Ich muss ganz ehrlich sein, weniger als eine Stunde nachdem ich mit meinem Charakter in der Loge, dem Constellation-Hauptquartier angekommen war, kribbelte mein Historikersinn - den könnt ihr euch vorstellen wie bei Spider-Man, nur dass ich keine Superkräfte von einem radioaktiven paper cut bekommen hab’ oder so. In jedem Fall tingelte mein Historikersinn. Ich schaute mich also um in der Loge, dieser Heimatbasis des Entdeckerclubs. Über die holzvertäfelten Wände, die Ölgemälde, die Globen und uralten wissenschaftlichen Instrumente. Etwas störte mich. Und dieses Etwas findet sich so häufig in Science Fiction - Literatur wie Filmen wie Spielen. Und um genau dieses Etwas soll es auf den folgenden Zeilen gehen.
Kurz gesagt: Starfield zelebriert den Entdeckergeist, das Erschließen des leeren Weltraums - aber ohne dabei die Geschichte des Genres zu beachten. Die Erzählungen, die Science Fiction nicht erst seit Bethesdas neuester „Intellectual Property“ innewohnen. Denn diese Narrative sind zutiefst geprägt von kolonialem Gedankengut. Ich bin ein großer Weltraum-Enthusiast. Ich finde Weltraumforschung und -entdeckung großartig. Aber sie hat nunmal auch ihre Probleme. Beginnen wir doch einfach bei der Loge selbst. Die holzvertäfelten Wände, das Retro-Dekor, das alles könnte direkt einer Männergesellschaft des späten 18. oder frühen 19. Jahrhunderts entsprungen sein. Zum Beweis für meine Behauptung werfen wir doch einen kurzen Blick auf die Royal Astronomical Society in London.
Diese Gesellschaften wurden nicht nur im britischen Empire sondern in ganz Europa und in den USA gegründet, letztlich als Netzwerkvereine in denen sich die gelehrte Gesellschaft und Hobbyisten austauschen konnten. Aber was ursprünglich als „harmlose“ Entdeckungen begann, entwickelte sich bald zu dem Kolonialismus, den wir aus dem 19. Jahrhundert kennen.
Viele Wissenschaftlerinnen (eine Frau reiste z.B. als Junge verkleidet auf dem Schiff des Franzosen Louis-Antoine de Bougainville um die Welt) und Wissenschaftler an Bord der großen Entdeckungsreisen waren bestimmt aufrichtig an wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert, die im Zuge der Aufklärung zunehmende Bedeutung gewannen. Zum Beispiel der 18-jährige Georg Forster an Bord der zweiten Weltumsegelung des berühmten James Cook. (Fußnote 1) Nun waren aber weder Bougainville noch Cook selbst mehr als Hobbyforscher sondern vielmehr Militärs und verdeutlichen damit, dass das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse der Aufklärung stets gepaart war mit der imperialen Expansion der europäischen Mächte. Von James Cook, also dem militärischen Arm der Expeditionen, findet sich ein Portrait unter den „großen Entdeckerinnen und Entdeckern“ in der Loge.
Übrigens genauso wie von Fernando Magellan. Und der fiktive Constellation-Gründer - Simon Banks - trägt vermutlich auch nicht zufällig denselben Nachnamen wie der Wissenschaftler Joseph Banks, der an Cooks erster Weltumsegelung teilnahm und später nicht nur den königlichen botanischen Garten in Kew, London, gründete. Banks war eine im besten Fall ambivalente Figur, die auch durch solche Arroganz auffiel, dass man ihn bei der zweiten Cook‘schen Weltumsegelung einfach durch die deutschen Wissenschaftler Georg und Johann Reinhold Forster ersetzte.
Aber bleiben wir bei der Wissenschaft. Denn was die aufklärerische Naturforschung, auf der so viele Science Fiction Mythen beruhen, ausmacht, ist auch die Kategorisierung der Welt. Menschen wurden in überlegene und unterlegene „Rassen“, Flora und Fauna systematisch in ein Ordnungsschema eingeteilt. Der gesamte Planet sollte in ein wissenschaftliches Korsett gezwängt werden, das nicht zufällig ein europäisches war. Deshalb tragen Pflanzen und Tiere bis heute lateinische Namen und nicht jene, die ihnen von den einheimischen Menschen in Südamerika, in Ozeanien oder in Asien gegeben wurden. Weil Wissen eine Voraussetzung für erfolgreiche Kolonisation darstellt, bereiteten selbst die friedlichsten Wissenschaftler implizit den Boden für die Eroberung fremder Erdteile nur wenige Jahrzehnte später. So schreibt selbst Forster in einer Passage über Neuseeland, dass er hoffe, Europäer und Maori könnten in Zukunft friedlich nebeneinander koexistieren:
„Vielleicht werden die Europäer, wenn sie dereinst ihre amerikanischen Colonien verloren haben, auf neue Niederlassungen in entferntern Ländern bedacht sein; möchte nur alsdann der Geist der ehemaligen Entdecker nicht mehr auf ihnen ruhen! möchten sie die einheimischen Bewohner der Südsee als ihre Brüder ansehen und ihren Zeitgenossen zeigen, daß man Colonien anlegen könne, ohne sie mit dem Blut unschuldiger Nationen beflecken zu dürfen!“
Sowohl die Männervereine wie die Royal Astronomical Society, als auch die „Entdecker“ selbst trugen also nicht nur Wissen zusammen, sondern bereiteten die Unterwerfung fremder Menschen und die Extraktion von Ressourcen vor.
Ein weiteres Beispiel an den Wänden der Loge belegt diesen Umstand der kolonisierenden „Entdeckungen“ ebenfalls anschaulich: Auch von Edmund Hillary findet sich ein Gemälde unter der Riege der „Entdecker“. Hillary bestieg als erster den Mount Everest. Der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eben nicht mehr Qomolangma heißt, sondern nach seinem britischen Vermesser benannt ist - letztlich eine Unterwerfung unter das Empire. Und dass Edmund Hillary seinen Gipfelerfolg niemals ohne den nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay hätte feiern können? Das ignoriert Starfields Entdeckernarrativ.
Und, nur um das zu betonen, ich interpretiere nicht etwa besonders fleißig irgendwo etwas hinein, das eigentlich nicht da ist. Nein, Bethesda stellt Constellation selbst in die Tradition dieser „Entdecker“, indem es die Vergangenheit durch Portraits zelebriert oder in der Architektur der Loge verewigt.
Bei allen großen Leistungen, allen tatsächlichen „Entdeckungen“ (die zumindest für die Europäer, wenn schon nicht für die Einheimischen, neu waren), waren diese Projekte also doch in ihrer Natur imperialistisch. Das belegen auch zwei weitere „Entdecker“ des 20. Jahrhunderts, beide im übrigen auch Militärs: Neil Armstrong und Yuri Gagarin, deren Portraits an der Treppe beim Eingang der Loge hängen. Auch das Space Race der 1950er bis 1960er Jahre zwischen den USA und der Sowjetunion war die Konkurrenz zweier Imperien in denen die Wissenschaft als legitimierendes Mittel für die eigene Überlegenheit dienen sollte.
Gleichzeitig bedient sich die Science Fiction in Bezug auf die „Eroberung“ des Weltalls bzw. der Gesteinsbrocken in der unendlichen Weite einer alten kolonialen Erzählung: der leere Raum. In der Fotografie oder in Reiseberichten und Erzählungen aus „fremden“ Erdteilen wurden häufig deren Bewohner ausgespart. Stattdessen: „wilde“, „unberührte“ Natur, leer und „ripe for the taking“ für die Europäer. Natur die es zu zähmen und zu unterwerfen galt, so wie z.B. den „Urwald“, der als Inbegriff des Unzivilisierten galt und der zum „Kulturwald“ nach europäischen Muster transferiert werden sollte. Bewohner - Tiere wie Menschen - hatten sich den Veränderungen zu unterwerfen. Gut, jetzt hat der Weltraum natürlich den Vorteil vermutlich recht befreit von Leben zu sein, zumindest so weit wir bislang wissen. Aber! wir wissen es eben nicht mit absoluter Gewissheit. Immerhin: für die Mondforschung werden gewissenhafte Schutzmaßnahmen durchgeführt, um keine Mikroben von der Erde zum Mond zu schleppen (oder in den 60er Jahren auch umgekehrt vom Mond zur Erde). In Starfield dagegen existiert Leben auf sehr vielen Gesteinsbrocken - seien es Weltraumkäfer oder Terrormorphs. Starfield verkauft uns unendliche, leere Weite, bevölkert aber gleichzeitig seine Spielwiese mit Lebewesen, die wir kategorisieren und mit Ressourcen, die wir extrahieren sollen.
Zuletzt: Science Fiction schwankt immer wieder zwischen zwei Polen. Einerseits die Erzählung vom „Edlen Wilden“, wie z.B. in James Camerons Avatar. Nicht zufällig lehnt sich der Film an Pocahontas an. Schon im 16. Jahrhundert wurden die Ureinwohner Nordamerikas als stolze und edle Krieger, wenngleich ohne die (christliche) Zivilisation Europas dargestellt. Der „Wilde“ ist eigentlich negativ behaftet, aber durch den Gegensatz des „edlen“ wird er wie auch im 18. Jahrhundert z.B. bei Georg Forster zu einer Kritik an Europa selbst. Das lässt sich auch in Avatar beobachten, Camerons Kritik an der Umweltzerstörung und der kolonialen Ausbeutung der Menschen ist deutlich zu erkennen. Andererseits: die Angst selbst kolonisiert zu werden. Wenn „Aliens“ keine „edlen Wilden“ und ein Spiegel für die eigene Gesellschaft sind, dann sind sie es, die kolonisieren und damit die „weiße Furcht“ vor Kolonisation widerspiegeln. Es sind Fremde, die kommen, um uns und unsere Art zu leben zu zerstören, uns zu erobern und - in diversen Fällen - die Ressourcen unseres Planeten zu stehlen.
Starfield geht mit keinem dieser diversen Science Fiction Narrative sorgsam um. Es zelebriert die „großen Entdecker“ und den „Entdeckergeist“, ohne mit den historischen Figuren und ihrem Erbe reflektiert zu arbeiten. Es bleibt letztlich oberflächlich im zentralen Konflikt seiner Geschichte, der sich bei Bethesda eigentlich immer aus den Fraktionen und nie aus der Hauptgeschichte speist. UC vs. Freestar Rangers. Ordnung vs. Freiheit. Dabei gäbe es in der Hintergrundgeschichte von Starfield ja sogar den Colony War. Der bleibt aber irrelevant und ist letzten Endes wenig mehr als ein simpler Krieg um ein paar Brocken Fels. Die Menschen auf diesen Felsbrocken? Egal.
Auch das Gameplay in Starfield fördert diese Erzählung: Wir können und sollen Außenposten errichten, um die Ressourcen der diversen Monde und Planeten auszubeuten. Dabei sollten wir gedanklich inzwischen eigentlich weiter sein, als die reine Ressourcenextraktion nach dem Muster der Industrialisierung und Moderne zu propagieren. Und es geht auch anders: Ein Blick zur direkten Konkurrenz von Obsidian zeigt, wie man alte Science Fiction Narrative aufbrechen kann, z.B. indem man satirisch den Finger in die Wunde legt und Kolonialismus und Kapitalismus klar in den Vordergrund legt, so wie bei The Outer Worlds.
Für mich tun sich also mehrere Fragen und ein Dilemma auf. Zuerst zu den Fragen: Warum geht Starfield nicht klüger mit seinen (erzählerischen) Vorbildern um? Warum schafft es Starfield nicht, kritischer mit der Erzählung des „Entdeckertums“ und der „Eroberung“ des Weltraums umzugehen? Eine Constellation, die in sich genau darüber zerstritten ist wäre eine so viel facettenreichere Geschichte. Die Nachwirkungen des Colony War als Äquivalent zu Skyrims Bürgerkrieg eine sinnvolle Komponente. Und ist das Kunst? Wenn Kunst mehr als bloße Unterhaltung bedeutet und Aussagen über Größeres treffen will? Cyberpunk 2077 hat das geschafft, Baldur‘s Gate 3 schafft es und selbst Diablo 4 gelang es - mehr dazu vielleicht in einem separaten Blog-Post.
Und jetzt zu meinem Dilemma: Ich mag Starfield, es unterhält mich, wie es Bethesda-Spiele bei mir immer tun. Ich liebe Science Fiction, gerade weil das Genre so viele Möglichkeiten für spannende Geschichten bietet, die nicht nur von Dystopie leben wie Cyberpunk (das Genre, nicht das Spiel). Und genau das ist der Knackpunkt meines Dilemmas: Ich liebe den Weltraum und seine Erforschung. Die Aufklärung war auch lange Zeit mit einem (heutzutage würden wir sagen: naiven) Glauben an Fortschritt verbunden, einer Hoffnung für die Zukunft. Wie schaffen wir es, eine hoffnungsvolle, positive Science-Fiction Geschichte zu erzählen, ohne dabei auf althergebrachte Narrative hereinzufallen? Denn es ist an der Zeit, die Dystopien hinter uns zu lassen und wieder positivere Erzählungen für die Zukunft zu finden. Ich finde den Versuch bei Starfield eigentlich toll - er ist nur leider an der mangelnden Auseinandersetzung mit der Geschichte des Genres daran gescheitert, mehr zu sein.
Fußnote 1: Der Reisebericht von Georg Forster ist eine klare Leseempfehlung! Forster ist nicht frei von seinen eigenen subjektiven, teils rassistischen Urteilen, aber vor allem konstruiert er die Gesellschaften Ozeaniens, vor allem die Menschen auf Tahiti, als ursprüngliche Gesellschaft, unverdorben von den Übeln der „Zivilisation“ im Westen. Damit ist sein Reisebericht als indirekt eine deutliche Kritik an den Zuständen in Europa. Tahiti musste dabei am Vorabend der französischen Revolution mehrfach als utopische Gesellschaft herhalten, in der Gleichheit und Freiheit herrschten. Besonders Denis Diderot übertreibt maßlos in seinen Beschreibungen von Tahiti, das er selbst nie gesehen sondern lediglich aus Bougainvilles (und möglicherweise Forsters) Beschreibungen kennt. In jedem Fall kann man durchaus annehmen, dass in bürgerlichen Kreisen die Berichte aus Ozeanien auf eine durchaus revolutionsbereite Schicht trafen.
Starfields Scheitern - oder: die versteckten Geschichten hinter dem Sci-Fi Epos
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