Ich geh dann mal die Extrameile

Was macht ein gutes Computerspiel aus? Ist es die Technik, ist es das Gameplay? Ist es die Story, der Umfang, die Balance? Es mag sein, dass ein guter Mix aus...

von methusalem0815 am: 16.08.2018

Was macht ein gutes Computerspiel aus? Ist es die Technik, ist es das Gameplay? Ist es die Story, der Umfang, die Balance? Es mag sein, dass ein guter Mix aus allem für Spielspaß sorgt. Post Scriptum: The Bloody Seventh (PS) hat mir aber endlich mal wieder gezeigt, dass das beste Qualitätsmerkmal für ein gutes Spiel ein kleiner Fleck auf dem Bildschirm ist - doch dazu später mehr.

PS sieht sich selbst als (grob übersetzt) Zweiter-Weltkriegs-Simulation, die historisch akkurat sein will, große Schlachten bietet während die Lernkurve steil ist und Kommunikation und Teamarbeit das A und O sind. Das klingt jetzt nicht unbedingt nach den brachialen Schlachten eines Battlefield oder Call of Duty - ist es aber, nur anders. Wer von PS als "Battlefield-Killer" spricht, liegt so richtig, aber auch so falsch.

Punkte-Eroberung wie damals

Doch einen Schritt zurück: In PS treffen Briten und US-Amerikaner auf niederländischen Schlachtfeldern auf Truppen der Wehrmacht - Operation Market Garden lässt grüßen. Bis zu 80 Soldaten pro Server kämpfen um noralgische Punkte, die Angreifer wechseln durch - das Rad hat Entwickler Periscope Games hier nicht neu erfunden. In klassischer Ego-Perspektive finden sich "Sections" - also Gruppen - zusammen und übernehmen verschiedene Aufgaben: Der Kommandant (Überraschung!) gibt Befehle, Infanteristen schlüpfen in verschiedene Rollen, stürmen Stellungen, bauen sie wieder auf, beobachten, kämpfen, heilen ihre Kameraden, sterben im Sperrfeuer. Eine gepanzerte Gruppe kann mit Panzern wertvolle Feuerkraft liefern, die Pioniere bauen Einstiegspunkte, errichten kleine Lager samt Depots und Mörserstellungen. Schritt für Schritt kämpft sich also das angreifende Team vor, bis der letzte Punkt eingenommen ist - oder die Zeit abgelaufen ist.

Was macht PS also so besonders? Liebhaber von Squad, Red Orchestra und Co. werden jetzt wohl ein bisschen Déjà-vu-Suppe löffeln, denn es gibt (so weit ich das einschätzen kann) einige Überschneidungen.

Opa, erzähl vom Krieg!

Aber zu Veranschaulichung zwei kleine Kriegsgeschichten: Es ist Nacht in den Niederlanden, die Waffen-SS hat sich in einem kleinen Gehöft eingenistet. Mehrere britische Angriffe wurden zurückgeschlagen, in den Sprach-Chats der teetrinkenden Insulaner wandelt sich die berühmte britische Gelassenheit langsam in Hektik, denn die Zeit drängt. Dann entscheiden die Befehlshaber, dass "Section Dog" die Stellung im Schatten der Nacht und hinter den zahlreichen und dichten Hecken flankiert und als Kommandoeinheit dem Feind in den Rücken fällt. Minutenlang laufen also die Dog Boys ihrem Gruppenführer gebückt hinterher. Der flüstert immer wieder Befehle, man befolgt sie ohne Kommentar - wer in PS auf disziplinierte Kommunikation verzichtet, hat verloren. Wer Feinde sieht, muss sie melden, wer einen Sanitäter braucht, muss das sagen. In einem Spiel ohne Schussrichtungsanzeige oder Minimap und wo ein Treffer den Tod bedeuten kann, muss man miteinander schwätzen. Oder halt wie der Dog-Chef flüstern, auch wenn der Feind ohnehin nicht hören kann, was man untereinander abspricht - es zeugt nur davon, wie atmosphärisch der Streifzug durch die Nacht ist. Die Dog-Gruppe umschleicht so also minutenlang die Stellung, kein Schuss wird abgefeuert. Der Erste, der die Waffen sprechen lässt, ist ein Tiger-Panzer, der plötzlich auftaucht. Und da der bekanntlich für die andere Seite kämpft, ist das schlecht für die Briten. Wer es schafft, zieht sich zurück. Wer Glück im Unglück hat, wird von den Sanitätern im Schutz der Rauchgranaten gerettet. Der Rest stirbt. Der Umgehungsversuch ist gescheitert, genauso wie der letzte Versuch mit zwei Minuten auf der Uhr, in einem Sturmangriff die Stellung zu erobern. Die Briten verlieren die Runde, die Stimmung in der Truppe? Blendend!

Stellungswechsel, Tageslicht und Fahnenflucht: Soldaten der Waffen-SS müssen einen Fluss überqueren, auf der anderen Seite der einzigen Brücke warten Uniformierte, die Englisch sprechen und über den deutschen Vorstoß not amused sind. Und da jeder weiß, dass auf engen Brücken ein Überangebot an Blaue-Bohnensalat herrscht (und dass der deutsche Infanterist nicht schwimmen kann), gibt man den Pionieren Feuerschutz, während diese flussabwärts eine Behelfsbrücke bauen. Rauchgranaten vernebeln die Sicht, Stukas heulen über das Schlachtfeld, MG-Feuer drückt die Soldaten in jeden noch so kleinen Graben. Mit der Nasenspitze am Bildschirm sucht man den Horizont ab, um vielleicht doch einen Feind zu erspähen. Mausklick - Schuss - Mausklick - durchladen. Spätestens jetzt hat sich eben jener eingangs erwähnte Fleck durch die Nasenspitze auf dem Bildschirm gebildet. Ein Schluck aus der virtuellen Pulle (füllt die Ausdauer wieder auf), tief Luft holen und im Schutz des Halbkettenpanzers über die Brücke gesprintet. Ein wahrhaft glorreicher Moment, bis auf einmal feindliche Mörsergranaten uneingeladen der stürmenden Abteilung vor die Füße prasseln und die Brücke unter den Wehrmachts-Stiefeln auseinanderbricht. Ach ja, deutsche Soldaten können ja nicht schwimmen...

Atmosphäre zum Mit-dem-Bayonett-Schneiden

Man merkt schon, was PS ausmacht. Noch nie habe ich so ein intensives Gefühl gehabt, Teil eines größeren Schlachtfeldes zu sein. Auf 80-Mann-Servern stehen sich nie 40 Soldaten in Feldflaschen-Wurfreichweite gegenüber, alles passiert in kleinen Abschnitten, die Karten fühlen sich riesig an. Wenn man aber mit drei Fremden (die zufällig die gleiche Uniform tragen) kurz vor der Front unter Beschuss gerät, zusammen überlegt, woher die Kugeln kommen und gemeinsam aus dieser misslichen Lage entkommt, ist das schon ziemlich unterhaltsam. Wenn dann aber über einen noch ein Flugzeug rauscht und eine Stellung im Sturzflug angreift, ferne Explosionen von Artilleriebeschuss zeugen, Nachschub-Lkw frische Truppen bringen und der Gruppenführer neue Befehle samt Koordinaten weitergibt, ist das purer Wahnsinn.

Die wenigen Karten fühlen sich mit ihren kleinen Siedlungen, den dichten Hecken und den elendig langen Laufwegen realistisch an. Nachvollziehbar steht da ein Hotel im Dorfzentrum, idyllische Felder umranden kleine Gehöfte und die eingangs erwähnten Hecken bremsen den vielleicht lebensrettenden Sprint aus und verstecken feindliche Scharfschützen.

Schön ist dabei oft was anderes, die Texturen sind teils ziemlich hässlich, Bäume sind Pixelunfälle und Häuser langweilen mit gähnender Leere, während die Performance noch nicht ausgewogen scheint und das Spiel immer wieder abstürzt  - ja, es gibt auch Kritikpunkte an PS. Auch haben die Entwickler noch nicht das gehalten, was versprochen wurde, es fehlt in meinen Augen an Karten und Spielmodi, die eigentlich versprochen waren. Das ist unnötig und es muss noch einiges passieren, bis das Vertrauen vieler Spieler wieder vollständig hergestellt ist - wenn die Entwickler aber am Ball bleiben, bin ich da guter Hoffnung. Ärgerlicherweise bekomme ich zudem die Soundabmischung einfach nicht hin, ich verstehe kein Wort im Chat mehr, wenn die Ballerei anfängt - ist durchaus auch realistisch, aber in einem Spiel einstellbar vielleicht doch die bessere Option. Auch könnten mehr Gameplay-Funktionen eingefügt werden, ich vermisse etwa das Seepferdchen bei Soldaten, das Ziehen von Verletzten, Nahkampf oder ein, zwei zusätzliche Schießeisen.

Community, ich mag dich

Vor dem Fazit aber noch ein Wörtchen zur Community oder (auf deutscher Seite) Gemeinschaft: In Zeiten von Hass-Mails und Hühnerbust-Burschen, die im Schutze der Online-Anonymität ihren Frust rauslassen, ist die PS-Gemeinschaft ein wahrer Schatz. In den meisten(!) Fällen herrscht ein vernünftiger und freundlicher Ton, wenn man miteinander spricht - unglaublich, aber wahr. Man begrüßt und verabschiedet sich wie zivilisierte Menschen, wer nach Hilfe fragt, bekommt die auch. Ein wildfremder Kenner der Materie hat sich mitten in der Partie die Zeit genommen, einem Mitspieler und mir die Mechanik der Pioniertruppe zu erklären. Ohne großen Aufriss, ohne ungeduldig zu werden. Wir haben gebaut, haben Mörserschießen gelernt und sind mit dem Lkw rumgereist - gemeinsam "Jerusalem" pfeifend. Klar gibt es auch solche, die schnell genervt von Neulingen sind, unfreundlich ihre Kommentare ranzen und sofort kicken, wenn ein fremdsprachiger Mitspieler in die Gruppe kommt - dann aber von "Ammo", "Rush" und "Covern" mit ihrem Denglisch prahlen. Naja, sind wir nicht alle ein bisschen Prinz Charles? Diese Störelemente sind aber bis dato in der Minderheit, der Rest kann und will das Miteinander. Pflicht ist hier natürlich ein Headset, denn wer vor einem feindlichen Panzer wegkriecht, hat nicht noch die Zeit, über die Tastatur seine Mitspieler zu warnen.

Doch zurück zur Ausgangsaussage, dass PS ein Battlefield-Killer ist und auch wieder nicht. Ich habe für PS Battlefield 1 von der Festplatte gefegt (und das nicht nur, weil ich den Speicherplatz brauchte). Seit langem habe ich nicht mehr so eine Atmosphäre in einem Computerspiel verspürt, die mich so beeindruckt und mich in echte körperliche Anspannung versetzt hat. Ich will jetzt auch nicht mit meiner eigenen Militärausbildung oder meinen Geschichtskenntnissen angeben - aber: Wird PS richtig gespielt, kommt das zumindest für ein Videospiel (!) dem schon ziemlich nahe, was ich damals an Taktik, Vorgehen usw. gelernt habe. Klar, Realismus ist so eine Sache und muss (und kann) in meinen Augen bei einem Weltkriegsshooter nicht zu 100 Prozent erreicht werden. Wenn man aber in Deckung springt anstatt einen Wallrun hinzulegen, Sperrfeuer die Sicht verschwimmen lässt, der getroffene Soldat verblutet anstatt sich automatisch zu heilen und man eine Straße überquert, während links und rechts Mitspieler den Raum absichern, ist das logisch schon sehr nachvollziehbar. Und eigentlich ist es überflüssig zu sagen, ich mach es angesichts des Simulationsanspruches und den ewigen Debatten trotzdem: Ich hatte nie das Gefühl, dass sich einer der Spieler politisch mit der Waffen-SS identifziert. Wir PC-Spieler sind mittlerweile so fortgeschritten, dass wir solche Rollen übernehmen können, ohne uns das Hakenkreuz auf die Bettdecke zu malen und mit dem Karabiner in einer Hecke zu liegen. Will man aber historisch angehauchten Wettkampf, Gruppenarbeit mit Sinn und Spannung bis in die Kniekehle, kann man schon behaupten: PS ist ein Battlefield-Killer.

Ich muss dazu aber sagen, dass für mich der Reiz von Battlefield und Call of Duty verloren gegangen ist. Es mag am Alter oder an meinem schiefen Schreibtisch liegen, aber diese Action-Gewitter sind mir zu schnell, zu bunt, zu unübersichtlich geworden. PS spricht aber auch eine andere, ruhigere, ausgeglichener Klientel an - und will (und kann) daher vielleicht auch nicht als Battlefield-Killer gesehen werden. Ich jedenfalls kann es mittlerweile ab, einfach mal minutenlang hinter einem Baum zu liegen und zu warten. Es ist ok, gefühlt Stunden durch die Nacht zu schleichen und in einem Ego-Shooter nicht zu schießen. Es macht Spaß, fernab der Front eine Werkstatt aufzubauen und nur über den Funk mitzubekommen, dass der nächste Punkt eingenommen wurde. Denn all das macht Sinn in PS. Wenn jeder seine Rolle spielt und seine Aufgaben erfüllt, funktioniert PS. Man lacht, man flucht, man wartet, man plant, man singt, man trinkt, man baut, man kämpft, man verbindet, man schießt. Und man geht gerne die Extrameile.

P.S. (ha!): Wenn mir jetzt noch jemand erklärt, wie ich hier Bilder einfüge (habs mit directupload und Co. probiert, kam aber nur ein Kaputt-Symbol), hör ich auf zu schreiben. Versprochen!


Wertung
Pro und Kontra
  • Unglaublich dichte Atmosphäre
  • Tolle Community
  • Realismus zum Anklicken
  • Durchdachtes Spieldesign
  • Feldflaschen
  • Teils hässliche Grafik
  • Performance mit Allüren
  • Bugs
  • Teils nicht eingehaltene Versprechungen

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher schwer

Bugs:

Häufiger, unregelmäßig



Kommentare(1)
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