Viele Horrorspiele beginnen verstörend. Aber die Eröffnung von Visage ist wirklich eiskalt. Über zwei Minuten müssen wir hier nämlich mitansehen, wie ein gestörter Mann seine gesamte Familie exekutiert. Und das auch noch aus der Egoperspektive - Mannomann.
Die Szene ist wohlgemerkt gänzlich unblutig. Unter die Haut geht vielmehr, mit welcher Lethargie der Kerl die Revolvertrommel befüllt. Wie emotionslos er das geladene Schießeisen in der Luft wiegt. Und wie er dann die an vier Holzstühle gefesselten Familienmitglieder in die Köpfe schießt.
Der starke Tobak endet mit der Selbstrichtung des Typen; mit einem extralauten Kopfschuss durch den Mund. Doch hinter sich hat er es noch lange nicht. Denn kurz darauf erwacht er fragend vor seiner Wohnungstür - und beginnt, die unselige Behausung nach Antworten abzuklopfen.
Wähle, wo du sterben willst
Wir übernehmen die Rolle des wiederauferstandenen (und wehrlosen) Familienmörders und steuern ihn in der Egoperspektive durch ein mal helles, mal stockdunkles Einfamilienhaus. Auf der einen Seite schmeichelt die Bude unseren Augen mit geschmackvollem, teils viktorianischem Interieur. Fast alle Möbel lassen sich öffnen und durchsuchen, manchmal fördert das ein optionales Storyobjekt wie eine staubige Audiokassette zutage. Das ist allerdings mit einiger Mausgymnastik verbunden, weil Schrank- und Zimmertüren wie in Amnesia aufgezogen werden müssen.
Auf der anderen Seite befinden sich in dem zweistöckigen Gebäude auch diese beengend schmalen, leicht schiefen Schauerkorridore, wie wir sie aus P.T. kennen. Und die sind selbst dann unheimlich, wenn im Haus noch alle Lichter brennen. Apropos: Die Lichter löschen (beziehungsweise den Psychotrip starten) wir, indem wir mit einem bedeutungsschwangeren Kapitelobjekt, etwa einer Krücke, interagieren. Es steht uns frei, zuerst in Kapitel eins, zwei oder drei zu sterben. Lediglich der vierte und letzte Spielabschnitt bleibt vorerst gesperrt.
Das eine oder andere Kapitel entlässt uns in kleinere Außenbereiche, darunter ein morbider Kinderspielplatz. Auch machen wir einen ausgedehnten Exkurs in ein scheinbar verlassenes Krankenhaus. Der Dreh- und Angelpunkt des Spiels bleibt dennoch unser trautes Heim; für etwas Abwechslung zuhause sorgen unterschiedliche Zeitlinien, die teils im Stil alter VHS-Aufnahmen präsentiert werden.
Verstand im Keller
Sobald wir im Rahmen eines Kapitels durch unsere Luxushütte laufen, beginnen die Puppen zu tanzen. So sind Schritte vom obligatorischen Dachboden zu hören, es flimmern oder platzen Glühbirnen (die immerhin ausgetauscht werden können), und es knarzt furchteinflößend im Gebälk. Allein solche paranormalen Aktivitäten machen dem »Helden« schwer zu schaffen.
Wann immer im Haus etwas Unerklärliches passiert oder er einfach nur zu lang im Dunkeln steht, nimmt sein Verstand ab. Abhilfe schaffen neben elektrischem Licht Sturmfeuerzeuge und Kerzen, mit denen sparsam umgegangen werden sollte. Transportable Lichtquellen müssen oft nämlich ein ganzes Kapitel lang reichen. Aber: Das langfristige Ressourcenmanagment motiviert.
Wird trotz allem die Psyche der Hauptfigur zu sehr in Mitleidenschaft gezogen, folgt eine Rachegeistattacke. Denn die Bude ist voll von schlechtgelaunten Verblichenen. Die liebe Verwandtschaft? Das erfahren wir später.
Die Sanity-Mechanik trägt viel zur Spannung bei, funktioniert aber nicht einwandfrei. So gibt es bestimmte dunkle Winkel im Haus, wo sich der Verstand unter mysteriösen Umständen regeneriert.
Den Verstand können wir übrigens auch als Person am Rechner verlieren. Wie? Das besorgen die teils abstrakten Puzzles des Spiels, da sie eigentlich nur mit Glück oder mithilfe eines Walkthroughs zu knacken sind. Demgegenüber stehen simple Kombinationsrätsel (Dachbodenluke öffnen, etwas an der Werkbank benutzen), deren Lösung groß und breit auf Zetteln geschrieben steht. Okay.
Unberechenbare Rächer
Eine Hauptgeschichte im eigentlichen Sinne existiert nicht. Stattdessen fügen sich die teils haarsträubenden Schicksale der Verstorbenen zu einem großen Ganzen zusammen. Diese werden sowohl mittels hübsch gerenderten Cutscenes als auch Storyobjekten erzählt. Je nach Abschnitt werden wir etwa von einer schizophrenen Seniorin, einem übel verunglückten Brutalo an Krücken oder einer asiatisch anmutenden Kinderseele gejagt. Jedoch, und das ist sehr gut so, auf recht unterschiedliche Weise.
Bei der alten Dame, Dolores, handelt es sich um so etwas wie ein unberechenbares Hologramm. Sie kann sich über kurze Strecken »teleportieren«, ist mal sichtbar und mal unsichtbar. Das hat zur Folge, dass wir oft nur noch ihr Küchenmesser in unserem Magen spüren. Wenigstens kündet manchmal ein sonderbar bedrückendes Blitzgewitter von ihrer Nähe, und auch die Rücksetzpunkte sind meist fair. Mitunter ist es sogar erlaubt, das Spiel schnell beziehungsweise frei zu speichern.
Anders als Dolores ist Rakan ein recht konventioneller Geist. Er macht wie ein normaler Mensch Jagd auf uns, wirkt aber trotzdem sehr bedrohlich, da er uns gemessen an seinem Handicap - den Krücken - beachtlich schnell vor sich her scheucht. Wer sich von ihm erwischen lässt, bekommt seine Krücken übrigens auf dem ... nein, im Kopf zu spüren.
Die Geister warten blöderweise nicht darauf, dass wir im Dunkeln den Verstand verlieren. Allzu gern beschleunigen sie diesen Vorgang dadurch, dass sie uns in einen Raum sperren, das Licht ausknipsen und uns Gemeinheiten zuflüstern. Au Backe! Dieser ganze Teil von Visage wäre klasse, gäbe es da nicht zwei Probleme. Zum einen zeigen die rastlosen Seelen vereinzelt KI-Schwächen; sie können zum Beispiel an Mauern hängenbleiben oder sich lustig im Kreis drehen. Zum anderen sind die Gesichtsausdrücke sämtlicher Charaktermodelle statisch.
Es geht auch ohne Kojima
Als psychologisches Horrorspiel hat Visage einiges unter der Haube. Die unvorhersehbar agierenden Antagonisten sorgen durch die Bank für eine dicke Gänsehaut, weil sie uns in die Enge drängen und psychisch terrorisieren. Plumpe Jumpscares? Weitgehend Fehlanzeige.
Die finstere Gruselhütte im P.T.-Stil birgt aber nicht nur Positives. So überstrapaziert sie unser Nervenkostüm zuweilen mit kaum nachvollziehbaren Puzzles, und lässt uns überdies nur umständlich mit Objekten interagieren. Wer sich dadurch allerdings nicht stören lässt und auch der Nutzung von Walkthroughs nicht abgeneigt ist, der wird seine 30 Tacken hier gut investiert sehen.
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