Warum Rollenspiele immer schneller werden - Das Ende der Epik

Der Trend zu mehr Action und schneller erzählten Geschichten macht auch vor dem Rollenspiel-Genre nicht Halt. Geht dadurch etwas verloren? Wir analysieren im Report aktuelle und klassische RPGs.

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Feinde, überall Feinde! Noch bevor ich schießen kann, beginnt eine Cutscene: Ein Helikopter kracht in einen Wolkenkratzer, der zusammensackt. Aus der Trümmerwolke hechtet ein Kampfhund, Quicktime-Event: W, D, S, A, auf die linke Maustaste hämmern, so gewinnt man die Schlachten von heute. Ich lade nach – Cutscene! Ein Raumschiff landet, aus dem böse, achtköpfige Aale schlängeln. Ich trete einen Schritt zurück – Cutscene! Marines rennen durcheinander, Schreie, Explosionen! Der Vatikan erklärt Amerika den Krieg, Schweizergardisten stürmen mit Hellebarden das Kapitol, der Atomkoffer ist weg!

Okay, ich übertreibe: In diesem Ausmaß hat mich noch kein Spiel von Katastrophe zu Katastrophe gehetzt – nicht mal Modern Warfare 3, das sich redliche Mühe gibt. Die Fantasieszene soll vielmehr bildhaft für eine Entwicklung stehen, die ich bereits seit einigen Jahren beobachte: Generell werden Spiele immer tempo- und actionreicher, sie überbieten sich gegenseitig mit Effekt-Feuerwerken. Am deutlichsten wird das an der Call of Duty-Reihe, die sich mit ihrer Kawumm-Kulisse das Gütesiegel der perfekten Popcorn-Unterhaltung verdient hat.

Nun mögen viele Spieler von einem Shooter auch genau das erwarten. Bei storybetonten Genres, allen voran Rollenspielen, wünsche ich mir hingegen sehr wohl eine intelligent erzählte Geschichte, die mich emotional berührt. Doch auch dort keimt der Trend zum temporeichen und actionlastigen Spielablauf, auch wenn er längst noch nicht das gesamte Genre erfasst hat. Die prominenten Vertreter der Drück-auf-die- Tube-Fraktion sind The Witcher 2, Dragon Age 2und die Mass Effect-Serie, die ihre Geschichten schneller und filmhafter erzählen als etwa Two Worlds 2, Fallout: New Vegas, Risenoder Drakensang– ganz zu schweigen von Abenteuern der alten Garde wie Baldur’s Gate, Gothicund Outcast.

Im Prolog von The Witcher 2 erleben wir unter anderem die Ermordung König Foltests. Im Prolog von The Witcher 2 erleben wir unter anderem die Ermordung König Foltests.

Zum Tempo gesellt sich oft eine vereinfachte Mechanik. Die Zeit, in der ich meinen Helden aus Tabellen zusammenbastelte, scheint vorbei zu sein. Doch geht uns durch den beschleunigten Erzähltakt noch etwas anderes verloren?

Vollgas zum Einstieg

Ein moderner Trend ist der rasante Einstieg, bereits in den ersten Minuten soll, nein: muss es ordentlich krachen. Da ist es nur konsequent, dass The Witcher 2 innerhalb der ersten Stunde eine Belagerung samt Drachenangriff abbrennt. In derselben Zeit hätte ich in Baldur’s Gate 2 (2001) nicht einmal den Start-Dungeon verlassen.

Auch bei Baldur's Gate 1 verlief der Einstieg langsam. Auch bei Baldur's Gate 1 verlief der Einstieg langsam.

Erzählt wird die Hexer-Geschichte zwar auch in Dialogen, vor allem aber in flotten Zwischensequenzen. Da wirbeln Schwertkämpfer umeinander, Gebäude gehen in Flammen auf, Attentäter meucheln in Zeitlupe. »Wir können fast alle Sinne des Spielers nutzen, um ihn in die Spielwelt zu ziehen«, sagt Sebastian Stepien, der Chefautor von CD Projekt. Und tatsächlich: Mein Held, der Hexer Geralt, nimmt aktiv am Geschehen teil, rennt, kämpft, schreit. Keine Frage: Das macht Spaß. In keinem anderen Rollenspiel passiert innerhalb der ersten Stunde so viel.

Das Tempo zieht in die Welt, die Action hält bei Laune: »Cutscenes sind ein großartiges Mittel, um Geschichten zu erzählen und den Spieler in die Rolle des Helden schlüpfen zu lassen«, führt Stepien aus. Auch Emotionen transportieren die Filmschnipsel sehr gut, da sie Charaktere in Aktion zeigen. So wirken die Figuren realer als statische Dialogpartner. Wenn ein König unentwegt auf und ab schreitet, ist das nun mal eindringlicher als wenn er nur sagt: »Ich bin nervös.«

Gemütlicher Auftakt

Im Vergleich zum Actiongewitter des Hexer-Abenteuers wirken die Einstiege von Gothic (2001), Morrowind (2002) und Outcast (1999) schneckenlahm. Gothic erteilt dem Spieler anfangs einen ersten Auftrag: das Alte Lager, eine Siedlung, erreichen. Weniger heldenhaft geht’s kaum. Cutscenes? Fehlanzeige. Stattdessen muss man sich selbst darum kümmern, die Welt kennenzulernen, indem man Gespräche führt und die Umgebung erkundet. Auch bei den späteren Piranha-Bytes-Spielen fällt der Einstieg vergleichsweise gemächlich aus.

Gothic führt den Spieler behutsam in die Spielwelt ein. Gothic führt den Spieler behutsam in die Spielwelt ein.

Björn Pankratz von Piranha Bytes erklärt: »Es ist uns wichtig, den Spieler nicht gleich zu überfordern. Er soll sich zunächst in einer plausiblen Startsituation wiederfinden, die nach und nach komplexer wird.« Während The Witcher 2 am Scheitelpunkt des Spannungsbogens beginnt, geht Gothic den klassischen Weg und erklettert ihn nach und nach. Das Ergebnis: In Gothic erlebe ich eine Geschichte, die langsam an Fahrt aufnimmt und in einem befriedigenden Höhepunkt gipfelt, während in The Witcher 2 nach dem pompösen Einstieg die Spannung eigentlich nur abflachen kann – und das auch tut.

Das ist die Krux an den Cutscenes: Sie sind zwar ein gutes Mittel, um Spannung und Tempo aufzubauen; es fällt aber schwer, beides aufrecht zu erhalten. Zumal es vielen Titeln an Dramaturgie fehlt: Ohne gelungene leise Passagen wirken die Schockmomente nicht. Wenn sich die Zwischenfilme zu sehr häufen, stumpft der Spieler ab. Bei Rollenspielen ist das besonders problematisch, da sie in der Regel mindestens zwanzig Stunden lang unterhalten sollen. Bei einem dauerhaften Effekt-Sperrfeuer fällt es da schwer, echte Höhepunkte zu setzen.

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