Doctor Strange - Iron Man trifft Harry Potter

In Doctor Strange wird ein Ekelpaket zum Marvel-Helden. Also wie bei Iron Man. Aber wie viel Spaß man damit hat, hängt entscheidend davon ab, was Sie vom Film erwarten.

Doctor Strange zaubert sich in der Filmkritik durch Höhen und Tiefen. Doctor Strange zaubert sich in der Filmkritik durch Höhen und Tiefen.

Bei dieser Filmkritik zu Marvels neuem Blockbuster Doctor Strange fasse ich mich mal kürzer als sonst üblich. Ich bin nämlich der Meinung, dass das eigene Kinoerlebnis diesmal extrem davon profitiert, wenn man so wenig wie möglich über die Story des Films weiß. Und in dem Fall hat man tatsächlich mal die Chance dazu, schließlich dürften die wenigsten Spieler (ohne ausgeprägte Comic-Affinität) bisher viele Berührungspunkte mit Marvels ominösem Zauberer vorweisen können - zumindest beschränken sich dessen Auftritte in Spielen auf einige Nebenrollen in Lego Marvel oder Marvel: Ultimate Alliance.

Umso löblicher, dass sich Marvel wie schon bei Ant-Man entscheidet, diesem unbekannten Superhelden die ganz große Leinwand zur Verfügung zu stellen, um ihm mehr Bekanntheit und Ansehen zu verschaffen. Mit Sherlock-Koryphäe Benedict Cumberbatch in der Haupt- und Hannibal-Fiesling Mads Mikkelsen in der Schurkenrolle fehlt es auch nicht an Schauspiel-Potenzial. Außerdem hat die Formel »Ekelpaket muss lernen, ein Held zu sein« bereits damals bei Iron Man fantastisch funktioniert. Und Zauberer findet ja seit Harry Potter (fast) jeder super.

Eine Menge Gründe also, warum Doctor Strange der nächste große Superhelden-Hit werden könnte. Aber geht die Rechnung auch auf?

Die Marvel-Popcorn-Routine

Um auf Spoiler zu verzichten, skizziere ich nur mal die ganz grobe Ausgangssituation: In Doctor Strange geht es um einen arroganten, selbstsüchtigen und genialen Chirurgen, der durch eine Reihe unglücklicher Umstände die Chance bekommt, der mächtigste Magier des Marvel-Universums zu werden. Anders als bei den Avengers oder Guardians of the Galaxy stehen hier weder kosmische noch terroristische Bedrohungen im Vordergrund, sondern allerlei magisches Unheil, das unser komplettes Raum-Zeit-Gefüge über den Haufen werfen könnte. Die Verzerrung und Manipulation der Realität ist eines der spannendsten Alleinstellungsmerkmale von Doctor Strange. Schade, dass die Story so wenig daraus macht. Als größtes Problem des Films entpuppt sich nämlich die mittlerweile arg auffällige Marvel-Mainstream-Routine.

Marvels Doctor Strange - Comic-Con-Trailer mit Benedict Cumberbatch Video starten 2:16 Marvel's Doctor Strange - Comic-Con-Trailer mit Benedict Cumberbatch

Wenn Sie als Superhelden-Fan ins Kino gehen, um sich mit vielseitigen Figuren auseinanderzusetzen (wie bei Watchmen), spannende Twists erleben wollen (wie in The Dark Knight) oder kreative Fragen über das Leben und die Realität erwarten (wie in den X-Men-Filmen), dann werden Sie in Doctor Strange all das nicht bekommen. Auch die humorvolle Dynamik eines Deadpool erreicht der Film an keiner Stelle. Ich weiß natürlich, dass man sich von einem Superheldenfilm nicht zwangsläufig tiefschürfende Metakommentare erhoffen sollte, aber auch im Vergleich zu den Highlights der Marvel-Popcorn-Blockbuster (zum Beispiel Captain America 2: The Winter Soldier) fällt Doctor Strange extrem routiniert und vorhersehbar aus. Man hat seinen exotischen Comedy-Sidekick (anders als bei Ant-Man diesmal kein Latino, sondern ein Asiate), es gibt das besorgte Love Interest und den leicht verbitterten, aber sympathischen Mentor (hier nicht Michael Douglas, sondern Tilda Swinton). Natürlich darf auch der eindimensionale Schurke mit pseudo-nachvollziehbarem Motiv nicht fehlen, der genau die Macht missbraucht, die dem Helden seine Stärke gibt.

Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht zynisch, aber ich will nur darauf hinweisen, dass man trotz der hochkarätigen Besetzung in puncto Storytelling keine Überraschungen von Doctor Strange erwarten sollte. Mads Mikkelsen wird hier in seinem Hannibal-Schurkenpotenzial völlig verbrannt - jede Zeile, die er als eindimensionaler Fiesling Kaecilius äußert, erinnert die Zuschauer daran, wie viel der Kerl eigentlich auf dem Kasten hat. Und obwohl Benedict Cumberbatch sich hervorragend für so einen mysteriösen Zauberer wie Doctor Strange eignet, zwingt ihn das Skript doch dazu, sich wie ein Tony-Stark-Verschnitt mit ein bisschen weniger Playboy-Appeal zu verhalten. Die angedeuteten düsteren Bedrohungen am Rande unserer begreifbaren Realität hätten so schönes Lovecraft-Material für packende Widersacher hergegeben, aber letztlich wirken sie doch eher wie Disney-Monster als wie verzerrte Kreaturen der Dark-Souls-Liga.

Und bevor jetzt jeder abspringt, weil er den Film als Humbug abtut: Ich finde trotzdem, man sollte Doctor Strange eine Chance geben. Das hat zwei Gründe.

Zwei Gründe für Doctor Strange

Der erste Grund ist simpel: die Bilder. Die Story von Doctor Strange macht zwar wenig Innovatives aus dem realitätsverändernden Zauberer-Setting, die Effektwerkstatt dafür umso mehr. Selten habe ich Magie so kreativ in einem Film umgesetzt gesehen. Als exemplarisches Beispiel ein Mini-Spoiler vom Filmbeginn, der auch bereits im Trailer gezeigt wurde:

Warnung: der folgende Absatz enthält Spoiler

In einer Szene gibt's etwa einen großartig inszenierten Kampf in einer Großstadt, die sich währenddessen selbst zusammenfaltet.

Vieles erinnert an Inception auf Speed - die Marvelmagie entwickelt dabei aber ihre ganz eigene Bildsprache, und es macht wirklich viel Spaß, sich die anzuschauen.

Die Action kann also auf ganzer Linie überzeugen. Eigentlich verhält sich der Film hier ähnlich wie Ant-Man: Ein relativ konventionelles, massentaugliches Skript dient als Grundlage, um nie dagewesene Kampfchoreographien aufs Parkett zu legen. Nur spielen die hier nicht mit Schrumpfen und Vergrößern (man erinnere sich an das grandiose Finale von Ant-Man), sondern mit verzerrten Realitäten, Spiegelungen und Zaubertricks. Um es auf den Punkt zu bringen: Solche Action-Szenen habe ich noch nicht gesehen, und allein dafür lohnt sich der Kinobesuch, schließlich liebe ich als Gamer solche cleveren Spielereien mit Effekten.

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Grund Nummer Zwei: Der Film funktioniert. Ja, die Gags zünden nicht immer, und ja, Doctor Strange fordert den Zuschauerkopf mit seiner Story nie heraus, trotzdem macht die wilde Achterbahnfahrt durch die magische Seite des Marvel-Universums unterm Strich jede Menge Spaß. Für mich ist er das perfekte Beispiel für anspruchslose Kurzweil: An keiner Stelle habe ich mich gelangweilt, auf die Uhr geschaut oder die Stirn gerunzelt. Auch wenn die Schauspieler nie an ihre Grenzen kommen, machen sie das Beste aus ihrer Rolle und erschaffen eine sympathische Gute-Laune-Atmosphäre, in der ich mich als Kinobesucher wohlfühle. Und das lebendige Cape von Doctor Strange verdient eine eigene Erwähnung, weil es die witzigsten Szenen des ganzen Films liefert. Obwohl ich ein Comic-Fan bin, hatte ich zu dem ominösen Magiedoktor bisher keinerlei Beziehung - und ich wurde rundum gut unterhalten.

Wenn Sie Marvelfilme doof finden, dann wird Doctor Strange ziemlich wahrscheinlich nur Öl ins Feuer gießen. All die Aspekte, über die sich Kritiker häufig lustig machen, findet man auch hier: ein routiniertes Skript, eindimensionale Gute-Laune-Figuren, freche Punchlines aus dem ewig gleichen Humor-Pool - was auch immer Doctor Strange in den Comics so markant macht, wurde hier zwar aufgegriffen, aber für den Mainstream geglättet. Die Iron-Man-Formel funktioniert hier nicht mehr so frisch wie 2008, das stimmt. Aber wenn man sich mit seiner Kritik nur darauf stürzt, dann verkennt man, was der Film eigentlich will: Eine neue Dimension des Marvel-Universums spektakulär, innovativ und unterhaltsam inszenieren. Einen Grundstein legen für einen Superhelden der B- oder C-Seite, der ab sofort auch mit den großen Avengers mithalten kann. Beides gelingt Doctor Strange voll und ganz - ob man damit auch in wirklich unbekannte Story-Gewässer schippern kann, wird der eventuelle Nachfolger beweisen müssen.

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