Die Idee einer alternativen Wirklichkeit, die wir uns nicht nur ausmalen, sondern sehen, betreten und erfahren können, ist deutlich älter als der Computer, mit dem wir sie heute so untrennbar verbinden. Tatsächlich sind unsere Rechner nur Mittel zum Zweck - die Maschinen, die die Traumlandschaft erschaffen und unser Selbst dorthin projizieren. Dazu genügt freilich kein herkömmlicher Spiele-PC. Bis zur totalen Immersion ist es noch ein weiter Weg. Einen großen Schritt in die richtige Richtung macht die Oculus Rift - allerdings keineswegs den ersten.
Wie so viele bahnbrechende Konzepte verdanken wir auch die Virtuelle Realität (VR) visionären Schriftstellern. Wikipedia nennt als eine der frühesten Ausarbeitungen eine Kurzgeschichte des amerikanischen Science-Fiction-Autors Stanley Weinbaum, in der eine wundersame Brille dem Träger eine alternative Welt vorgaukelt, in der er nach Belieben agieren kann. Damit nimmt der Verfasser bereits in den Dreißigerjahren den aktuellen Stand der Technik vorweg. Berühmtere Erzähler wie Stanislaw Lem (»Solaris«), William Gibson (»Neuromancer«) und Ted Williams (»Otherland«) verfeinern und erweitern die Idee in den Sechzigern bis Neunzigern.
Auch in Film und Fernsehen fasst das Leitbild der alternativen Wirklichkeit Fuß. So erkundet der legendäre Zeitreisende aus der BBC-Serie »Doctor Who« 1976 mit einem Alter Ego ein Computernetzwerk, das kurioserweise als »Matrix« vorgestellt wird. 23 Jahre später soll der Titel durch den gleichnamigen Kino-Kracher der Wachowskis neben dem Holodeck aus »Star Trek« zum Inbegriff der Virtuellen Realität werden. Eine Empfehlung wert ist an dieser Stelle außerdem den Fassbinder-Film »Welt am Draht« ausgesprochen, der eine Simulation in einer Simulation erschafft. »Inception« lässt grüßen.
Der steinige Weg zum Holodeck
Die technische Entwicklung kann mit der Fantasie der Autoren zwar nicht mithalten, schreitet aber dennoch in atemberaubendem Tempo voran. Die ersten VR-Anwendungen sind wie so oft militärischer Natur. Beispielsweise lernen angehende U-Boot-Kapitäne bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in mechanischen Simulatoren Ziele zu identifizieren und zu bekämpfen. Später absolvieren Panzerfahrer und Piloten ähnliche Ausbildungen; heute sind ausgefeilte Computerspiele fester Bestandteil von Trainingsprogrammen der US Army. Im Unterhaltungsmetier zählt zunächst die Filmwirtschaft zu den größten Innovatoren.
So konstruiert der Regisseur und Kameramann Morton Heilig 1962 einen »Sensorama« getauften Apparat, der einem Zuschauer stereoskopische Filme vorführt und ihn mit Wind-, Geruchs- und Klangeffekten sowie kleinen Bewegungen mitten ins Geschehen versetzt. Das Sensorama soll leider ein Einzelstück bleiben. Mehr Erfolg hat zum Beispiel der »Star Tours«-Vergnügungsritt in Disneyland, der Besucher zu einem schaukelnden Raumschiffflug durchs »Star Wars«-Universum einlädt. So beeindruckend echt solche Filmerlebnisse auch wirken mögen, können sie dennoch eine Bedingung einer ausgewachsenen VR-Umgebung nicht erfüllen: Sie sind nicht interaktiv. Die Zuschauer folgen einer festgelegten Route.
An dieser Stelle kommt der Computer ins Spiel. Er ermöglicht interaktive Szenarien, kann auf Eingaben des Anwenders reagieren und die digitale Traumwelt entsprechend anpassen. Kein Wunder, dass sich vor allem die Unterhaltungssoftwarebranche für die Virtuelle Realität begeistert. Der große Hype beginnt in den Neunzigern, mitten in der Multimedia-Hysterie. Allgegenwärtig ist das Bild des »Cyber Gamers«: VR-Helm auf dem Kopf, den rechten Arm im Datenhandschuh, am besten noch auf einem omnidirektionalen Laufband oder hängend im Drehgerüst wie beim grottigen »Rasenmähermann«. Allein, die Technik kann die großen Versprechen noch nicht einlösen. Die krude Grafik lässt einfach kein Mittendrin-Gefühl aufkommen, die pixeligen Bildschirme der 3D-Brillen verursachen Kopfschmerzen, die groben Eingabegeräte erschweren Interaktionen.
Hype, Niedergang und Wiedergeburt
Die ersten VR-Projekte der Spielehersteller sind ausnahmslos Fehlschläge: Nintendos Datenhandschuh »Power Glove« wird genauso ein Reinfall wie die hauseigene Stereobrille »Virtual Boy«. Segas Gegenprojekt »Sega VR« bleibt ein Prototyp. Nur in Spielhallen können sich VR-Automaten als Attraktionen kurzzeitig etablieren, allerdings eher als Kuriosum denn als überzeugende Innovation. Beispielsweise dürfen sich Roboter-Fans im »Battletech Center« in Chicago den Traum erfüllen, einen eigenen Battlemech zu steuern.
Im PC-Lager sieht die Lage kaum besser aus. Vom halben Dutzend 3D-Helme, das in den Neunzigern auf den Markt kommt, ist der »Forte VFX1« der mit Abstand beste. Er besitzt zwei verstellbare LC-Bildschirme, die eine dreidimensionale Perspektive ermöglichen, Stereo-Sound und ein magnetisches Headtracking. Das heißt, er setzt Kopfbewegungen des Trägers in Spielbefehle um. So kann man sich etwa bei Doom oder Quake im Level umsehen. Obwohl Tester sich von der Qualität beeindruckt zeigen, überwiegen die Probleme: Die Installation gelingt nur Computer-Experten, Auflösung und Gesichtsfeld der Stereobrille können nicht überzeugen und die Bewegungserfassung arbeitet stark verzögert.
Obendrein kostet der VFX1 bei Erscheinen fast 2.000 D-Mark (rund 1.000 Euro), was ihm den breiten Durchbruch verwehrt. Trotzdem schafft es der Hersteller, namhafte Studios für sich zu gewinnen. Neben den beiden genannten Ego-Shootern erscheinen angepasste Versionen von Descent, Magic Carpet, Flight Unlimited und anderen damaligen Hits. Der Hersteller wird 1997 von der US-Firma Vuzix aufgekauft, die noch heute stereoskopische Systeme entwickelt. Ansonsten ist die einzige Technologie, die der damalige VR-Boom zu Erfolg verhilft, das Headtracking. Der TrackIR findet zumindest bei Hobby-Piloten einige Verbreitung.
Angesichts der damaligen Reinfälle verwundert es nicht, dass den Erfindern der Oculus Rift zunächst einiges Misstrauen entgegenschlägt, als sie 2012 ihre Pläne für ein neues VR-System vorstellen. Doch die Entwickler leisten Überzeugungsarbeit. Als einer der ersten Unterstützer entpuppt sich Programmiererlegende John Carmack, der einen Prototypen auf der E3 demonstriert. Die überwältigende Medienresonanz und vor allem die erfolgreiche Kickstarter-Kampagne (fast 2,5 Millionen Einnahmen bei einem Ziel von 250.000 Dollar) beweisen, dass das Thema Virtuelle Realität trotz aller Fehlschläge noch immer ein Publikumsmagnet ist. Und das Ergebnis belohnt: Die inzwischen ausgelieferten Entwickler-Sets vereinnahmen Spieler im doppelten Sinne völlig. Einer der wenigen Schwachpunkte - die im Vergleich zu aktuellen PC-Titeln sichtlich niedrigere Auflösung - soll bei der für 2014 geplanten Verkaufsvariante noch deutlich verbessert werden.
Das Geheimnis der Oculus Rift? Zum einen sicherlich der Enthusiasmus von Palmer Luckey, dem Kopf hinter der 3D-Brille. Der Bastler und Autor nennt die weltweit größte Sammlung von Datenhelmen sein Eigen und weiß demnach, worauf es ankommt. Zum anderen ist die Technik in allen relevanten Bereichen seit Fehlversuchen wie dem VFX1 deutlich fortgeschritten, angefangen bei der Display-Qualität über die Genauigkeit der Bewegungssensoren bis hin zu Details wie den Treibern oder der Computer-Anbindung: USB und HDMI sind ungleich flexiblere Schnittstellen als seinerzeit VGA-Kabel und Gameport. So könnte es der Oculus Rift endlich gelingen, die Virtuelle Realität fit fürs Spielzimmer zu machen. Die beeindruckende Liste angekündigter Spieleumsetzungen ist ein weiterer Hinweis auf den kommenden Erfolg. Und wer weiß, vielleicht ist es gar nicht mehr so weit bis zum Holodeck - oder der Matrix - wie mancher denkt. Denn auch in der physischen Umsetzung virtueller Räume werden erstaunliche Fortschritte erzielt, wie dieses abschließende Video der TU Wien demonstriert.
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