Seite 2: Nachdenken, statt Mitmachen - Teil des Problems

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Massenmord statt Heimlichtuerei

Ein aufgeklärter, selbstbewusster und verantwortungsvoller Umgang mit ihrem Medium ist den meisten Entwicklern und vor allem den meisten Entwicklungsfirmen nach wie vor fremd. Sie marschieren zu diesem Treffen, weil sie Schiss haben, dass man hinter verschlossenen Türen irgendwelche Verbote beschließt, wenn sie nicht zum Appell erscheinen. Zugleich treten aber immer mehr Entwickler ins Rampenlicht und stoßen - bewusst oder unbewusst - ins gleiche Horn wie die Waffenlobby. Zuletzt beispielsweise Joe Houston, einer der Programmierer von "Dishonored".

Er erzählte auf dem US-Blog RockPaperShotgun die folgende Geschichte:

"Nach der Veröffentlichung des Spiels sah ich einem Spieler zu, wie er sich durch das Anwesen der Boyles spielte. Für diejenigen, die das Spiel nicht kennen: Das ist eine Karte, die voller feiner Nuancen und Geheimnisse steckt. Corvo, der Spielcharakter, muss darin einen Maskenball infiltrieren und die Identität der Person herausfinden, auf die er ein Attentat plant. Das erreicht man, indem man sich mit anderen Gästen unterhält, in Räume schleicht, die den Gästen verboten sind, heimlich Tagebücher liest und eine Reihe anderer, subtiler Taktiken anwendet.

Oder man läuft durch den Haupteingang rein und schießt der erstbesten Wache ins Gesicht. Das war der Ansatz, den ich bei einem Spieler während eines Probespiels beobachten konnte. Gleich als erstes. Die aus seinem Vorgehen resultierende Schlacht war ein einziges Chaos. Doch was danach geschah, ist das eigentlich Erzählenswerte: Nach seinem Frontalangriff kauerten nämlich noch etliche wimmernde, winselnde Zivilisten in den Ecken der Räume, deren Bodyguards er zuvor niedergemetzelt hatte. Das war der Moment, in dem er begann, alle Zivilisten methodisch abzustechen.

Dishonored: Die Maske des Zorns überlässt dem Spieler die Wahl heimlich oder brutal vorzugehen. Dishonored: Die Maske des Zorns überlässt dem Spieler die Wahl heimlich oder brutal vorzugehen.

Bedienstete und Adelige, Männer und Frauen. Die roten Farbspritzer und abreißenden Schreie nahmen einen Rhythmus an wie beim verstörendsten "Dance Dance Revolution"-Spiel aller Zeiten. An einer Stelle erschien der Text "Missionsziel erreicht!" auf dem Bildschirm (als er die Zielperson durch Zufall niedermachte), was ihn aber nicht einen Moment innehalten ließ. Dieser Spieler hatte nun seine eigenen Ziele, die ihm eine verrückte Stimme in seinem Kopf einflüsterte: 'Töte sie alle! Keine Überlebenden! Und dann geh' hoch in den ersten Stock und klau' die Fabergé-Eier!'"

Houston beschreibt, wie unwohl er sich dabei fühlte, diesen Spieler bei seinem Treiben zu beobachten. Immerhin lud der Level doch dazu ein, eine gewaltlose Strategie zu verfolgen. Sein Spiel habe dazu auch alle Freiheiten geboten. Dass sich der Spieler entschied, ein solches Blutbad anzurichten, sage daher wohl mehr als bei vielen anderen Titeln auch etwas über den Menschen vor dem Computer aus.

Wo sind die Grenzen?

Das wäre unter anderen Umständen eine faszinierende Betrachtungsweise. Sag' mir, wie du spielst, und ich sag' dir, wer du bist. Das sollte tatsächlich mal jemand erforschen! Aber Houstons "Beunruhigung" gibt die typische idiotische Stoßrichtung vor: Wer sich in "Dishonored" entscheidet, ohne Not alle Zivilisten zu meucheln, ist wohl nicht ganz dicht. Zumindest ein bisschen. Wenn man ihn unter Wasser hält, steigen bestimmt ein paar Luftbläschen auf. Dabei verkennt Houston so eklatant, dass die Freiheit, die sein Spiel bietet, natürlich ausgelotet werden will. "Wie weit kann ich gehen, bevor mich der Entwickler zurückpfeift?" ist eine Ur-Frage des Spielens. Wie kleine Kinder, die von ihren Eltern zur Ordnung gerufen werden müssen, versuchen und probieren wir als Spieler herum, wie uns gerade der Sinn steht.

Houston betrachtet das Spielerverhalten hier im Kontext seiner fiktiven Welt. Er sieht "Adelige und Bedienstete, Männer und Frauen". Doch tatsächlich redet er von Polygonen und leuchtenden Pixeln, denen er und sein Team nach bestem Können den Anschein von "Männern und Frauen" gegeben haben - wohlgemerkt in einem an Karrikaturen erinnernden Grafikstil. Er begibt sich in die Warte all der Nichtspieler, die glauben, aus ihrer Beobachtung und Interpretation dieses Vorgangs Schlüsse über das Erleben und die Motivation des Spielers ziehen zu können. Völliger Unsinn.

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