Stilvorbild Bioshock
»Renaissance«, sagt Jonathan Jacques-Belletête. »Die Renaissance war die erste Kulturepoche der Neuzeit, die sich intensiv mit der Natur beschäftigte.« Jacques-Belletête hat Abbildungen dabei: die Proportionsstudie von Leonardo da Vinci, die David-Statue von Michelangelo. Renaissance heißt »Wiedergeburt« auf französisch, gemeint ist die Rückkehr klassisch antiker Tugenden in der Wissenschaft und Kunst. Das Mittelalter ging zu Ende, man forschte wieder. »Die Renaissance versuchte, die Natur zu verstehen«, erklärt Jacques-Belletête. »In der Zukunft von Deus Ex versucht die Menschheit, die Natur
zu überwinden.« Jacques-Belletête gefällt diese Parallelität. Er ist der Chef-Grafiker im Team. Das erste Deus Ex, findet er, lag mit seiner Vision vom Look der Zukunft ziemlich daneben: »Mein Handy sieht futuristischer aus als die klobigen Telefone in Deus Ex.« Ihn hat Bioshock beeindruckt wegen dessen mutiger Ästhetik, einer Hommage an das elegant-verspielte Art Déco der 1930er-Jahre. »Ungewöhnliches Design weckt Neugierde«, sagt Jonathan Jacques-Belletête. »Schau dir das iPhone an.« Er zeigt Bilder aus Unreal Tournament 3, Ghost Recon 2, Frontlines: »Sehen alle aus, als seien sie aus dem gleichen Spiel.« Deus Ex 3 soll sich nicht einreihen. Deshalb hat Jacques-Belletête beschlossen, den rauen Stil des zukunftspessimistischen Cyberpunk mit der leuchtenden Detailtreue der Renaissance zu verschmelzen. Der Grundriss des Petersdoms in Rom, ein schwarzweißes Kaleidoskop ziselierter Kanten, dient als Inspiration für die Linienführung majestätischer Türrahmen. Reiche Bezirke sind in dezente Goldfarben getaucht wie Bilder Raffaels, in heruntergekommenen Gebieten dominiert das Schwarz von Cyberpunk-Ikonen wie Blade Runner. Für die Kleidung der Menschen verpassen Jacques-Belletêtes Grafiker antiken Hochkragen, Schnürkleidern oder Puffärmeln futuristische Schnitte und erschaffen so Zukunfts-Kreationen, die seltsam vertraut wirken.
Leonardo auf Glas
Jonathan Jacques-Belletête kann sehr hintergründig lächeln, er passt perfekt zu diesem Spiel. Seine Haut ist mit Tätowierungen übersät. Man möchte unweigerlich näher hinschauen, Tattoos stehen immer für etwas, man kann im Muster der Linien nach Bedeutung suchen. So stellen sich Jacques-Belletête und Jean-François Dugas diese Zukunft vor, die nur 20 Jahre entfernt ist. Wiedererkennbar. Nah. Aber das Vertraute ist anders, verschoben.
Jacques-Belletête lässt sein Team Parkuhren entwerfen, Computerbildschirme, Alltagsgegenstände. Ramsch eigentlich, aber Bindeglieder in die Gegenwart, wie wir sie kennen. Und dann sind da Orte wie die Implantationsklinik, ein freundlich-heller Raum voll spinnenartiger Roboterarme, die dem Menschen auf dem Operationstisch Metallstücke in den Körper schieben. Am Ende wird es ihm möglich sein, die Finger kranzförmig abzuspreizen und nach hinten umzubiegen. Man kann die Bilder schwer anschauen, ohne an Verstümmelungen denken zu müssen, es ist kein angenehmes Gefühl. Es ist die Zukunft in Deus Ex 3. Im glasschimmernden Wartezimmer der Klinik hängen Profilskizzen der menschlichen Anatomie, und auf einmal ist man wieder bei Leonardo da Vinci.
Auf dem spiegelnden Kunststoffboden stehen dicke Fauteuils, alte Ledersessel. Die Verbindung wirkt natürlich, man muss zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass hier Epochen aufeinanderprallen. In einer Welt, die von Verschwörungen durchwuchert ist, spiegelt sich das Zweideutige auch in der Gestaltung, alles steckt voller Symbolik. Schon das erste Deus Ex war reich an Querverweisen nah an der Wahrnehmungsschwelle. Auf Dädalus und Ikarus zu kommen, dürfte für Jean-François Dugas und sein Team nicht sehr schwer gewesen sein: Im ersten Deus Ex sind Vater und Sohn zwei Computer-Intelligenzen.
Ein Ausflug
Auf der Leinwand erscheint ein Probelevel aus dem Spiel, die Version ist noch früh, sie läuft auf einer Xbox 360. Wir bewegen uns in der Ego-Perspektive durch einen Labortrakt mit kühlen, klaren Räumen, deren kontrastreicher Stil wie eine Mischung aus Star Trek und Team Fortress 2 anmutet. Auf Labortischen reihen sich Instrumente aneinander, ein Roboterarm wühlt leise surrend in einem riesigen Tankzylinder. Jeder Arbeitsplatz sieht anders aus, alles scheint Zweck und Ordnung zu haben. Kein Interface verdeckt die Ansicht, denn wir haben keine Augenimplantate. Ohne die, sagt Jean-François Dugas, wird es keine Anzeigen geben. Wir steigen eine Stahltreppe hinauf auf eine Galerie und betreten ein Aufseherbüro – ein Schritt wie in die Gediegenheit vergangener Zeiten. Qualmschwaden treiben durch den getäfelten Raum, auf dem dicken Teppich steht ein dunkler Ledersessel vor dem schweren Holzschreibtisch, Bücher überall, ein Standglobus. Nur im goldenen Lüster stecken Leuchtstoffröhren wie zur Erinnerung daran, dass wir uns immer noch in der Zukunft befinden.
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