Zur Debatte über Wertungen - Warum wir Brink hassen

Weltweit gehen die Wertungen für Brink weit auseinander, sie reichen von Abscheu bis Euphorie. Wer hat recht, wer unrecht? Das ist die falsche Frage, meint Christian Schmidt, und wünscht sich einen entspannteren Blick auf Spieletests.

Die GameStar-Wertung für Brinkist falsch. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen:

  • Komplexe, objective-basierte Multiplayer-Spiele will bei GS einfach niemand sehen. Alles, was über Conquest oder Rush hinausgeht, scheint die Redaktion massiv zu überfordern.
  • Das Wertungssystem lässt viel zuviel Willkür zu. Bei Brink heben wir künstlich und offensichtlich den »Anspruch«, aber bei vertrauten »Blockbuster«-Nachfolgern werden die Ansprüche derbst weit gesenkt und völlig willkürliche Kriterien positiv hervorgehoben.
  • Man kann sich bei der Gamestar nicht nur positive Tests kaufen, sondern auch dafür bezahlen, dass andere Spiele negative Bewertungen bekommen.
  • Wir sind verrückt.

Diese Erklärungen stammen aus den User-Kommentaren zu unserem Brink-Test. Man ist versucht, sie nicht ernst zu nehmen. Aber das wäre ein Fehler. Diesen Usern ist es bitter ernst. Zwischen ihrer eigenen Empfindung des Spiels und unserer liegen solche Welten, dass eine normale Meinungsfluktuation als Erklärung ausscheidet. Es bleiben nur Inkompetenz, Willkür oder Schiebung.

Bastion der Wahrheit

Die Reaktionen sind symptomatisch dafür, mit welcher Herausforderung professionelle Kritik ringt – wohl schon immer rang, aber im schnellen, offenen Internet wird der Zustand transparenter. Sie erreicht ein Publikum, das sich aus eigener Anschauung eine Meinung gebildet hat. Wenn die beiden Interpretationen nicht zusammenpassen, knirscht es und funkt. Einer muss unrecht haben.

Christian Schmidt arbeitet in der Bastion der Wahrheit. Christian Schmidt arbeitet in der Bastion der Wahrheit.

Die Spielekritik, das muss eingestanden werden, lädt in besonderem Maß zu Widerspruch ein. Wie kaum ein anderes Feld sucht sie nach objektiven Kriterien für einen subjektiven Gegenstand, eine Art Stiftung Warentest des Games-Geschmacks: Spielspaß nach Checkliste. Das kommt nicht grundlos, denn mehr als andere Formen der Medienkritik muss sie auf technische Aspekte eingehen: Läuft das Spiel überhaupt, und wie gut? Die Frage stellt sich bei Kinofilmen oder Gemälden nur selten.

GameStar, die Spielspaß in Hundertsteln misst und in Kategorien stückelt, gehört zweifellos zur Speerspitze dieser technokratischen Betrachtungsweise. Das schadet dem qualifiziertem Urteil nicht, es macht es – finden wir – sogar transparenter. Aber wer durch dieses Zahlenwerk den Eindruck eines letztgültigen »So und nicht anders!« vermittelt, der muss damit rechnen, dass seine Bastion von Andersdenkenden besonders scharf beschossen wird.

Lob dem Abwägen

Dabei ist es ein Missverständnis, dass ein Wertungssystem wie das von GameStar besonders objektiv wäre. Wenn es etwas objektiviert, dann die Subjektivität des Testers. Es macht die Gedanken, die zahlreichen Fürs und Widers sichtbar, aus denen sein Urteil gereift ist. Es ist ein Protokoll des Abwägens.

Seine Kleinteiligkeit dient der Vergleichbarkeit. Wie beurteilen wir Dragon Age 2, wie das ähnliche The Witcher 2? Wo sehen wir gemeinsame Qualitäten, wo spezifische Stärken oder Schwächen? Dass daraus auch Diskrepanzen offenbar werden, ist kein Beleg der Schwäche des transparenten Systems, sondern seiner Stärke.

Das Wichtigste aber ist, dass professionelle Spielekritik – gerade weil sie sich so sehr, so angestrengt um die Begründung ihrer Urteile bemüht – nichts anderes darstellt als den Versuch einer Differenzierung; also gerade nicht die Suche nach der absoluten Wahrheit, sondern nach dem »einerseits, andererseits«, nach den Körnchen fürs Töpfchen und denen fürs Kröpfchen. Was als Wertungsnote unter einem langen Text steht, ist ein Destillat aus Abwägungen über Stärken und Schwächen. So wie die Note 3 auf einem Schulaufsatz bedeutet, dass in ihm manch Richtiges, aber auch manches Falsches steht, so bedeuten 77 von 100 GameStar-Punkte für Brink, dass dieses Spiel in vieler Hinsicht sehr gut funktioniert, aber an einigen Stellen nicht.

77? Spinnt ihr?!

Dieses Gespür für die Nuancen, das eine sorgfältige Spielekritik auszeichnet, geht in der Debatte darüber oft verloren. Dort dominieren die Extreme. Eine Wertung wie die zu Brink setzt sich zwischen die Stühle: Den Fans des Spiels ist sie zu niedrig, den Unzufriedenen zu hoch. Beide geben das ungeschminkt zu Protokoll. Die Toleranz für Gegenpositionen ist gering.

Dabei gibt es bezeichnenderweise nur selten Debatten um die Tatsachen. Dass Brink unter technischen Problemen und einer schwachen KI leidet, wird von kaum jemandem bestritten. Im Mittelpunkt steht die Interpretation. Was nimmt man als Stärke wahr und was als Schwäche? Was definiert den Spielspaß, was berührt ihn nur am Rande? Ab wann wird ein Spiel (zu) schwierig, (zu) verbuggt oder (zu) hässlich? Welche enormen Gräben die selektive Wahrnehmung aufreißen kann, auch das lässt sich an den Kommentaren zum Brink-Test ablesen:

  • Gemeinhin gilt es als Grundanspruch an Hersteller, dass er ein fehlerfreies Produkt veröffentlicht. Wenn das nicht passiert, kann der Aufschrei enorm sein, etwa bei Grand Theft Auto 4, wo viele Spieler eine Pauschalwertung von 0 Punkten (»unspielbar«) forderten. Aber die Perspektive kann auch völlig anders ausfallen: »Wie man sieht, ist der Support von Splash Damage wieder einmal spitze. Auch wenn es am Anfang bei einigen Leuten nicht so gut lief, sie hauen einfach einen Patch nach ein paar Tagen raus, der die meisten Probleme behebt. Das gibt es wirklich nicht bei vielen Entwicklern.«
  • Der Vergleich mit den Wertungen anderer Magazine, vor allem zusammengefasst auf Seiten wie metacritic.com und gamerankings.com, ist ein gern zitierter Maßstab; Abweichungen von der Vernunft der Masse dienen als Beleg für eine Fehlwertung. Dieser Standard ist ebenso leicht verworfen: »Zur Metacritic-Wertung: Bei der PC-Version sind gerade einmal zehn(!) Reviews einberechnet, und zum anderen ist Metacritic sowieso für den Allerwertesten, da jedes Mag andere Standards hat.«
  • Der Geschmack der Mehrheit ist eine sehr flexible Nutzlast für die eigene Position. Einerseits hat die Masse recht: »Die [Brink-]Wertung ist nicht gerechtfertigt, wenn man auf 11 von 13 Kommentarseiten lesen kann, wie das Spiel beim Spieler ankommt.« Andererseits hat die Mehrheit keine Ahnung: »Der Test der GameStar spiegelt einfach den Massengeschmack wieder. Alles, was nicht CallOfDoody oder Battlefield ist, darf, kann und ist nicht gut.«

Sehnsucht nach Einigkeit

Keine Frage, die Beispiele sind Einzelmeinungen. Genau deshalb taugen sie so gut als Beleg dafür, welche Bandbreite der Perspektiven man auf ein- und dieselbe Sache haben kann. Die Frage, wer recht hat und wer unrecht, wird angesichts dieses Meinungsspektrums klein und nebulös.

Vielleicht gibt es deshalb eine so große Sehnsucht nach Bestätigung, vielleicht suchen gerade darum so viele Leute in Spieletests nach einer Bekräftigung ihrer eigenen Ansicht. Es ist das Affirmationsprinzip: Wer meiner Meinung ist, spricht gut und wahr. Wer anders denkt, hat keine Ahnung, lügt oder spinnt. Die Diskussion in dieser Weise aufs Wahr oder Falsch zu verengen heißt nicht nur, sich der Möglichkeit zu berauben, seine Verständnis zu erweitern. Es blendet auch aus, dass die eigene Meinung nur ein Stern an einem bunt gesprenkelten Himmel ist.

»Zwischen ihrer eigenen Empfindung des Spiels und unserer liegen Welten«, schrieb ich oben über die erzürnten Kommentatoren. Aber das stimmt nicht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass wir in sehr vielen Punkten unseres Urteils übereinstimmen. Aber die wenigen Unterschiede in der Wahrnehmung werden zu einer Größe aufgeblasen, die jede Sicht nimmt.

Wäre es nicht sinnvoll, dieses Verhältnis umzudrehen: Der Gemeinsamkeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Unterschied? Man könnte das zur Maxime nicht nur für die Meinung über Spiele machen, die, bei allem Respekt vor unserem Hobby, doch vergleichsweise unwichtig sind.

In diesem Sinne sollen das letzte Wort, wie schon das erste, die Kommentare zum Brink-Test haben:

»Wie es aussieht, scheiden sich an dem Spiel wirklich die Geister. Brink dürfte also wirklich sehr stark vom eigenen Geschmack abhängen. Wie ja eigentlich jedes Spiel, nur hier ist das wohl besonders ausgeprägt.«

So einfach kann man das auf den Punkt bringen.

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