Torment: Tides of Numenera hat hohe erzählerische Ansprüche - und überraschend absurde Methoden, sie zu erreichen. Jeder Charakter soll seine eigene Stimme und Persönlichkeit haben? Was gäbe es dafür besseres, als minutiös Buch zu führen, mit welchen Namen die Figuren ihre Geschlechtsteile bedenken?
»Wir nennen es das Genital Naming System«, erklärt uns Chefentwickler Colin McComb auf einem Anspiel-Event mit ernster Miene. »Das gibt uns sofort ein Fenster in ihre Persönlichkeit.« Jemand, der von seinem »wettergegerbten Schwengel« erzähle, sei schließlich ein ganz anderer Typ als einer, der sein bestes Stück den »Hochzeitswedel« oder einfach seinen »geilen Schwanz« nenne.
Was übrigens nicht heißt, dass die Figuren im Spiel pausenlos über Geschlechtsorgane brabbeln. Die Entwickler führen diese Datenbank im Hintergrund, um sich über die Persönlichkeit der Figuren klar zu werden, selbst wenn die entsprechenden Worte im Spiel niemals fallen. Klingt irgendwie dubios? Zweifellos. Aber es funktioniert!
Eine Welt wie keine andere
Torment ist tatsächlich eins dieser Rollenspiele, in denen wir uns auf jeden einzelnen Dialog freuen. Die Welt steckt voller faszinierender Gesprächspartner und Ideen. Unsere Vorabversion führt uns etwa in eine Stadt mitten in den Eingeweiden eines riesigen interdimensionalen Monsters. Seine zahllosen Mäuler führen in alle erdenklichen Welten und Zeitalter - aber sie öffnen sich erst, wenn man ihnen den richtigen Menschen zum Fraß vorwirft.
Wir könnten also auf dem eigens hierfür eingerichteten Sklavenmarkt nach einem passenden Opfer suchen. Oder einen trunkenen Söldner, den das Monster augenscheinlich schmackhaft findet, zum Selbstmord überreden. Oder uns gar selber hineinschmeißen! Den automatischen Tod muss das Selbstopfer nämlich nicht bedeuten.
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Einmal treffen wir einen freudigen Fremdenführer, der schon dreimal gefressen wurde und jedes Mal ein Stück von sich verloren hat - seine Beine, etwa. Oder seine Fähigkeit, Furcht zu spüren. Was würde uns der Sprung wohl kosten? Torment präsentiert eine herrlich fremdartige und ganz eigene Welt und nutzt sie als Leinwand für enorme spielerische Entscheidungsfreiheit.
Das Spiel weiß alles
Was wir so treiben, wirkt sich auf unsere »Gezeiten« aus, fünf mystische Strömungen, die unsere Gesinnung reflektieren. Wer Wissen über alles stellt, dessen dominante Gezeit wird die blaue sein. Indigo dagegen steht für Figuren, die sich vom höheren Wohl der Gemeinschaft leiten lassen. Torment will damit aber nicht über uns urteilen, die Gezeiten sind keine simple Gut-Böse-Unterteilung. Sie alle umfassen gute Taten genauso wie das Potenzial für grausige Verbrechen.
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Besonders diabolisch: Das Spiel setzt unsere Gezeitenorientierung gegen uns ein! Autor Gavin Jurgens-Fyhrie gibt uns ein Beispiel: Ein Mann, der Waisenkinder von der Straße schnappt und für wissenschaftliche Experimente aufschneidet, würde an einen Spieler mit dominanter blauer Gezeit anders appellieren als an goldene Spieler.
»Denkt an doch die Erkenntnisse, die ich daraus ziehen kann!«, würde er von Wissenschaftler zu Wissenschaftler sagen. Einem Jünger der Indigo-Gezeit würde er eine andere Rechtfertigung auftischen. Jetzt ein paar Kinder abmurksen, um später tausende Leben zu retten, ist im Grunde eine gute Tat. Das verstehen wir doch bestimmt, oder?
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Das Spiel versucht also, anhand unserer Gezeiten zu bestimmen, welches Argument uns wohl am ehesten überzeugen könnte, und nimmt uns damit gnadenlos unter Feuer. Eine geniale Idee! McComb vermisst Rollenspiele, die den Spieler zum tieferen Nachdenken herausfordern: »Kaum ein Spiel verlangt von mir noch, über mein Leben und meinen Einfluss auf andere nachzudenken.«
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Deswegen will Tides of Numenera - genau wie seinerzeit Planescape Torment - mehr tun als einfach zu unterhalten. »Ich will, dass Spieler sich selbst hinterher besser verstehen. Wenn ich etwas zu ihrem Leben beitragen kann, dann soll es etwas Positives sein - nicht einfach nur ein bisschen Spaß, das man schnell wieder vergisst. Dann haben wir versagt.«
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