Beeindruckende Geschichtsstunde in VR: 1943 Berlin Blitz

Von beagletank · 25. Oktober 2018 · ·
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  1. Seit knapp zwei Jahren ist VR nun in größerem Umfang für den Normalverbraucher verfügbar. Die erhoffte Revolution im Gaming-Bereich wird zwar noch einige Jahre auf sich warten lassen und auch die Zahl an echten AAA-Titeln lässt sich an einer Hand abzählen. Dennoch können Nutzer mittlerweile auf ein sehr abwechslungsreiches Feld an unterschiedlichen VR-Produktionen zugreifen, von echten Spielen bis hin zu den kleineren VR-Erfahrungen, die vielleicht weniger interaktiv ausfallen, inhaltlich aber durchaus punkten können. Eine davon ist das kostenlose 1943 Berlin Blitz, in der wir eine britische Bomberbesatzung im Zweiten Weltkrieg begleiten. In Zusammenarbeit mit der BBC entstand hier ein beeindruckendes Projekt, das nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern sich auch zu einem Musterbeispiel entwickeln könnte, das zeigt, was VR als Lehrmedium leisten könnte.

    Hinweis I: Berlin Blitz geht nur 15 Minuten. Dennoch gilt natürlich Spoilerwarnung.

    Hinweis II: Alle Screenshots wurden in VR erstellt und sehen in 2D natürlich weit weniger spektakulär aus.



    Im September 1943 ist die Luftschlacht um Deutschland im vollen Gange. Alliierte Flieger bombardieren regelmäßig militärische und zivile Ziele, während die deutsche Luftwaffe zunehmend an ihre Grenzen gerät und den einfliegenden Bombergeschwadern oftmals nur noch wenig entgegensetzen kann. Dennoch bleiben die Einsätze für die amerikanischen und britischen Besatzungen kein Spaziergang. Ein Angriff auf das Deutsche Reich ist immer noch mit der Überquerung von hunderten Kilometern Feindesland verbunden, bei der die Bewegungen der eigenen Geschwader minutiös von der deutschen Luftabwehr verfolgt werden. Oft müssen tief gestaffelte Flak- und Scheinwerferstellungen überflogen werden und nicht immer ist Geleitschutz durch Langstreckenjäger verfügbar. Gerade die Royal Air Force (RAF), die ihre Nachtangriffe in diesem Zeitraum massiv ausweitet, muss immer wieder starke Verluste einstecken. Zwar hat die Luftwaffe massiv an Schlagkraft eingebüßt, aber der Fortschritt der Technik hat auch auf Seite der Achsenmächte nicht halt gemacht. Deutsche Nachtjäger stellen immer noch einen gefährlichen Gegner dar und bis zur vollständigen Erringung der Lufthoheit zu Gunsten der alliierten Kräfte wird es noch einige Monate dauern.

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    Zum Start dürfen wir zwischen der eigentlichen VR-Erfahrung wählen oder uns unter Radio Broadcast näher mit der ursprünglichen Radiosendung beschäftigen.

    Am 04.09.1943 startet die RAF einen massiven Angriff auf Berlin. Mit dabei ist auch die F for Freddy, ein schwerer Bomber vom Typ Lancaster. Weder äußerlich, noch in der Bewaffnung unterscheidet sich dieses Flugzeug vom Rest des Geschwaders. Eine Sache ist für den weiteren Verlauf dieses Textes jedoch entscheidend. Neben der Besatzung befindet sich auch BBC-Reporter Wynford Vaughan-Thomasan in Begleitung seines Tontechnikers Reg Pidsley an Bord. Beide werden ihre Erlebnisse der folgenden Stunden ausführlich auf Platte dokumentieren, angesichts der Umstände eine geradezu lebensgefährliche Aufgabe. Glücklicherweise kehren alle Beteiligten unversehrt aus dem Einsatz zurück und Vaughan-Thomasan kann seine Eindrücke einen Tag später in einer Radiosendung der BBC ausstrahlen.

    Der Live-Bericht des Journalisten hätte unter anderen Umständen sicher ein interessantes, aber doch sehr klassisches Zeitdokument abgegeben, wäre die Sendung nicht 75 Jahre später in VR neu aufgelegt worden. Die BBC hat in Zusammenarbeit mit Immersive VR Education einen Großteil der Reportage visualisieren lassen. Für uns Nutzer bedeutet das nun, dass wir den Einsatz tatsächlich im Bomber verfolgen können, während Vaughan-Thomasan das Geschehen meist überraschend nüchtern kommentiert. Wesentlich eindrücklicher ist jedoch die Kommunikation der Besatzung, die wir hier im Originalton(!) mitverfolgen dürfen.

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    Im detailierten Inneren des Bombers dürfen wir der Besatzung bei der Arbeit zusehen.

    Unsere Reise beginnt in der beschaulichen Graftschaft Nottinghamshire, wo unsere Lancaster zum Start ansetzt und unter schwerem Motorengedröhne absetzt. Bereits hier fällt das sehr detaillierte Innenleben des Bombers ins Auge. Während wir über kleinen Ausguck das Äußere des Flugzeugs begutachten können, bedient der Bordfunker eine wuchtige Kommunikationsanlage, während hinter uns Reg Pidsley den Kommentar seines Begleiters aufzeichnet. Zwar bleiben wir ein mehr oder weniger unsichtbarer Beobachter, es wird aber bald ersichtlich, dass uns Berlin Blitz an die Stellen im Bomber versetzt, von denen aus der BBC-Reporter auch tatsächlich berichtet hat. Nach einer kurzen Blende befinden wir uns nun im Cockpit. Vaughan-Thomasan stellt kurz die einzelnen Besatzungsmitglieder vor, die uns dann sogar mit einem kurzen Nicken oder Winken auf sehr stimmige Weise begrüßen. Schnell wird klar, so ein Bomber ist ziemlich eng. Zwar tragen alle Beteiligten Fallschirme, dennoch fragt man sich, wie hier im Falle eines Abschusses überhaupt noch jemand rechtzeitig aussteigen will.

    Kurz darauf zieht die englische Küste ans uns vorbei, während es langsam Richtung Feindesland geht. Natürlich erleben wir hier nicht die vollen sieben Stunden Flugzeit. Berlin Blitz verkürzt den Einsatz auf knapp 15 Minuten und die wichtigsten Ausschnitte der Radiosendung. Zwischendurch gibt es immer wieder kleinere Zeitsprünge, bei denen Flugzeit und aktueller Einsatzort angegeben werden. Doch diese Viertelstunde hat es in sich. Bereits mit dem Erreichen der Niederlande erheben sich bedrohliche Scheinwerfelkegel vor uns, die deutsche Flak beginnt ihr tödliches Feuer und man erwischt sich dabei, wie man unwillkürlich zusammenzuckt, als die Lancaster ordentlich durchgerüttelt wird.

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    Die wenigen Scheinwerfer an der niederländischen Küste wirken auf den ersten Blick harmlos. In der Realität mussten alliierte Bomberbesatzungen spätestens ab hier damit rechnen, dass die deutsche Luftabwehr jeden weiteren ihrer Schritte verfolgte.


    Mit dem Erreichen des Zielgebietes steht einem dann aber wirklich der Mund offen. Zahlreiche Flakexplosionen und Scheinwerfer erhellen den Nachthimmel, während das brennende Berlin bedrohlich unter uns liegt. Die beeindruckende Soundkulisse muss sich dabei nicht hinter der grafischen Präsentation verstecken. Detonationen erschüttern die Luft, ein anderes Flugzeug stürzt dröhnend ab und dennoch bleiben die Besatzung und das Duo von der BBC ausgesprochen ruhig. Wir erleben, wie der Bomber seine tödliche Ladung freigibt, der Bordschütze unter Jubel seiner Kollegen einen deutschen Jagdflieger vom Himmel holt und man schließlich auf den Rückflug ins sichere Großbritannien einschwenkt.

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    Erst über Berlin zeigt sich dann das ganze Inferno des Bombenkriegs...

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    ...auch in der Position des Bombenschützen bleibt man glücklicherweise Zuschauer.

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    Dieser Anblick dürfte sich den meisten Besatzungen nach erfolgreichem Angriff geboten haben. Ab hier musste man es aber auch noch lebend nach hause schaffen.


    Zum eindrucksvollsten Moment kommt es tatsächlich erst gegen Ende von Berlin Blitz. Als der Bomber die englische Küste erreicht, reagiert die Besatzung mit ausgesprochener Freude, der Pilot stimmt sogar ein Lied an. Die Erleichterung, den Einsatz überlebt zu haben, ist hier bildhaft spürbar. So verabschiedet sich das Spiel unter den Klängen von Annie Laurie, eines alten schottischen Liedes, in den Abspann. Hier erfahren wir, dass es 22 Bomber nicht geschafft haben und auch die Toten auf deutscher Seite bleiben nicht unerwähnt. Und langsam dämmert einem, dass man hier ein echtes Ereignis miterlebt hat. Als Zuschauer bleibt man mit einem mulmigen Gefühl zurück.



    Warum das alles?


    Über VR zu schreiben ist nicht leicht. Ich bin erst seit knapp einem Jahr Besitzer einer Oculus Rift und auch ich erinnere mich an die teils enthusiastischen Berichte anderer Nutzer. Das klang zwar alles ganz nett, aber wirklich nachfühlen konnte ich es erst nach dem Kauf meiner eignen VR-Brille. Dass ich hier so viel über den Inhalt von Berlin Blitz geschrieben habe, liegt auch daran, dass man nur so das Geschehen einigermaßen begreiflich machen kann. Nutzer können das Spiel zwar auch regulär ohne VR erleben, aber die Erfahrung ist nicht die gleiche.

    Wobei Spiel eigentlich der falsche Begriff ist. Berlin Blitz ist nicht interaktiv. Wir erleben das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven, können uns auch frei umsehen, eingreifen jedoch nicht. Und das ist gut so. Die Zerstörung zahlreicher deutscher Städte ist bis heute in der britischen Geschichtsschreibung alles andere als unumstritten und auch als Deutscher hätte ich angesichts der Geschichten meiner Großeltern Skrupel, den virtuellen Bombenhebel zu betätigen. Man ist Beobachter, aber nie Teilnehmer am Kriegsgeschehen. Die große Leistung von Berlin Blitz liegt darin, einem die Perspektive Bomberbesatzungen glaubwürdig näher zu bringen, gerade weil alle Kommentare, die wir im Verlauf des Einsatzes zu hören bekommen, auch tatsächlich so aufgezeichnet worden sind. Die in VR gezeigten Bilder haben sich also so oder so ähnlich in der Realität zugetragen. Das verleiht Berlin Blitz eine unglaubliche Immersion, die nur in Abstimmung mit VR perfekt funktionieren kann. Die großartige optische und akustische Präsentation ist dem nur förderlich. Nur bei genauerem Hinsehen fallen einem einige kleinere Ungereimtheiten auf, etwa dass viele Instrumente im sonst detaillierten Flugzeug nicht animiert sind. Optionale Untertitel wären ebenfalls nicht schlecht gewesen. Nicht zuletzt ist Berlin Blitz aber auch komplett kostenlos. Falsch machen kann man hier also fast nichts.



    Fazit

    Von den knapp 120.000 Mann, die in der britischen Bomberflotte gedient haben, hat gerade einmal die Hälfte den Krieg überlebt. Was man im Jahr 2018 in einer Viertelstunde in einer sicheren VR-Umgebung erleben kann, mussten diese Menschen über Wochen und Monate hinweg in jeweils mehrstündigen Einsätzen ertragen. Bei allem Leid, das die deutsche Zivilbevölkerung im Bombenkrieg durchmachen musste, geht schnell unter, was für einem Stress und welcher Angst auch die Besatzungen in ihren Bombern ausgesetzt gewesen sind. Dass man in einer solchen Situation schnell Distanz zu den Geschehen unter einem entwickelt, ist nur nachvollziehbar. Ich hätte mit keinem der Beteiligten tauschen wollen.

    Berlin Blitz gelingt es auf authentische Weise, diese Geschehnisse zumindest im Ansatz erlebbar zu machen, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben.

    Weiterführende Links:

    Berlin Blitz auf Steam:

    https://store.steampowered.com/app/513490/1943_Berlin_Blitz/

    Und auf Oculus:

    https://www.oculus.com/experiences/rift/2178820058825941/

    Die Originalsendung von 1943:

    https://www.bbc.co.uk/programmes/b0076rvh



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    Der Abspann erinnert einen daran, dass das Gesehene tatsächlich so oder in ähnlicher Form passiert ist.

    Über den Autor

    beagletank
    Sehr unregelmäßiger Blog- und Lesertestschreiber. Großer Fan von (historischen) Strategiespielen und diversen RPGs. Seit Herbst 2017 auch Besitzer einer Oculus Rift. Korrigiert seine Texte zwanghaft gerne noch Tage nach der Veröffentlichung.
    Dir, Mr.Tentakeltyp, Alex.94 und 4 anderen gefällt das.

Kommentare

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  1. Juvavumwarrior
    Viel Dank tiger tank ich kannte das Spiel nicht und habe auch kein VR-Gerät aber die 5min zurück lehnen und zuschauen waren sehr gut.
  2. Kuomo
    Sehr cool, dass es sowas gibt. Habe mich neulich einen halben Tag lang über den Luftkrieg im zweiten Weltkrieg informiert und versucht mir vorzustellen wie es sich damals angefühlt haben muss. Teilweise absurd in was für Situationen sich gerade die Bombercrews begeben haben, Überleben war reine Glückssache, schon ein paar Treffer konnten einen großen Bomber vom Himmel holen, andere haben es völlig zerlöchert wieder nach Hause geschafft.

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    Besonders erwähnenswert finde ich die Geschichte der Begegnung_zwischen_Franz_Stigler_und_Charles_Brown, so viel Glück im Unglück hatten die wenigsten.
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