Wenn Schall schneller als Licht ist

Von Yeager · 9. Juli 2014 · Aktualisiert am 9. Juli 2014 ·
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  1. Der gestrige Tag, ab 22 Uhr hiesiger Ortszeit, ist in die Fussballgeschichte eingegangen.
    Lauter Rekorde und ein unfassbares Endergebnis!
    Ich war gleich doppelt sprachlos, weil sich mir aufgrund eines defekten TV-Geräts ein Spektakel IM Spektakel geboten hat:
    Ich weiss jetzt, wie sich Zeitreisende fühlen, die in die Zukunft gereist sind!


    Denn ich schaute über den ZDF-Stream das Halbfinale Deutschland VS. Brasilien und registrierte, dass es einen zeitlichen Versatz von gut zwei Minuten gab.
    Nicht etwa Uhren machten mich darauf aufmerksam, sondern die Böller in der Nachbarschaft.
    Ich dachte mir zuerst: "Warum ballern die denn da, ist doch nix passiert" - und zack, zwei Minuten später sehe ich auf dem Screen, wie Müller das 1:0 schiesst in der elften Minute.

    Als das zweite Mal Kracher losgingen, hatte ich die Systematik immer noch nicht begriffen, hielt es für einen Zufall.
    Zumal, so schnell ein weiteres Tor, offensichtlich wieder für Deutschland? Und dann gegen Brasilien? Im Halbfinale? Dann noch Klose - nervenstark im Halbfinale - Rekord und Ronaldo deplaziert?
    Nein, ausgeschlossen..

    Zwei Minuten später sah ich die Realität, konnte sie nicht glauben, begriff jedoch endlich, dass es einen zeitlichen Versatz gab.
    "So ein Mist", dachte ich mir, "ein Mega-Spoiler sondergleichen, das war's dann mit der Spannung."

    Ja, spannend war das Spiel für mich nicht mehr, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie man in den bisherigen, Verlängerungs- und Elfmeter-Poker-Duellen Spannung definiert hätte.
    Doch eine ganz neue Form der Spannung tat sich auf - als ich ABERMALS die Böller draussen hörte, auf dem Screen bis dato aber nur sah, dass der Ball sich noch im eigenen Strafraum befand.
    3:0?
    Und dann so schnell - und gegen Brasilien?

    Es ist eigenartig die Zukunft zu kennen, besonders, wenn man sie nicht glauben kann und doch gleichzeitig mitbekommt, wie sie sich entwickelt.
    Wohl wissend - durch die Zwei-Minuten-vorab-Böller - das wird jetzt WIEDER ein Tor.
    Und wieder.
    Und wieder.
    Und wieder.

    Eine Momentaufnahme:

    Neuer kickt den Ball ins Mittelfeld.
    Draussen höre ich Explosionen und weiss, in zwei Minuten hat Deutschland schon wieder ein Tor geschossen.
    Dann sehe ich, wie der Ball beim ungenauen Pass-Spiel verloren geht.
    Ohne die Zukunft zu kennen hätte ich beim Betrachten dieser Szene gedacht: "Hmm, das wird nix."
    Dann verliert Brasilien den Ball, Deutschland plötzlich vor deren Tor und - zack - die Zukunft wird zur Gegenwart.

    Für einen Moment ist es scheinbar wieder synchron, beherrscht von der üblichen Ungewissheit.

    Draussen höre ich kurze Zeit später wieder die Kracher...
    ...und frage mich, wohl nicht als Einziger, ob ich das alles nur träume.
    7:0?
    Das kann doch nicht wahr sein!
    Langsam wünsche ich mir ein Gegentor, schon aus Ehrengründen für Brasilien.

    Und es fällt, ganz kurz vor Schluss.
    Natürlich kann es nichts mehr retten, es ist aber auch kein Ehrentor mehr, wird wie ein 0:7 angesehen, zumindest von den Brasilianern.
    Die sich zu sehr auf Neymar und ihren Kapitän eingeschossen haben, die emotional viel zu überladen waren.
    Die als Brasilianer keinen brasilianischen, eigentlich überhaupt keinen "richtigen" Fussball mehr spielten, sogar vom eigenen Publikum im heimatlichen Stadion ausgebuht wurden.
    Das teilten mir die Böller nicht mit, das musste ich erst abwarten.

    Grossen Respekt an die deutsche Mannschaft! - das sage ich als Pole, der traditionell bei WMs eher gegen Deutschland ist. (Jetzt hagelt es Dislikes :))
    Besonders, wenn Polen mitspielt.
    Ich sollte eher sagen: FALLS ;-).

    Respekt nicht nur, weil sie grossartigen Fussball und exzellenten Teamgeist gezeigt haben.
    Nicht nur, weil sie Rekorde gebrochen und haushoch verdient gewonnen haben.
    Nicht nur, weil sie ins Finale gekommen sind, was nach dem Algerien-Spiel ihnen viele Deutsche (v.a. selbst ernannte Experten) nicht mehr zugetraut hätten.
    Sondern gerade, weil sie sich als ein erwachsenes FairPlay-Team erwiesen haben, das zunächst den Gegner tröstet, seinen eigenen, sogar kollossalen Triumph nicht
    auf Kosten der Tränen des Gastgeberlandes geniessen kann oder will.
    Das zeigt wahre Grösse, ganz gleich, ob sie das Finale gewinnen werden oder nicht (ich gönne ihnen den Titel spätestens nach diesem Spiel auf jeden Fall).

    Genau, wie das Volk Brasiliens (wenn man von der niveaulosen Ausbuhung von Fred absieht):
    Sie klatschten plötzlich im Spiel für Deutschland - und hatten neben Tränen der Fassungslosigkeit Respekt und Anerkennung für das deutsche Team.
    Wir alle können viel von beiden lernen, dem brasilianischen Volk und dem deutschen Team.

    Und ich - ich lernte viel darüber, wie sich Zeitreisende fühlen, die die Zukunft gesehen, äh, gehört haben.
    Gemischt nämlich.
    Ungläubig ob des unabwendbaren Schicksals - und interessiert bei der umgekehrten "Rückbetrachtung", wie es dazu kam - also kommen wird, kommen sollte - ihr wisst schon, was ich meine.

    Es ist ein interessantes Gefühl, aber die Gegenwart mit ihrer böllerfreien Ungewissheit ist einfach viel spannender.
    Nicht nur im Fussball.
    Ich gehe davon aus, dass einige diese Erfahrung schon gemacht hatten, für mich war es das erste Mal, ich war beeindruckt.
    Gerade bei einem solch denkwürdigen, historischen Spiel, wie diesem.

    Eines steht für mich jedenfalls fest:
    Das Finale schaue ich mir nicht zu Hause an - nicht aus sozialen, sondern aus temporalen Gründen ;-)

    Über den Autor

    Yeager
    Chuck Yeager durchbrach als erster Mensch die Schallmauer.
    <br/>Ich stolperte über seinen Namen als damals noch kleiner Junge beim Gucken von "Der Stoff aus dem die Helden sind".
    <br/>Sein Name gefiel mir, wurde zum Nick und blieb es.

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