeden Fall interessant!
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