Russisches Fallout „Van Buren“. Punkt.

Die Apokalypse - diesmal aus Sicht der anderen. Ein kerniger Spaß, voller Härte, Immersion und Wodka. Jahre zu spät, trotzdem gut. Nur gut?

von Yeager am: 16.01.2019

 

Was wäre passiert, wenn Black Isle & Interplay nicht in der Versenkung verschwunden, sondern nach Russland gegangen wären und die Fortsetzung von Fallout 2 mit dem Codenamen „Van Buren“ doch noch realisiert hätten?

Dieses Spiel wäre passiert, weil es genau das ist. Nicht weniger, aber leider auch kaum mehr. Einerseits ist es erfrischend wieder „echte“ Fallout-Atmosphäre zu atmen, in einer knallharten 3D-Umgebung (!), diesmal aus russischer Sicht - die keine Hilfe bietet und keine Fehler verzeiht - andererseits traut sich ATOM RPG aber auch nicht mehr sein zu wollen. Trotzdem ist es ein apokalyptischer Spass.



Ende Gelände ab 1986


Reagan flackert in dem kurzen Intro über den Screen und kurz darauf die Atombombenexplosion. Die Geschichte nahm also einen anderen Lauf. Wir starten in den frühen Nuller-Jahren des 21. Jahrhunderts in einer postapokalyptischen Welt. Moskau existiert nicht mehr, dafür gibt es „ATOM“, eine ominöse Vereinigung, der ein Spezialist angehörte, der verschütt ging. Wir gehören ihr auch an und werden als Ein-Mann (oder Frau) Suchtrupp losgeschickt, um einen Bunker zu finden, wo er sein sollte.

Das lässt uns zwar alles mit einem großen „?“ über dem Kopf zurück, ein bisschen mehr Hintergrund wäre schon schön gewesen, aber wir wollen nicht kleinlich sein. Kaum haben wir ein Lagerfeuerchen gemacht, werden wir auch schon von Banditen überfallen und verlieren das bisschen Habe, was wir hatten. Geblieben ist uns eine Flasche Wasser. Keine Rüstung, keine Waffe, nicht mal 'nen Stein. Fängt ja schon gut an!

 

Noch keine Minute gezockt und schon K.O. :D


Aller Anfang ist mehrmals schwer


Das meine ich gar nicht ironisch, denn von Anfang an macht es uns das Spiel sauschwer, allein schon beim Zusammenbasteln des Helden. Jeder einzelne Punkt in den Hauptwerten will wohl überlegt sein. Nehmen wir vielleicht doch noch den Kannibalen-Trait mit? Dann können wir länger überleben, was nicht selbstverständlich ist, denn neben Hunger können uns auch Vergiftung und Strahlung töten. Gegen Gift hilft Wasser, gegen Radioaktivität Wodka - sagt zumindest unser spielerisches Väterchen Russland, weswegen wir große Teile des Games im permanenten Vollsuff verbringen. Und was ist mit Knabberzeug?

Wenn sowieso alles zum Teufel ging, warum dann nicht Schnitzel ala Sapiens? Immer noch besser als verstrahltes Dosenfutter, wofür wir noch mehr Fusel brauchen, noch schneller zum Alkoholiker werden und noch eher Probleme bekommen. Fans werden wir damit jedenfalls keine aufgabeln, denn als postapokalyptischer Hannibal Lecter fällt unsere Persönlichkeit in den Keller – die sich aber auf viele der einzelnen Fähigkeiten auswirkt. Nicht nur eine Frage der Ethik also - und schon beginnt das Grübeln und hört nicht so bald wieder auf. So muss das sein in einem RPG!

 

Was soll das heißen? Ich bin nicht zu blöd, nur ... wissbegierig!

 

Ich habe fünf mal neu angefangen und das zeigte mir, dass ich das Spiel mögen werde. Weil man nachdenken muss, über jeden Wert, jede Entscheidung, jeden Weg. Zudem ist mehr nicht immer auch besser, denn das Spiel verschweigt Vieles, zum Beispiel dies:

Achtung, (kleiner) Spoiler:

Man findet nach ein paar Stunden einen Händler, der ziemlich gute und seltene Amulette verkauft, welche die wichtigen Basiswerte erhöhen. Diese kann man aber nur tragen, wenn der Intellekt nicht höher als 4 ist! Man muss also blöd genug sein, um an sie zu glauben, damit sie wirken. Das erinnert mich an die Orcs aus Warhammer 40k mit ihren roten Raumschiffen, die schneller sind, weil die Orcs daran glauben, dass rote Raumschiffe schneller sind.

Spoiler-Ende

Was darfs also sein? Ein hoffnungslos verblödeter Hulk, der die HP eines Panzers hat, Menschenfleisch mag, im Nahkampf tödlich ist - aber selbst auf einen Meter Entfernung mit keiner Knarre ein Scheunentor trifft und den selbst Psychopathen unsympathisch finden?

Oder ein Sniper mit der Sehschärfe von Adleraugen und der Beweglichkeit einer Schlange, der zudem jedes Schloss knackt, jeden beklaut und jeden Händler übers Ohr haut - den aber schon böses Angucken tötet?

Oder eine hoch intelligente und ebenso empathische Führungspersönlichkeit - die aber zunehmend schlechtere eigene Werte bekommt, je mehr Gefolge sie hat – welche durch sie wiederum immer besser werden?

Eine einzige Qual der Wahl, man kann locker eine Stunde mit der Generierung und Optimierung des Charakters verbringen. Gut so!

 

Wer braucht schon Waffen oder einen hohen IQ? Ich habe nen Hund und meine Faust, das muss reichen!


Fallout 2 in 3D und mit Baum


Wie angenehm es ist Fallout 2 in 3D Iso-Perspektive zu spielen, dreh- und zoombar! Was sich heute wie eine Farce anhört, wäre seinerzeit eine Revolution gewesen. Jüngere Spieler werden hier vielleicht sagen: „So what?“, aber ein alter Knacker wie ich weiß es zu schätzen, dass ATOM nicht alles von früher übernahm.

Es ist nicht nur Luxus, sondern oft bitter nötig, denn rein gezoomt geht der Überblick flöten, aber raus gezoomt erkennt man kleinteilige Loots nicht mehr. Zum Glück kann man sie per Key hervorheben.

Die Texturen könnten zwar zuweilen einen Tacken mehr Schärfe vertragen, hässlich sieht trotzdem anders aus. Die Musik ist geruhsam-chillig und mit einem leicht bedrohlich klingenden Unterton, also passend zur Atmosphäre.

Ist doch eigentlich ganz nett hier. Und die Mieten sind auch günstig, nachdem die Atombomben fielen!

 

Neben der 3D-Optik ist noch etwas neu, wir haben nun einen „Skill“-Tree, der zwar praktisch nur passive Perks hat, die sich allerdings merkbar auswirken. Dessen Kosten steigen exponentiell, also müssen wir uns früh festlegen wann wir welchen Weg einschlagen wollen. Gelegenheitsspieler wird das wahrscheinlich überfordern, für alle anderen heißt es wieder: Grübeln, planen und nochmals überdenken.

 

Je weiter, umso cooler, aber umso teurer und umso länger.


Mehr Science als Fiction


Anders als beim Vorbild gibt es hier nur wenig Super-Duper-Tech. Es ist eine nüchterne Endzeit, mit dem Zeug, was man seit dem zweiten Weltkrieg bis in die 80er Jahre hatte, also auch keine Laser-Guns. Schnick-Schnack gibt es dennoch, das Crafting spielt eine große Rolle. Dafür ist die Anzahl der Rezepte allerdings auch nüchtern, bislang nur etwa zwei Dutzend, soweit ich das beurteilen kann.

Es läuft auch nicht alle fünf Meter ein Supermutant durch die Gegend. Trotzdem gibt es Kuriositäten und Monster, nur eben sehr viel seltener - was aber nicht schlecht ist, da es eine glaubwürdige Welt zeichnet.

 

Alles ehrlich im Supermarkt eingekauft. Na gut, das ist eine Lüge.


Krieg ist immer gleich


Auch bei den rundenbasierten Kämpfen (standardmäßig läuft man in Echtzeit rum, sobald ein Kampf beginnt, switcht das Spiel zu Runden) zeigt sich die enge Verwandtschaft zu den frühen Fallouts: Man zählt die Aktionspunkte ab, lässt den Gegner kommen und sich verausgaben, schlägt zu oder feuert, entweder einfach so oder gezielt auf eine Körperpartie – und nutzt die übrig gebliebenen AP entweder zum Extra-Ausweichen (wofür man einen Skill braucht) oder zum weg rennen.

Das so lange wiederholen, bis der Gegner tot ist oder man selbst. Sichtlinien sind genauso gut oder schlecht wie bei Fallout 1, Skills gibt es genauso wenige, nämlich null, Haltungswechsel ebenfalls keine. Also: Nachladen, gehen, feuern, weglaufen. Das war's.

Ja, Fallout war genauso. Ja, die modernen Fallouts ab Teil 3 sind auch nicht sehr viel anders. Ja, ATOM kann man dafür eigentlich nicht kritisieren, denn es orientiert sich daran und macht es genauso nach.

Aber auch nur! Man merkt hier, dass die Entwickler zu mehr imstande wären, mehr taktischer Tiefe, mehr Möglichkeiten, z.B. durch aktive Skills. Spaß macht es dennoch, so ist es nicht.

Allerdings sollte man mit Spielständen nicht geizen. Hatte ich schon erwähnt, dass man Begleiter nicht direkt steuern kann und sie den IQ eines Brötchens haben? Hatte ich auch schon erwähnt, dass es Friendly Fire gibt? Nun zähle man eins und eins zusammen...!

 

Braver Wolf, ich habe ein Leckerchen für dich. Ist 9 mm breit!


Wo ein Wodka ist, da ist auch ein Weg


Dafür ist die ATOM-Welt über alle Zweifel erhaben. Die Charaktere sind einzigartig und überzeugend. Kein einziges NPC-Bild wiederholte sich, sie alle haben ihre eigenen, glaubwürdigen, mal kuriosen, mal deprimierend ernsten, mal witzigen Geschichten, inklusive jede Menge Anspielungen auf unser Hier und Jetzt (Stichwort: „Besorg mir mal Tolkien! Das ist gute Science Fiction! Oder so.“) und es lohnt sich mit möglichst jedem zu reden.

Alles wird aus Sicht von Russen und der UdSSR gezeigt, zudem auf vielfältige, interessante Weise. So begegnen wir Stereotypen, wie dem omipräsenten Wodka-Liebhaber, selbst wenn es ein Chirurg ist – aber auch selbstkritischen Auseinandersetzungen mit Russlands Homophobie.

Schwer möglich etwas darüber zu schreiben, ohne zu spoilern, aber klar ist, dass man so manchen Seitenhieb nur verstehen kann, wenn man genügend Geschichts- und Kulturwissen besitzt. Andererseits ist das aber nicht zwingend nötig, die Welt bleibt auch so glaubhaft. Sie passt zu den NPC-Bildern, die bewusst Fotografien sind oder zumindest wie solche wirken: Die Immersion fluppt - wenn man des Englischen mächtig ist.

Womit wir aber auch schon beim größten Kritikpunkt wären: Bislang ist das Spiel unvertont und nur auf Englisch / Russisch. Allerdings las ich in der Steam-Community, dass Spieler bereits selbst an einer Übersetzung ins Deutsche werkeln. Ob und wann diese Einzug ins Spiel findet, kann ich nicht sagen. Im Thread stand etwas von "zu 30% fertig". Da muss man einfach am Ball bleiben.

 

Alter, du kannst es so oft sagen, wie du willst, aber Herr der Ringe ist KEINE Science Fiction!


Rudimentäres ist zu wenig


Leider bleibt es nicht bei diesem Kritikpunkt, denn einige Features sind nur rudimentär implementiert, das ist zu wenig. So gibt es zwar Stealth, aber keine aktive Einsatzmöglichkeit dafür und auch keine Anzeige für den aktuellen Wert in Relation zur beklauten Person / Objekt - und den Sichtwinkeln, so diese überhaupt eine Rolle spielen. Scheinbar nicht, denn manchmal meckerten Leute auch, wenn ich etwas klaute, das in ihrem Rücken war!

Es gibt auch keine Faustformel, wie "Wenn Person in Raum, dann gehts nicht", sondern es scheint von der Entfernung zu den Objekten / Personen abzuhängen. Nur Wände sind ein guter Schutz und Mülltonnen kann man immer plündern. Zudem zählen offenbar nicht nur eigene Werte, sondern auch die etwaiger Begleiter. Wollen wir also was klauen, endet es in unbefriedigendem Trial & Error, bzw. in Save-Load-Orgien. Das ginge deutlich besser.

Überhaupt fehlt es vorne und hinten an Komfortfunktionen, keine Auto-Reise, nur eine Strichliste beim Journal, farblich nicht unterschiedene Orte auf der Map, sodass wir oft nicht wissen, wohin genau wir nun sollen, Flaschen müssen einzeln nachgefüllt werden, was bei 50 Stück nervt und weitere Kleinigkeiten, die nicht sein gemusst hätten. Dafür gibt's von mir 5 Punkte Abwertung.

 

Klauen geht so: F5, klauen, F9

 

 

Happy End-Zeitwelt


Immerhin arbeitet der Indie-Entwickler "AtomTeam" rege an Updates, die Community an der Übersetzung, es ist erfreulich bugfrei und keiner der Kritikpunkte ist weltbewegend, sodass der Spaß überwiegt.

Nein, es wird nicht jedem gefallen. Es reicht auch nicht für ein herausragendes Spiel (ausser, man weigert sich die rosarote Nostalgiebrille ab zu nehmen), aber für ein gutes allemal. Für Fallout Veteranen der ersten Stunde wird es wohl ohnehin Liebe auf den ersten Klick sein, jedenfalls eher als bei Fallout 76. Und bei 15 Euro und einem guten Wiederspielwert gibt es ein klares Happy End. Selbst ohne Pip-Boy, dafür aber mit jeder Menge Wodka. In diesem Sinne:

 


[sa sdarówje / Zum Wohl]

 

Fazit


ATOM RPG ist einfach ein russisches Fallout 2 in 3D. Nicht mehr, nicht weniger. Es erbt fast alle positiven, aber leider auch fast alle negativen Seiten seines großen Vorbildes. Es ist ein hartes Spiel, das keine Tipps gibt und keine Fehler verzeiht. Es ist ein grundsolides RPG, zu einem sehr niedrigen Preis in einer glaubhaften Endzeitwelt, zudem einer großen: Ich bin seit über 30 Stunden dabei und noch lange kein Ende in Sicht. ATOM ist das alles - aber es ist leider auch nicht mehr, als das.

Fallout-Veteranen können hier bedenkenlos zugreifen, der Rest wird sich rein fuchsen müssen. Ohne Englisch- oder Russisch-Kenntnisse, bzw. Geduld beim Warten auf die Übersetzung wird das aber nichts. Dennoch lohnt es sich, denn ATOM RPG macht trotz seines Purismus einfach Spaß. Mehr sogar, als das neueste „echte“ Fallout.

 

 

 

Yeager

 


Wertung
Pro und Kontra
  • Fallout Van Buren at its best
  • 3D
  • Skillbaum
  • Immersion
  • Glaubhafte Welt
  • EP für jeden Kram, was motiviert
  • Guter Wiederspielwert
  • Niedriger Preis
  • Wenig eigene, neue Mechanik
  • Nicht steuerbare Gefolgsleute mit Kindergarten-KI
  • Einige Features nur rudimentär implementiert (Stealth)
  • Kämpfe sind wenig taktisch
  • Hoher Glücksfaktor, der gerade Einsteiger frustrieren kann
  • Speicherorgien
  • Bislang nur Englisch / Russisch
  • 5 Punkte Abwertung (82)

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

eher schwer

Bugs:

Nein

Spielzeit:

Mehr als 20, weniger als 40 Stunden



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