Wer Spiele liebt, muss sie kritisieren!
»So ein Schwachsinn, voll der Widerspruch!«
Na, ertappt?
Das dürfte sich so Mancher gedacht haben bei dem Titel. Es müsste doch genau umgekehrt sein! Man müsste ein Spiel, das man mag in den höchsten Tönen loben! Man müsste überall Werbung dafür machen, man müsste als Fan mutig und überzeugt in den Krieg ziehen gegen die Hater, die es kritisieren. Man müsste das Game und den Entwickler also »supporten«, wie es so schön heißt. Oder nicht?
Nein.
Im Gegenteil: Man muss es kritisieren - nur richtig.
Aber Eines nach dem Anderen. Vorab zwei Definitionen, nur um sicher zu stellen, dass es keine Missverständnisse gibt.
Der Hater
Ein Hater ist jemand, der ein Spiel grundlos kritisiert. Er findet alles an dem Spiel schlecht, selbst die Dinge, die gut sind oder ihm insgeheim sogar gefallen findet er schlecht. Es geht ihm nicht um das jeweilige Argument, zur Not zieht er sich welche aus der Nase. Es geht ihm um Mißgunst. Er empfindet eine besondere Art der Freude, die es möglicherweise nur bei Menschen und Delphinen gibt, wobei es bei Letzteren nicht sicher ist: Schadenfreude. Er erfreut sich daran zu sehen, wie er sein Gegenüber zur Weißglut bringt. Kein Preis ist ihm dafür zu hoch, kein Weg zu weit. Ihm geht fast einer ab dabei eine 0%-Wertung zu vergeben, weil er weiß, wie diese ankommen wird. Die Schadenfreude wird bei ihm zur Sucht, die Sucht wird zum Gefühl der Macht durch die Anonymität des Internet.
»Spielt das noch wer?« ist eine für ihn typische rhetorische Frage, die zum Ausdruck bringen soll, wie wertlos er das Spiel und wie rückständig oder gar erbärmlich er dessen Spieler findet. Weil es ihn in seinen Augen gleichzeitig erhöht, über alle anderen stellt. Das grundlose Niedermachen eines Spiels und der dazugehörigen Spieler bekommt bei ihm daher Züge eines fast schon religiösen Rituals und macht ihn unbelehrbar. Diskussionen mit ihm sind keine.
Empathie, die Fähigkeit sich in andere hinein zu versetzen, die Welt durch ihre Augen zu sehen, besitzt er nicht oder hat sie bewusst abgeschaltet. Weil sie Zweifel in ihm verursachen und damit die Schadenfreude entwerten würde. Daher wird er sich nicht bewusst, dass er auf diese Weise in eine selbst induzierte Hass-Spirale gerät: Er wird zum Hater-Sein verdammt, er wird blind, sieht nur noch, was er sehen will. Er empfindet jede positive Kritik am Spiel - und sei sie noch so berechtigt - als negative Kritik an seiner Person, findet dadurch immer mehr Bestätigung und Rechtfertigung im Haten. Er wird zum Fan(atiker).
Der Fan-Boy
Ein Fan-Boy ist jemand, der ein Spiel grundlos feiert. Er findet alles an dem Spiel gut, selbst die Dinge, die schlecht sind oder ihm insgeheim nicht gefallen findet er gut. Es geht ihm nicht um das jeweilige Argument, zur Not zieht er sich welche aus der Nase. Es geht ihm um Überdrehung. Er empfindet eine besondere Art der Freude, die es möglicherweise nur bei Menschen gibt: Manie. Er erfreut sich an der Freude selbst, steigert sich zur Not grundlos in Ekstase hinein, überhöht alles. Kein Preis ist ihm dafür zu hoch, kein Weg zu weit. Ihm geht fast einer ab dabei eine 100%-Wertung zu vergeben, weil er weiß, wie diese ankommen wird. Die überdrehte und überhöhte Glückseligkeit wird bei ihm zur Sucht, die Sucht wird zum Gefühl der Macht durch die Anonymität des Internet.
»Das Spiel ist super!!!!!« ist eine für ihn typische Aussage, die mittels möglichst vieler Ausrufezeichen zum Ausdruck bringen soll, wie großartig er das Spiel und wie sympathisch oder gar liebenswert er dessen Spieler findet. Weil es in seinen Augen nicht um das Spiel, sondern ihn selbst geht, ihn selbst überhöht. Das hartnäckige Beharren auf der vermeintlichen Großartigkeit des Spiels bekommt bei ihm daher Züge eines fast schön religiösen Rituals und macht ihn unbelehrbar. Diskussionen mit ihm sind keine.
Empathie, die Fähigkeit sich in andere hinein zu versetzen, die Welt durch ihre Augen zu sehen, besitzt er nicht oder hat sie bewusst abgeschaltet. Weil sie Zweifel in ihm verursachen und damit die ekstatische Freude entwerten würde. Daher wird er sich nicht bewusst, dass er auf diese Weise in eine selbst induzierte Hype-Spirale gerät: Er wird zum Fan-Boy-Sein verdammt, er wird blind, sieht nur noch, was er sehen will. Er empfindet jede negative Kritik am Spiel - und sei sie noch so berechtigt - als negative Kritik an seiner Person, findet dadurch immer mehr Bestätigung und Rechtfertigung im FanBoy'en. Er wird zum Fan(atiker).
Zwei wie Pech und Schwefel
Ist schon erstaunlich, wie ähnlich sich diese beiden Extreme sind, nicht wahr? Sie sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, haben mehr Gemeinsamkeiten, als es beiden lieb wäre. Egal, wie fundamental gegensätzlich und miteinander verfeindet sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.
In Wahrheit brauchen sie sogar einander. Der Eine kann nicht "vernünftig" hassen, wenn jeder andere auch hasst oder auf seinen Hass nicht reagiert. Der Andere kann nicht "vernünftig" überdrehen, wenn jeder andere auch überdreht oder keiner auf seine Überdrehung reagiert. Beide brauchen den jeweiligen Gegenpol, durch den sie sich erst definieren, zu ihrer Höchstform auflaufen und dadurch erst ihren Platz finden. Keiner von beiden würde das je zugeben, keinem von beiden wird es je bewusst. Beide denken nur an eines: An sich selbst.
Und was ist mit dem Spiel?
Eben, was ist mit dem Spiel? Wenn beide Seiten nur an sich selbst denken, keinerlei andere Perspektive gestatten, keiner von beiden sich wirklich mit dem Spiel, wie es wirklich ist auseinander setzt, sie jeweils nur Kritik zulassen oder nur Beweihräucherung: Welche Aussage ergibt sich damit für das Spiel?
Ganz einfach: Gar keine.
Unmöglich und unendlich
Kein Spiel ist entweder nur gut oder nur schlecht. Selbst das schlechteste Spiel hat noch eine Sonnen-, selbst das beste Spiel noch eine Schattenseite. Kein Spiel ist so wertlos, dass es eine 0% Wertung verdient hätte. Das würde nichts anderes heissen, als dass das Spiel schlichtweg nicht da wäre. Selbst, wenn das Spiel überhaupt nicht spielbar wäre, wenn es aus nichts anderem, als nur dessen Installationsprozeß bestünde, wäre 1% drin. Null ist überhaupt nicht möglich, so wie auch Null Kelvin eine rein theoretische Temparatur ist, die in der Realität prinzipiell nicht erreicht werden kann.
Genauso auf der Gegenseite: Ein Spiel mit einer 100%-Wertung müsste ein perfektes Spiel sein. Das Wort "perfekt" ist hierbei wörtlich zu verstehen. Das bedeutet, dass man gar nichts, wirklich überhaupt nichts mehr besser machen könnte. Das ist völlig unmöglich, man kann immer etwas verbessern, die Möglichkeiten sind unendlich. Schon der allererste Patch mit Zusatz-Content würde es auf über 100% heben. "Perfekt" ist aber ein Superlativ und solche haben per Definition keine Steigerungsmöglichkeit. Das höchste der Gefühle ist also 99% - und will überhaupt erst mal erreicht werden. Die höchste (von GS) je vergebene Wertung lag bei 97%, wenn ich mich recht entsinne. So, wie es niemals ein perfektes Buch oder einen perfekten Film geben wird, so ist auch ein perfektes Spiel ein reines Konstrukt, das es in der Realität nicht geben kann.
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte?
Wem soll man also als potentiell am Spiel Interessierter nun glauben? Dem 0%-Hater oder dem 100%-FanBoy? Dem, der die Startlinie nicht mal überqueren will oder dem, der weit übers Ziel hinaus geschossen ist? Die Antwort: Keinem von beiden.
Man ist irritiert, versucht sich notgedrungen rein zu finden in die Aussagen von beiden. Man spielt Aschenputtel, trennt die Spreu vom Weizen, versucht es zumindest. Irgendwann lässt man es sein, verliert den Nerv darauf. Vielleicht schaut man sich ein Let's Play auf YouTube an, vielleicht macht man einen Steam'schen Zwei-Stunden-Probekauf. Aber egal, ob es einem nun eher gefällt oder eben eher nicht: Übrig bleibt auf jeden Fall der bittere Nachgeschmack verlorenen Vertrauens. Keine der beiden Seiten spiegelte die Realität, keine war glaubwürdig. Für den "normalen" Spieler, der also weder Hater, noch Fan-Boy ist - und das dürften die meisten sein, unabhängig vom Spiel - ist das eine ärgerliche Sache. Aber mehr auch erstmal nicht.
1 + 1 = 3 => 2 + 2 = 6
Ganz anders sieht es jedoch beim Hersteller aus.
Echte, weil repräsentative Marktforschung ist teuer und schwierig. Durch das Vorhandensein der beiden Extreme, also dem Hater und dem Fan-Boy, wird sie sogar völlig sinnlos. Der Hater wird immer sagen, dass er sich auf rein gar nichts freut und alles schlecht fand. Der Fan-Boy wird immer sagen, dass er sich auf alles freut und alles toll fand. Mit anderen Worten: Es sind Aussagen ohne Aussagewert für die Firmen.
Denn die Verkaufszahlen bleiben eben nicht stetig gleich, sie variieren. Es kommt hinzu, dass eine Spiel-Entwicklung oft mehr als zwei Jahre dauert und sehr viel Geld kostet. Was also heute eventuell gut ankam, kann in zwei Jahren ganz anders aussehen. Der Entwickler kann unmöglich alle Forenbeiträge eines hypothetischen Vorgänger-Spiels lesen. Aber selbst wenn er es täte, müsste er bei jedem einzelnen Beitrag heraus finden, ob dieser eine echte Aussagekraft hätte oder einem der beiden letztlich narzisstischen und egozentrierten Extreme angehört, aus denen sich nichts für die Zukunft oder den Erfolg des Spiels ableiten lässt. Das ist zu teuer und zu riskant. Statt dessen wird er sich auf den einzigen, verlässlichen Wert stützen, der ihm zur Verfügung steht: Den Verkaufszahlen.
Entweder des Vorgänger-Spiels oder eines vergleichbaren Spiels der Konkurrenz. Er wird also versuchen für sich selbst Schlußfolgerungen aufzustellen auf Basis von dem, was er da vorfindet. Er wird versuchen heraus zu finden, was wohl gut ankam und was eher nicht. Aber es ändert nichts daran, dass er dabei selbst im Dunkeln tappt. Letzlich spekuliert er nur. Somit kann es sein, dass er zwar die richtigen Schlussfolgerungen zieht - aber auf Basis falscher Annahmen.
Hype VS Spiel
Einige Firmen, die über das nötige Kleingeld oder einen großen Publisher verfügen, verlassen sich daher auch nicht darauf. Sie setzen voll auf die Spielkarte namens "Hype": Ein gehöriger Teil der Gesamtkosten der Spielentwicklung fliesst dann in das, was wir "Public Relations" nennen.
Das ist mehr, als nur simple Werbeanzeigen hier und da. Es ist allgemeiner Kontakt zu Zielgruppen, es sind große Events, Interviews, Dev Diaries und Shows. Es sind Messen und Vorführungen, Teaser hier und selektierte Berichterstattung unter Embargo dort. Und warum das alles? Weil schnell klar wird, dass man letztlich aufgrund der oben genannten Unwägbarkeiten gar nicht sagen kann, woran es im Einzelfall nun gelegen hat, dass Spiel A gut und Spiel B nicht gut ankam. Jedenfalls nicht so exakt, wie man das gerne hätte.
Schlimmer noch: Man machte bei sich oder der Konkurrenz die Erfahrung, dass es letztlich auch egal ist, wie gut oder wie schlecht ein Spielprodukt wirklich ist. Solange es sich verkauft. Der Hype wird zum eigentlichen Ziel - nicht ein gutes Prodkukt. Hypes sind nichts anderes als Gehirnwäsche: Möglichst viele Leute daran glauben zu lassen, dass das Spiel nicht einfach gut ist, sondern dass es grossartig wird, dass es unbedingt gekauft gehört. Dass es fliegen kann, Kaffee machen kann, dass man dadurch 100 Jahre alt werden kann - dass kein Weg daran vorbei führt. Man produziert also mehr von jenen, die zu diesem Problem überhaupt führten: Fan-Boys. Und die wiederum provozieren das Vorhandensein ihrer symbiontischen Geschwister: Hater. Der Kreis schliesst sich.
Todesursache: Herzblutverlust
Solch ein Hype ist eine teure, weil in den meisten Fällen alles andere, als zufällige Angelegenheit. Er wird zum einzigen, echten Standbein des Spiels. Daher darf ihn nichts stören. Auch - und gerade - Eingeweihte nicht!
Also all jene Entwickler, die mit Herzblut an die Sache gehen. Die selbst Spieler sind, die Ideen haben, die anderer Meinung sind. Die einen Kommentar abgeben, der nicht in die Vermarktungs-Strategie passt. Sie werden mundtot gemacht. Entweder durch Androhung von Entlassung, durch Ignoranz oder einfach mittels Geld. Sie wären die letzte Station gewesen, die es ermöglicht hätte, dass statt eines passablen, aber nicht wirklich guten, dafür aber völlig überhypten Produktes ein wirklich gutes Spiel das Licht der Gamer-Welt erblickt hätte. Doch so wird es nichts: Aus der Traum.
Selbst ein Fail führt nicht unbedingt zum Umdenken dieser Strategie. Denn trotz Rückgaben und eines angeknacksten Rufs hat man mehr Spielekopien verkauft, als man das geschafft hätte durch Hören auf die Herzblut-Entwickler oder Aschenputtel-Leserei in den Kommentaren der Spieler. Denkt man zumindest - denn Beweise gibt es so oder so keine, hat es nie gegeben. Und daher heisst es:
Nach dem Hype ist vor dem Hype
Die traurige Wahrheit, die wir seit Jahrzehnten erleben.
In denen ein sich nur geringfügig vom Vorgänger unterscheidendes Call of Duty, ein Assassin's Creed nach dem Anderen, eine unerfüllbare Hype-Blase wie No Man's Sky auf die nächste folgte. Und dazwischen all die richtigen Schlussfolgerungen auf Basis falscher Annahmen.
Wie z.B. das Sim City, das keines war oder die Firaxianische Annahme, dass die meisten Rundenstrategen eine Hetzjagd mit limitierten Runden im zweiten Xcom begeistert aufnehmen würden. (Ich tat es und gehörte damit wohl zur Minderheit). Oder die seit 20 Jahren heiss ersehnte Wiedergeburt der Legende Master of Orion - die dann ohne Seele zur Welt kam. Ohne rundenbasierten Kämpfe, die der einzige Grund sind, warum der zweite Teil aus dem Jahre 1996 auch heute noch gespielt wird. Oder dem dritten Teil von Sacred, das nur den Namen gemeinsam mit seinen beiden Vorgängern hatte. Oder die Fehleinschätzung, dass Dragon Age Origins Veteranen dem actionlastigen dritten Teil etwas abgewinnen könnten, wenn man es ihnen nur häufig genug versprach. Oder einem Jagged Alliance, das in nahezu allen Belangen vor die Wand gefahren wurde. Oder, oder, oder. Die Liste ist endlos lang.
Je länger sie wird, umso grösser wird die Gefahr, dass der Hype das einzig probate Mittel für Firmen wird. Wie in der Politik, wo seit Jahr und Tag keine Parteiprogramme auf den Plakaten stehen, sondern Gesichter und nichts-sagende allgemeingültige Sätze - mit entsprechenden Folgen: Nebst einer Ermüdung führt es zur tendenziellen Verblödung. Nicht Inhalte werden gewählt, sondern Images. Nicht gute Spiele sind das Ziel, sondern Hypes. Am Ende zählt nur noch, was unter dem Strich raus kommt. Ob das dann überhaupt eine "Seele" besitzt, Charakter hat, ob es etwas Besonderes oder wenigstens halbwegs Gutes ist - das ist nebensächlich.
Es spielt so gut wie keine Rolle mehr.
Eine neue Hoffnung
Es war einmal vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis:
Jemand, der imstande und willens war sowohl Sonnen-, als auch Schattenseiten eines Spiels präzise und in beiden Fällen schonungslos zu benennen. Jemand, der unbestechlich war, der authentisch und ehrlich war, der sich nicht hat einfangen lassen von keiner Werbung, von keinem Trailer, keinem Hype, keinem Hass, keinem Narzissmus gleich welcher Form, keinem Luftschloss und Wolkenkuckusheim. Eine Person, die Glaubwürdigkeit vermittelte, die mitdachte, die auch andere Perspektiven akzeptierte. Jemand, dessen Urteil man vertrauen konnte. Nicht nur der Spieler, sondern auch der Spielhersteller. Jemand, der erkannt hat, dass es weder Hater, noch Hypes geben kann, wenn es keine Fan-Boys gibt. Dass in einem solchen Fall das Spiel wieder in den Vordergründ rückte - und nicht Public Relations.
Jemand, der also Spiele liebte - so sehr - dass er nichts lieber tat, als sie zu kritisieren.
Damit sie wirklich gut werden konnten.
Damit Werbung nur noch nötig war, um auf sie aufmerksam zu machen, aber nicht mehr um sie zu verkaufen. Denn das besorgten sie als wirklich gute Spiele schon selbst.
So jemanden braucht es. Je häufiger, umso besser.
Auch in dieser Galaxis hier - und heute mehr, denn je.
Yeager
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