Gelunger Nostalgietripp mit Schwächen

Pillars of Eternity (kurz PoE), Obsidians Kickstarter Old School RPG, wird sowohl in Foren als auch von Testern weltweit gefeiert. Zurecht? Ja, wenngleich die...

von TGfkaTRichter am: 05.04.2015

Pillars of Eternity (kurz PoE), Obsidians Kickstarter Old School RPG, wird sowohl in Foren als auch von Testern weltweit gefeiert. Zurecht? Ja, wenngleich die Lobpreisungen für meinen Geschmack ein wenig zu laut ausfallen.

 

Der Spielablauf: Baldurs Gate 2.1 oder eher 0.5?

 

Um auf die obige Frage gleich zu antworten: beides. PoE muss einfach mit Baldurs Gate 1 und 2 vergleichen werden, denn das Spiel macht keinen Hehl daraus, dass es sich an den beiden legendären RPG-Schwergewichten orientiert, genauso wie es die Backer auf Kickstarter haben wollten. PoE beweist dabei, dass die scheinbar völlig veraltete Mechanik von Baldurs Gate (2D Grafik, taktische Kämpfe bar jedes Actionanteils und lesen, lesen, lesen) auch heute noch funktioniert und viel Spaß machen kann. Leider erreicht PoE aber bei aller Treue nicht die Qualität seiner Vorbilder und lässt viel Potential liegen.

 

Reise, Reise

 

Im Kern verbringt man bei PoE seine Zeit damit, seine Party, die bis zu sechs Mitglieder haben kann, über eine isometrische Karte per Maus zu steuern und zu sehen, was es dort eben zu sehen gibt. Die Spielwelt von PoE gliedert sich dabei in viele, oft nicht sonderlich große Abschnitte, die über eine Weltkarte bereist werden können. Dabei handelt es sich vor allem um Stadthubs sowie Teile der der „freien“ Natur, die sich stark an mitteleuropäischen Waldabschnitten plus ein wenig Küste orientiert. Jede dieser Karten ist atmosphärisch gestaltet und bietet mal mehr mal weniger zu entdecken. In den Wäldern verbergen sich oft Höhlen (Betreten immer auf eigene Gefahr), während in den Städten überall ein NPC herumstehen könnte, der vielleicht eine Quest parat hat. Leider wirken die Stadtabschnitte ein wenig leblos und die Hauptstory hinterlässt auf ihnen zu wenige Spuren, aber dazu später mehr. PoE ist dabei kein Open World Spiel ala Skyrim. Die einzelnen Abschnitte werden erst Stück für Stück freigespielt, so dass man erst im letzten Akt Zugang zu wirklich allen Gegenden der Karte hat. Ein Zurückreisen ist übrigens bis kurz vorm Endgame jederzeit möglich. Es gibt allerdings keine typische Schnellreise, man muss die aktuelle Karte immer über ihre Grenze verlassen, um zu einer anderen reisen zu können.

 

Viel zu sagen und noch viel mehr zu lesen

 

Die Welt von PoE ist voller Texte, von denen nur ein Bruchteil in Dialogen mit Sprachausgabe (übrigens kein Wort, das man heutzutage noch häufig liest) vorgetragen wird. Die meisten Dialoge sind unvertont, was sicher auch eine Kostenfrage gewesen sein dürfte, denn das Spiel hat viele Dialoge und zahlreiche NPCs mit denen man sie führen kann. Dazu kommen eine unüberschaubare Menge an Büchern, die Hintergrundinformationen über die Spielwelt enthalten. Diese sind vollkommen optional, wenn man sie aber alle lesen will, kann sich die Spielzeit locker um mehrere Stunden erhöhen. Dann stehen noch viele NPCs einfach so in der Gegend herum. Sie erfüllen keinen Spielzweck, aber man kann ihre Seelen man aber nach vergangenen Erlebnissen absuchen. In diesem Fall erhält man eine kleine Geschichte, mal mehr, mal weniger interessant, aber immer ohne Einfluss auf das eigentliche Spiel. Ich selbst habe sehr schnell damit aufgehört, diese Seelen zu lesen, weil sie mich einfach nicht interessiert haben, andere Spieler werden das sicher anders sehen. Aber auch wenn man alle optionalen Texte links liegen lässt, wird man viel lesen müssen, denn die Questdialoge wollen gründlich gelesen und verstanden werden und wer dazu nicht bereit ist, sollte besser die Finger von PoE lassen.

 

Das Kampfsystem: taktisch aber nicht fehlerfrei

 

Eines vorweg: ich habe PoE vor den Patches gespielt. Einige meiner Kritikpunkte könnten also schon der Vergangenheit angehören. PoE benutzt das Kampfsystem von Baldurs Gate und Co. Echtzeit, aber jederzeit pausierbar, damit in Ruhe Befehle gegeben werden können, alles per Mausklick und optionale Tastaturshortcuts. Eine „Actionsicht“ wie z. B. in Dragon Age Inquisition gibt es nicht und sie wäre auch fehl am Platz. Man kann im Optionsmenü auch festlegen, ob das Spiel automatisch pausieren soll und wenn ja, unter welchen Umständen. Sehr praktisch. Leider laufen die Kämpfe nicht immer so sauber ab, wie sie sollten.

 

Im Moment hat die eigene Party noch derbe Wegfindungsprobleme und die engen Gänge, in denen viele Kämpfe stattfinden verschlimmern das Problem zusätzlich. Dazu kommt, dass sich viele Gegnerencounter zu ähnlich anfühlen und es zu wenige Feinde gibt, die wirklich eine eigene Taktik erfordern. Da war ein Baldurs Gate 2 viel weiter (ja, ihr levelsaugenden Vampirmistkerle, ich meine euch). Auch das Balancing hat noch viel Luft nach oben. Im early game ist das Spiel teilweise sehr fordernd, sobald man eine vollständige Party hat, wird es deutlich leichter, bis man sich im Endgame durch 95% aller Gegner einfach durchprügelt bis man wieder mal in einen Boss reinrennt, der aus dem Nichts gravierend stärker als alles davor ist. All diese Aussagen gelten übrigens für den normalen Schwierigkeitsgrad. Besonders die Stärke der Party im Endgame führt dazu, dass viele Kämpfe zu langweiliger Fleissarbeit degradiert werden, in denen man immer dieselben Befehle gibt, bis der Gegner endlich umfällt und man seine Leiche ausrauben kann. Die Umgebung lässt sich nicht für den Kampf benutzen. Das hat ein Divinity Original Sin deutlich besser gelöst. Dennoch bleibt das Kampfsystem gelungen, könnte aber besser sein.

 

Dungeons, Items und Crafting

 

PoE bietet einiges an Höhlen, Kerkern, Ruinen oder verlassenen Kellern, die das Heldenherz zum Erforschen einladen. Meistens findet man diese Orte voller Feinde, Fallen und Schätze – wie es sich eben gehört. Leider sind die wenigstens Dungeons wirklich interessant gestaltet. Es gibt zwar oft verschiedene Wege und immer wieder lassen sich Kämpfe umgehen, aber allzu häufig schnetzelt man sich einfach durch Gegnergruppen hindurch, die schnell keine Erfahrungspunkte mehr abwerfen und immer die Gleichen Items hinterlassen. Clevere Puzzles und gute Ideen sucht man meistens vergebens. Das Design dieser Verließe ist nicht schlecht, das ganz sicher nicht, aber es hinterlässt dennoch den schalen Nachgeschmack des verschenkten Potentials. Dies ist besonders deutlich beim optionalen Dungeon unter der eigenen Festung des Hauptcharakters (mit der das Spiel auch sehr stiefmütterlich umgeht). Diese offensichtliche Homage an das legendäre Watchers Keep aus Baldurs Gate 2 besitzt 15 Stockwerke, von denen nicht eines wirklich interessant ist. Es gibt zwar immer wieder kleine Quests oder Scriptevents, aber unter dem Strich räumt man einfach nur 15 Stockwerke lang immer stärker werdende Feinde weg, bis man einem enorm heftigen Boss gegenübersteht, bei dem das Spiel aber einen alternativen Weg der Konfliktlösung bietet.

 

Bei den Items verabschiedet sich PoE von seinen Wurzeln. Das Inventar sieht zwar Baldurs Gate und Co sehr ähnlich (weshalb es auch wunderbar übersichtlich ist), aber die Ausrüstungsregeln unterscheiden sich stark von denen des Vorbildes. Jeder Charakter kann (mit ganz wenigen Ausnahmen) jeden Gegenstand tragen und benutzen. Ein Zauberer mit schwerer Rüstung? Kein Problem. Es zaubert damit eben nur nicht mehr so schnell. Dasselbe gilt für Waffen. Krieger können Zauberstäbe, Magier Morgensterne benutzen. Sicher hängt die Effizienz von der Klasse und den Talenten ab, aber dennoch bleibt für mich das Gefühl einer gewissen Beliebigkeit zurück.

 

Leider besitzt das Spiel auch nicht sonderlich viele wirklich besondere Gegenstände. Legendäre Waffen, die man sich im Laufe des Spiels aus einzelnen Bauteilen wie in Baldurs Gate 2 zusammensetzen musste, fehlen fast komplett und das Crafting hätte man sich auch gleich sparen können. Jeder Gegenstand lässt sich mit einer Reihe immer gleicher Fähigkeiten verstärken. Besondere Rezepte oder einzigartige Craftinggegenstände sucht man vergebens. Dafür kann man immerhin auch Tränke und Spruchrollen herstellen oder sich sein eigenes Essen kochen. Aber auch damit bleibt das Crafting eine Enttäuschung.

 

Die Handlung, viel Klasse und viel verschenktes Potential

 

Die Handlung von PoE beginnt interessant und hat viele gute Ansätze, die sie aber leider nicht gut zu Ende bringt und vor allen Dingen nicht konsequent erzählt. Außerdem merkt man gerade in diesem Aspekt, dass wir 2015 haben und andere, technisch stärkere Spiele einfach mehr Möglichkeiten besitzen, um ihre Geschichten zu erzählen.

 

Gleich zu Beginn der Handlung erhält der Hauptcharakter eher zufällig die Fähigkeit Seelen zu lesen und wird wenig später mit einer großen Krise konfrontiert, die über dem Land liegt: alle Kinder werden seelenlos geboren. Das heißt, sie leben und essen, tun sonst aber nichts. Nun liegt es an uns herauszufinden, was wir mit der Seelenlesefähigkeit anfangen und was es mit diesen Kindern auf sich hat. So gut diese beiden Ideen auch sind, man muss leider feststellen, dass PoE zu wenig aus ihnen macht. Besonders die Konsequenzen, die aus den seelenlos geborenen Kindern folgen müssten, zeigt das Spiel so gut wie gar nicht. Hier hätten andere Spiele mit stärkerer Technik sicher mehr Möglichkeiten, aber PoE macht auch aus seinen Möglichkeiten zu wenig. Zwar reden die NPCs immer wieder über diese Krise und es werden auch politische Entscheidungen dadurch beeinflusst; die wahren Auswirkungen, die eine solch schreckliche Entwicklung haben müsste, werden niemals wirklich ausgeführt. Zwar suchen die Leute nach Schuldigen, dies aber vollkommen inkonsequent, es gibt keine Pogrome und bestenfalls halbherzige Aufstände und man trifft nur selten auf Menschen, die von dieser Tragödie betroffen sind, wodurch die Welt viel von ihrer Glaubwürdigkeit verliert. Das ist unendlich schade.

 

Viel mehr will ich zur Geschichte nicht sagen, um Spoiler zu vermeiden, nur noch so viel: sie ist sehr zerstückelt erzählt. Das ist bei Rollenspielen, die viele Quests besitzen, aus denen eine lange Spielzeit folgt, nicht ungewöhnlich, aber die trockene Erzählweise ohne echte Zwischensequenzen und sehr wenig wirklich erinnernswerten Momenten macht es schwer, der Hauptstory wirklich zu folgen – auch wenn sie nicht sonderlich komplex ist. Auch da nagt der Zahn der Zeit an der Präsentation des Spiels. Natürlich kann man jederzeit alle Geschehnisse nachlesen, aber ist das wirklich der Sinn der Sache?

 

Dafür macht das Spiel eine andere Sache enorm gut: es verlangt häufig Entscheidungen, bei denen Gut und Böse nicht zu erkennen sind. So kann es vorkommen, dass man sich durch einen Dungeon metzelt, um einen finsteren Despoten zu meucheln. Als man ihm aber gegenübersteht gibt dieser uns absolut vernünftige Gründe für seine Taten und rückt gleichzeitig ein schlechtes Licht auf unseren ach so edlen Auftraggeber. Das Spiel stellt sich dabei so geschickt an, dass die Grenzen zwischen Licht und Schatten wirklich verschwimmen und zu einem faszinierenden Grau werden, das zu echtem Kopfzerbrechen führen kann. Leider besitzen die wenigsten dieser Entscheidungen spürbare Auswirkungen. Ein paar Dialoge ändern sich und dabei bleibt es zumeist.

 

Charaktersystem und Begleiter

 

Die Charaktererschaffung von PoE ist ein Traum für Bastler und RPG-Enthusiasten. Während man in anderen Spielen zwischen vielleicht drei Rassen und ebenso vielen Klassen wählen kann, bittet PoE ein riesiges Angebot an Völkern und Klassen. Vom 0815 Menschenkrieger bis hin zu völlig abgefahrenen Gotteskindern ist alles im Angebot. Großartig! Tüftler werden die erste Spielstunde allein in der Charaktergenerierung versenken, wenn das reicht. Als ich mich bei der Erschaffung meines Charakters durch die unzähligen Startfähigkeiten gelesen habe, dachte selbst ich: früher war doch vieles besser, abgesehen von den optischen Möglichkeiten der Charaktergenerierung natürlich, denn die existieren praktisch nicht.

 

Wie es sich für ein Partyrollenspiel gehört, sammelt man im Laufe der Zeit Begleiter auf, die sich dem Hauptcharakter anschließen und sich an seiner Seite ins Abenteuer stürzen. Alternativ kann sich der Spieler für einen geringen Obolus einen Begleiter nach Wahl in jeder Taverne selbst zusammenbauen, aber diese Do-it-yourself-Begleiter bringen natürlich keine Quests oder Dialoge mit. Leider bieten die normalen Begleiter in dieser Hinsicht auch nicht sonderlich viel. Sie unterhalten sich nur selten miteinander und man bekommt nie das Gefühl, dass sie Beziehungen untereinander aufbauen. Das hat z. B. ein Dragon Age Inquisition besser gelöst. Außerdem vergeudet das Spiel auch bei den Begleitern viel Handlungspotential. Fast jeder dieser NPCs bringt eine interessante Hintergrundgeschichte plus eigene Motivation mit, aber leider sind die dazugehörigen Quests durchgängig enttäuschend. Bei einigen Begleitern lösen sich die Quests einfach dadurch, dass man oft genug mit ihnen redet, bei anderen klappert man drei Gebiete ab und verhaut eine Gruppe Feinde. Da wäre so viel mehr möglich gewesen. Dafür sind die Begleiter von ihnen Fähigkeiten her schön schlagkräftig und nicht einer von ihnen ist nutzlos.

 

Das Levelmaximum für alle Charakter ist im Moment 12. Das klingt sehr wenig, aber zum einen dauert es lange, bis ein neues Level erreicht ist (grinden ist nicht möglich) und zum anderen fühlen sich die Levelaufstiege mächtig an und sind es auch. Eine Gegnerhorde, die für eine Level 5 Gruppe unbezwingbar erschien, stellt für eine Level 7 Party oft keine Bedrohung mehr dar.

 

Fazit:

 

PoE ist ein gutes Spiel, oft sogar ein sehr gutes. Es zeigt, dass viele der mehr als 15 Jahre alten Mechaniken von Baldurs Gate und Co auch heute noch gute Spiele hervorbringen können, es zeigt aber auch, dass nicht alle Veränderungen dieser Jahre schlecht waren. Der Umfang ist ordentlich (auch wenn ich die 100h, die hier und da genannt werden für absurd halte) und der technische Zustand war schon vor den Patches für ein Spiel dieser Größe okay und wird sicher noch besser werden. Für Fans der alten Klassiker ist PoE ein Pflichtkauf, die werden es wohl auch schon alle haben, aber auch RPG-Freunde, die Baldurs Gate und Co nicht miterlebt haben, sollten einen Blick riskieren, denn man kann mit PoE wirklich eine Menge Spaß haben. Ich selbst hatte ihn, trotz all der Kritikpunkte, die ich oben genannt habe. Trotzdem halte ich PoE nicht für so gut, wie es gemacht wird. Der Nostalgiebonus, den das Spiel überall gutgeschrieben bekommt, kann nicht alle Schwächen überdecken, unter denen PoE leidet und auf die ich oben eingegangen bin. Dennoch habe ich den Kauf ganz nicht bereut und werde mich irgendwann sicher noch einmal ins Abenteuer stürzen.


Wertung
Pro und Kontra
  • Tolle Charaktergenerierung
  • Mächtiger Umfang
  • Passender Soundtrack
  • Viele Quests
  • Oft interessante Entscheidungen
  • Viele verschiedene Hubs
  • Übersichtliches Inventar
  • Taktisches Kampfsystem
  • Alle Begleiter nützlich
  • Story mit guten Ansätzen
  • Gute englische Sprecher
  • Grafisch völlig veraltet
  • Wegfindungsprobleme in Kämpfen
  • Dungeons ein wenig einfallslos
  • Story verschenk viel Potential
  • Crafting nutzlos
  • Wenige besondere Gegenstände
  • Gegner können nach einer Weile langweilen
  • Balancingprobleme

Zusätzliche Angaben

Schwierigkeitsgrad:

genau richtig

Bugs:

Häufiger, unregelmäßig

Spielzeit:

Mehr als 40, weniger als 100 Stunden



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