George Orwell schrieb seinen dystopischen Jahrhundertroman »1984« als Warnung (oder als vorgreifendes Horrorstück) für die Bevölkerung, sich gegen das Anbahnen von totalitären und alles überwachenden Staatssysteme zu wehren. Er sollte ganz sicher keine Blaupause für den Staat darstellen, seine Bevölkerung umfassend zu bespitzeln.
Die Osmotic Studios aus Hamburg haben das ein bisschen anders gesehen und statteten Parge, die Haupstadt der Spielwelt The Nation, mit einem durchdringend umfassenden Überwachungssystem aus. Im Spiel Orwell wird dies als »Sicherheits-Verfügung« vorgestellt und von der Regierung legitimiert.
Trotzdem explodiert zum Auftakt der Geschichte eine Bombe auf der Freedom Plaza und als Reaktion darauf wird nun das Programm Orwell aktiviert, das noch tiefergehendes Eindringen in die Privatsphäre ermöglicht. Ich bin Profiler bei Orwell.
Akten wälzen
Als Profiler bin ich damit betraut, Informationen über potenzielle Terroristen oder andere Gefahrenquellen auszukundschaften und diese an meinen Kollegen mit dem Codenamen Symes zu überstellen. Der Clou: Symes kann nur das verarbeiten, was ich ihm gebe.
Meine Auswahl beeinflusst folglich das Bild einer Person. Ich sollte daher akribisch und überlegt vorgehen, denn weder möchte ich Aussagen überbewerten, noch Überflüssiges zur Bearbeitung geben, aber auch keinen Hinweis übersehen. Das Zusammentragen von Informationen ist extrem simpel. Orwell teilt den Bildschirm in zwei Hälften: Auf der einen Hälfte sehe ich die Person, über die ich Daten sammle, auf der anderen Seite durchforste ich Zeitungsartikel, Webseiten, Pinnwände und andere Dokumente.
Mein Monitor bildet dabei einerseits zwar nur das Spiel ab, aber zeigt mir auch nicht mehr oder weniger, als meine Figur im Spiel sehen würde. Faszinierend.
Das Rechercheprogramm ist unterteilt in »Reader (Leser)«, »Listener (Zuhörer)« und »Insider (Eingeweihter)«. Während der Reader wie ein Browser funktioniert, kann ich im Listener etwa Telefonate verfolgen und im Insider sogar auf den Desktop der Zielpersonen zugreifen. Meine Überwachung wächst nach und nach zu einem Sammelsurium von Artikeln, Nachrichtenverläufen, Telefonaten und abgefangenen Mails.
Das Programm zeigt mir eventuell wichtige Textpassagen, die ich dann - sofern ich will - ins Profil der überwachten Person packe. Mein Kontakt Symes, der lediglich diese Häppchen ohne jeglichen Kontext von mir bekommt, kommentiert meine Recherchen.
Seine Anmerkungen und Schlüsse wirken dabei hin und wieder deplatziert - ein cleverer Designtrick. Schließlich befehligt Symes auf Basis meiner für ihn gefilterten Daten die Einsatzkräfte und aus dem Zusammenhang gerissen kann vieles bedrohlicher wirken, als es eigentlich ist.
Profile erstellen
Das Vervollständigen von Profilen ist, wie bereits erwähnt, sehr einfach. Ich komme flott in einen Fluss des Sammelns, Grabens und Zusammentragens und wäge dann doch nicht mehr jede Information auf der Goldwaage ab. So gelangen auch Daten an Symes, die ich ihm lieber nicht hätte zukommen lassen, jedenfalls nach einigem Nachdenken nicht mehr.
Mir wird erst mit der Zeit immer mehr bewusst, dass ich sehr stark dafür verantwortlich bin, wie eine Person am Ende eingeschätzt wird. Besonders knifflig sind deshalb die Momente, in denen ich zwei oder mehr gegensätzliche Aussagen finde. Sobald ich eine der Optionen weiterleite, werden alle anderen Datensätze ungültig.
Gebe ich weiter, dass eine alleinerziehende Mutter krankgeschrieben war und daheim im Bett lag, als eine weitere Bombe an ihrem Arbeitsplatz hochgegangen ist? Oder gebe ich weiter, dass ich auf einem Jobportal just für die Zeit des Anschlags eine Bewertung über ihre Arbeit gefunden habe?
In beiden Fällen plagen mich Zweifel, denn dass sie Ruhe vom Arzt per Krankschreibung verordnet bekam, steht fest, ihre medizinische Akte beweist es. Aber warum dann die Bewertungen für denselben Zeitraum? Es ist vor allem aufreibend, dass diese Widersprüche nur bei mir stattfinden.
Ich muss mich mit den Kontexten und Beweisen auseinandersetzen. Symes quittiert die erhaltene Information entweder mit stoischer Resignation darüber, dass wir eventuell an der falschen Person kleben oder mit heller Begeisterung über meinen Fund auf dem Jobportal.
Als ich mit wild pochendem Herzen ein Telefonat mitlese, aus dessen Verlauf ich in Echtzeit Daten extrahiere, damit Symes wiederum das Einsatzteam informieren kann, befinde ich mich auf eine obskur-fantastische Art in den Untiefen dieses Spiels, ich bin emotional höchst involviert.
Vor-Verurteilen
Hier liegt die größte Stärke von Orwell. Ich habe überhaupt keine Distanz zu den Ereignissen, keinen Avatar, der mich in der digitalen Welt vertritt. Angemeldet als »Max« bin tatsächlich ich es, der stöbert, klaubt, verrät. Orwell präsentiert sich als hochgradig interaktiver Roman voller Randnotizen, weitreichender Ausführungen, sinniger Zusammenhänge, konsistenter Erzählung sowie einem außerordentlichen Gespür für Timing und einnehmender Dramatik.
Natürlich setzt diese Faszination einen Spieler voraus, der sich in einer Textwelt wohl fühlt, quasi ein Vielleser mit Begeisterungspotenzial für Sachbearbeiteraufgaben. Wer Papers Please mindestens interessant findet, dem könnte auch Orwell zusagen. Das schlechte Gewissen, das Gefühl des Hintergehens eigener Prinzipien, das Hin und Her zwischen dem Gedanken, dass ja alles nur ein Spiel sei und der dann aber tatsächlich einsetzenden Aufregung bei den Dialogen am Telefon oder beobachteten Chats, können dann nachhaltig beeindrucken.
Meine Enthüllungen, auch die Ohnmacht nach einer unüberlegten Fehlentscheidung, treiben empathische Gemüter um. Als Wächter im Knotenpunkt der Datenkrake quälen mich die Folgen meiner Handlungen. Doch ich ertrage sie zum Wohle der Allgemeinheit, oder?
Schlussendlich bin ich kein Richter. Allerdings sind die von mir angelegten Akten so stark suggestiv, dass es schwerfällt, sich nur darauf zu berufen, ausschließlich gesammelt zu haben, was sowieso schon da war. In diesem Punkt führt Orwell mir eindrucksvoll vor, welche weitreichend tragischen Folgen eine Information mehr oder weniger ausmachen kann.
Als die letzten Meldungen über meinen Bildschirm huschen und ich wohl eines der schrecklichsten möglichen Enden beschworen habe, die Orwell bietet, bin ich tatsächlich mitgenommen wie nach einem aufwühlenden Roman.
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