Worum geht es überhaupt bei einem Spiel?
Wirklich ums Gewinnen?
Um jeden Preis?
Mike Tyson tritt gegen einen Fünfjährigen an - und - (Trommelwirbel!) - besiegt ihn!
Sieht das nach einer Headline aus?
Möchten wir so etwas lesen oder gar erleben?
Eher nicht, oder? Nicht nur weil es lebensgefährlich für den Kleinen und moralisch verwerflich für den Großen wäre, sondern weil es auch keine Leistung darstellt. Es ist nichts Besonderes, wenn ein von Hause aus Überlegener einen ebenfalls von Hause aus Unterlegenen besiegt. Umgekehrt sieht das schon anders aus.
Ist doch selbstverständlich, warum schreibt Yeager also über so etwas?
Weil es so selbstverständlich für viele gar nicht ist.
Doch eins nach dem anderen.
Ein, sagen wir, "Mensch, mit dem ich mal viel zu tun hatte" stand total auf das Brettspiel "Mensch ärgere dich nicht". Es wird schon seinen Grund gehabt haben, warum der Erfinder das Spiel so nannte, also im Imperativ. Denn es erzeugt im Regelfall das gegenteilige Gefühl beim Besiegten: er ärgert sich. Oder Schlimmeres. In meinem Fall Letzteres, denn besagter Mensch, mit dem ich das Spiel spielte, badete regelrecht in seiner narzistischen Hybris. Er feierte jeden Sieg ohne jedwede Selbstironie als Beweis seiner taktischen Überlegenheit, lachte mich aus und verhöhnte mich. Wobei sich die "gottgleiche" Taktik darauf beschränkte zum richtigen Zeitpunkt die richtige Zahl zu würfeln, was also eine reine Glücksache ist und mit Taktik nichts zu tun hat. Doch mit solchen Fakten durfte man ihm nicht kommen, wenn man gerne ohne blaue Augen zur Schule gehen wollte.
Ich gewöhnte mich an die Schmähungen und Entwürdigungen und dachte mir meinen Teil. Ich fühlte mich also wie der zu Boden geschlagene Fünfjährige, der in einer Mischung aus Unglaube, Verbitterung, Traurigkeit, Zorn und Mitleid auf den achso triumphalen Hünen hochschaut, der ihn besiegte und nun sich selbst feierte angesichts dieser "Leistung". Wenn so "Spielspaß" aussieht, einen Unerfahrenen nicht nur zu besiegen, sondern sich auch nur über ihn lustig zu machen und sich selbst manisch zu überhöhen, dann mochte ich mir schon als Kind nicht ausmalen, wie die inverse Seite dessen wohl erst aussähe. Doch das Schicksal meinte es "gut" mit mir, liess mich diese Erfahrungen dennoch machen. Solange dieser Mensch gewann, war die Welt also einigermaßen in Ordnung für mich. Nicht wirklich, nur angesichts der Alternativen. Was nämlich geschah, wenn ich mal gewann, was von Zeit zu Zeit durch "Würfelpech" unvermeidbar war, möchte ich dem Leser an dieser Stelle ersparen.
Menschen, die sich so verhalten wie der Besagte, sind krank, keine Frage.
Kann das Brettspiel etwas dafür? Wohl kaum. Sind die Würfel böse oder die Figuren oder das Spielbrett? Auch nicht. Es ist etwas, das dem Menschen inne wohnt: der evolutionäre Drang nicht nur zu Überleben, sondern auch besser als jeder andere zu sein. Damit das eigene Genom mehr wert ist, als jedes andere. In meinem Fall war dies besonders grotesk und widersprüchlich, wie man sich schon denken kann, wenn man genügend Phantasie mitbringt, um dahinter zu kommen, von wem hier die Rede ist. Und wie in allen kranken Fällen dieser Art zeugt der unbändige Drang nach einer solchen Selbstbestätigung eigentlich nur davon, dass dieses Gefühl vermeintlicher Sicherheit wohl auch bitter nötig ist. Denn das Gegenteil trifft wohl eher zu. Wer sich wirklich an Schwächeren aufgeilen muss, damit er überhaupt etwas wert ist - ist selbst völlig wertlos in meinen Augen. Das war die Lehre, die ich daraus zog.
Doch ich machte den Fehler - man möge ihn mir verzeihen, ich war ein verletztes Kind - dass ich fortan selbst nach Selbstbestätigung suchte, geradezu manisch. Und zwar einer echten, einer, die sich nicht durch Wüfelglück oder -pech würde revidieren lassen können. Es gibt nicht so viele Spiele, die komplett ohne Glück auskommen. Doch es gibt dieses eine, dieses uralte, den König aller Spiele. Es ist rundenbasiert und entgegen Podolskis Annahme (oder zumindest dem, was ihm die Presse in den Mund gesteckt hat) wird es ohne Würfel gespielt. Die Rede ist natürlich von Schach. Ich wurde Mitglied in einem Schachverein und trainierte wie ein Wahnsinniger. Ja, es ist wie Sport, man bekommt irgendwann Erfahrung, ein Händchen, ein intuitives Gespür für die Zusammenhänge zwischen den 64 Feldern und halb so vielen Figuren.
Als ich die ersten Spiele gewann, war ich noch ungläubig. Konditioniert anhand eines schlechten Vorbildes wollte ich mich ebenfalls feiern, das dunkle Erbe annehmen, mich selbst überhöhen und meinen unterlegenen Kontrahenten erniedrigen. Bis mich ein älterer Spieler, der einiges auf dem Kasten hatte (keiner hatte je gegen ihn gewonnen) mich beiseite nahm und mir sinngemäß folgendes sagte: "So, du meinst also, so sieht Gewinnen aus? Das ist Verlieren, mein Freund!". Ich verstand zunächst nicht, was er damit meinte. Er forderte mich zum Duell heraus. Nie vorher und nie später hatte ich solche Probleme, er war ein Meister in diesem Spiel. Schliesslich verlor ich und machte mich darauf gefasst nun wieder die Kehrseite abzubekommen. Doch es sollte ganz anders kommen: Er grinste mich an und meinte nur zu mir: "Arbeite an deinem Charakter. Lerne zu gewinnen UND zu verlieren! Lerne nicht für das Spiel - das spielst du gut genug. Du hast mir viele Probleme gemacht und ich habe nur knapp gewonnen." Dann reichte er mir die Hand und nickte mir wohlwollend zu. Ich verstand die Welt nicht. Im Laufe der Zeit begriff ich jedoch, was er meinte.
Wenn ich heute gegen eine KI spiele, ärgere ich mich manchmal. Über dummes Verhalten, über sinnlose Züge, Unachtsamkeiten, fehlendes zusammenhängendes Denken. Bis mir klar wird, dass sie nicht mal wirklich eine künstliche Intelligenz darstellt. Sie ist einfach gar keine, nur ein Schemata von Wenn-Dann-Beziehungen, das nicht lückenlos sein kann. Fühle ich mich also im Stolz verletzt, wenn mich eine DPI - eine "dumme Pseudo-Intelligenz" besiegt? Keineswegs, ich geniesse es förmlich. Denn das heisst nichts anderes, als dass das Game eine Herausforderung darstellt, es mir nicht leicht macht. So macht es auch Spaß - umgkehrt kaum.
Wenn ich gegen Menschen spiele und diese besser sind als ich, sei es nur in diesem einen Match, sei es generell - dann erkenne ich das an. Ich fühle mich dadurch nicht weniger wert, muss weder ihnen, noch mir etwas beweisen. Und wenn jemand wirklich gut spielte, lasse ich ihm ein "Well played!" per Chat zukommen. Oder ein "gg" (good game). In jedem Fall, egal, ob ich gewinne oder verliere.
Weil es gar nicht um Gewinnen oder Verlieren geht. Das tat es noch nie. Die Natur, die Gesellschaftsform, die Geschichte, die Vergangenheit, das Geld und das Wetter lassen uns in diesem Wettbewerbsdenken auf- und eingehen zugleich. Vor allem an die strikt daraus resultierende Konklusion, dass nur der Gewinner einen Wert hat, der Verlierer nicht. Dass nur Gewinnen etwas zählt und beim Verlieren schaltet man auf eine niedrige Schwierigkeitsstufe runter, lädt einen alten Spielstand, heult rum oder beleidigt den anderen und bezichtigt ihn des Cheatens. Will man sich wie Gott fühlen? Endlich mal den Alltag entfliehen und übermächtig sein? Alles können, alles dürfen, selbst im besoffen Zustand unter Garantie zu gewinnen?
Will man das wirklich? Falls ja, wo ist der Reiz? Welchen Anreiz hätte ein Tyson auf einen Fünfjährigen einzuschlagen? Ist dieser leichte Sieg das wert, ist er überhaupt etwas wert?
Ist das so, ist es das, worum es bei Spielen geht?
Ich glaube nicht. Ich glaube, es geht um den Reiz der Sache an sich. Gut verlieren zu können ist für viele leider immer noch eine hohe Kunst - doch es ist fast noch schwerer gut gewinnen zu können. Denn was sagt es aus, wenn man gewann?
Ist man generell gut? Oder waren es nur die Umstände, jener Gegner, dieses KI-Profil, dieser Schwierigkeitsgrad - also besagte Würfel in all ihren Variationen?
Wird es immer so sein? Und was, wenn nicht? Verliert man als Mensch wirklich einen Wert, wenn man verliert - gewinnt man mehr dazu, wenn man gewinnt?
Die Antwort ist in allen Fällen ein klares Nein:
Nein, es geht nicht ums Gewinnen - höchstens für die, die sich dringend etwas selbst beweisen müssen. Besonders, wenn sie das ohne Leistung gegen Schwächere durchziehen. Egal, ob gegen klar unterlegene menschliche Gegner oder eine schwachbrüstige KI auf niedrigster Schwierigkeitsstufe.
Es geht um den Reiz des Spiels selbst, je schwerer, desto besser. Ein Hoch auf bockschwere Spiele, die ihren Schwierigkeitsgrad nicht künstlich erzeugen, indem die Steuerung scheiße ist oder alles nur auf Würfeln basiert. Ein Hoch auf Spiele, die einen fordern, bei denen man verlieren kann, die selbst auf leichtester Stufe nur mit grösster Mühe und Not schaffbar sind. Sie sind ein bisschen wie echte Menschen, gute Spieler. Sie machen erst richtig Spaß! Je grösser die Herausforderung, umso spaßiger. Wenn man diesen Kampf gewinnt, dann kann man sich freuen. Ja, man darf sich sogar auf die Schulter klopfen, dämlich grinsen, von mir aus im Quadrat springen. Aber dem Gegner reicht man gefälligst trotzdem die Hand und verneigt sich. Ehrlich und voller echter Achtung. Denn er ist es, der einem diesen hohen Spielspaß überhaupt erst möglich machte, er ist genauso gut, nur deswegen machte es überhaupt Spaß - und wird beim nächsten Mal vielleicht der Sieger sein.
Alles andere ist schlechtes Verlieren, selbst wenn man gewann.
Yeager
Von verlierenden Gewinnern
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