Liebe im 21. Jahrhundert: Wie Tinder und Co. unser Dating-Verhalten für immer verändern

Dating ohne App? Heute schwer vorstellbar. Aber wie haben Tinder und Co. unser Dating-Verhalten tatsächlich verändert? Wir haben eine Expertin gefragt.

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Dieser Artikel ist einer davon. Die Redaktion wünscht frohe Feiertage!

Mehr als 75 Milliarden Matches in rund 190 Ländern und über 40 verschiedene Sprachen: Tinder ist heute überall. Seit ihrem Erscheinen 2012 ist die App synonym geworden mit Online-Dating. Tindern schaffte es als Verb 2017 sogar in den Duden.

Dass Tinder und Co. einen Einfluss auf uns und unser Dating-Verhalten haben, steht also außer Frage. Aber wie wirken sich die Apps auf unseren Alltag und unser Liebesleben aus?

Das haben wir Prof. Dr. Wera Aretz gefragt. Sie lehrt Psychologie als Studiendekanin an der Kölner Hochschule Fresenius. Als Expertin auf dem Gebiet des Online-Datings ist sie überzeugt, dass Apps wie Tinder für weitreichende Änderungen unseres Verhaltens gesorgt haben - vor allem beim Prozess des Kennenlernens.

Das Kennenlernen: Schnell, unverbindlich, oberflächlich?

Denn laut Prof. Aretz überlegen wir uns beim Online-Dating sehr genau, was wir von uns preisgeben und was nicht. Um uns von unserer Schokoladenseite zu präsentieren, achten wir penibel auf passende Bilder und Texte in unseren Profilen. Die sind so immer eine Form der Selbstinszenierung, um von Anfang an den gewünschten Eindruck zu machen.

Dabei gibt es durchaus Unterschiede zum analogen Dating in Clubs oder Bars. Denn während wir dort einen vielschichtigen Eindruck von unserem Gegenüber bekommen, achten wir online vor allem auf das Visuelle. Prof. Aretz spricht davon, dass sowohl unsere Darstellung als auch unsere Wahrnehmung kanalreduziert sind.

Als Beispiel für dieses auf die Optik reduzierte Kennenlernen führt sie den Dating-Primus Tinder an: Insbesondere jüngere Leute nehmen sich hier eigentlich überhaupt keine Zeit fürs Dating, sondern entscheiden sich aufgrund der Masse an Profilen und potenziellen Partnern in Sekundenbruchteilen für 'Gutes Profil' oder 'Schlechtes Profil.' Wer auf Tinder Erfolg haben möchte, muss also vom ersten Moment an einen positiven Eindruck schaffen.

Doch Apps wie Tinder unterscheiden sich vom analogen Dating nicht nur durch eine schnellere Einordnung der Profile. Ein Unterschied ergibt sich auch durch die schier unendliche Menge an potenziellen Partnern. Während die Menge von Menschen in einer Bar begrenzt ist, wartet bei Dating-Apps eine offenbar endlose Masse an Dates. Das sorgt für zusätzliche Spannung und gute Chancen, bringt aber auch Probleme mit sich.

Eines dieser Probleme ist der sogenannte “Choice Overload Effekt”. Durch die Menge an Optionen sind wir überfordert und können uns nur noch schwer zwischen den vielen Auswahlmöglichkeiten entscheiden. Gleichzeitig führt das Phänomen aber auch dazu, dass wir mit getroffenen Entscheidungen unzufriedener sind - für den möglichen Beginn einer neuen Beziehung keine gute Grundlage.

Wie stark wir von diesen Effekten betroffen sind, hängt laut Aretz aber wie auch unsere Dating-Erfahrung im Allgemeinen stark von Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Attraktivität ab: Eine 20- bis 30-jährige, attraktive Frau wird beim Online-Dating etwa sehr viele Anfragen bekommen. Da ist es gar nicht so leicht, die vielen Anfragen zu händeln, gerade wenn man die Gegenüber freundlich und respektvoll behandeln möchte. Und oftmals führen diese vielen Anfragen dann auch dazu, dass sich ein oberflächliches Verhalten einschleicht. Sich etwa nicht zurückzumelden oder sozusagen in kürzerer Zeit viele Leute 'abzuarbeiten.'

Gleichzeitig hat Online-Dating aber auch viele Vorteile. So sind wir mit Apps wie Tinder nicht mehr orts- und zeitgebunden. Stattdessen können wir immer und überall neue Leute kennenlernen: Zeit ist in unserer heutigen Zeit eine begrenzte Ressource. Und da ist es sehr schön, Amors Pfeil auch nebenbei abschießen zu können. Auf der anderen Seite ist Online-Dating durch den spezifischen Internet-Kontext deutlich schneller und unverbindlicher.

Bildquelle: Statista, 2020 Bildquelle: Statista, 2020

Ghosting und andere Phänomene

Aber auch nach dem Kennenlernen hinterlassen Tinder und Co. ihre Spuren in unserem Dating-Verhalten. So ist es heute Standard, mit mehreren Personen gleichzeitig über eine Dating-App Kontakt zu halten. Denn wir wollen uns ja nicht direkt mit dem ersten Match festlegen. Aber das parallele Kontakthalten bleibt nicht auf den virtuellen Raum beschränkt. Was früher nicht gängig war, ist heute vergleichsweise normal: Zwei, drei oder sogar vier verschiedene Personen an einem Tag treffen, die man zuvor auf einer Plattform kennengelernt hat.

Dass das Treffen mehrerer Personen heute so normal ist, hat aber nicht nur mit unserer Angst zu tun, sich zu früh festzulegen. Auch Geld spielt eine Rolle. Wer für Online-Dating bezahlt, will laut Prof. Aretz schließlich auch das Meiste herausholen: Ich erlebe das auch bei vielen Nutzer*Innen, die Geld für einen begrenzten Zeitraum ausgeben und für diesen Zeitraum dann auch Gas geben wollen. Die Investition soll sich ja lohnen. Und die Summen, die dabei getätigt werden, sind oft gar nicht so gering.

Bei Tinder fallen die Kosten noch vergleichsweise gering aus. Je nach Alter und Abo-Modell zahlen wir zwischen 4,58 Euro und 16,49 Euro pro Monat. Wer hingegen ein Parship-Premium-Abo über sechs Monate abschließt, landet schon bei rund 480 Euro (etwa 80 Euro im Monat).

Bildquelle: Statista, 2019 Bildquelle: Statista, 2019

Wer beim Online-Dating richtig Gas gibt, kann aber auch richtig frustriert werden. Denn dort fehlen oft unmittelbare, soziale Kontrollen, wie wir sie aus dem analogen Leben kennen. Wer sich offline wie die Axt im Wald verhält, hat mit Konsequenzen aus dem Umfeld zu rechnen. Im Digitalen bekommt aber meistens nur das direkte Gegenüber mit, wie wir uns benehmen.

Ein Phänomen, das durch diese fehlenden Kontrollen ermöglicht wird, ist das Ghosting. Es beschreibt den vollständigen Abbruch von Kontakt und Kommunikation ohne vorherige Warnung. Wer uns vorher tagelang geschrieben hat, antwortet plötzlich nicht mehr oder hat uns sogar blockiert. Und wo wir zuvor eine zwischenmenschliche Beziehung fanden, wartet plötzlich nur noch ein ewig eingefrorener Chatverlauf.

Solche negativen Erfahrungen können dazu führen, dass einige die Lust am Online-Dating vollständig verlieren und sich für eine Phase der Abstinenz entscheiden, [...] um sich davon zu erholen und neuen Spaß am Dating zu entwickeln. Man spricht von Dating Fatigue oder Dating Burnout.

Laut Prof. Aretz hat der Ruf des Online-Datings auch deshalb in den letzten Jahren gelitten. Aber auch die Berichterstattung von Tinder als App für den Seitensprung hat dazu beigetragen: Dazu kommt, dass lange Zeit immer wieder auch in den Medien formuliert wurde, dass Tinder eine Fremdgeh-App ist, wo man kurzen, unverbindlichen Sex oder Spaß haben kann.

Ein Bild, das sich durch Studien jedoch nicht belegen lässt. Denn wie Prof. Aretz verrät, suchen die meisten Nutzer beim Online-Dating laut eigener Aussage die Liebe des Lebens - auch wenn man kurzfristigen Freuden auf dem Weg dorthin oft nicht abgeneigt ist.

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