Ich mag ein VR-Enthusiast sein, doch auch bei mir wachsen gelegentlich Zweifel an der Massenmarkttauglichkeit dieser Noch-Nischensparte des Gaming. Da ich weder Marktanalyst bin noch im Vertrieb solcher Geräte arbeite, ist meine Expertise in Sachen Verkaufsargumentation begrenzt, doch meine eigenen Erwartungen wie auch meine Erfahrungen bei klassischen Videospielen festigen die Überzeugung, dass der Umgang mit diesen Geräten unkomplizierter werden muss, wenn sie Otto Normalverbraucher erreichen sollen.
So wie Handys der Durchbruch gelang, als man bei einer Anschaffung nicht mehr das Gefühl hatte, eine halbe Telefonzelle mit sich herumzutragen, könnten VR-Headsets womöglich den Sprung schaffen, wenn sie so klein und praktisch werden, dass sie eine Sonnenbrille gleich in einer Tasche verschwinden. Sie müssen Alltagsgegenstände sein. Mehr praktische Anwendungsgebiete, die das Metaverse eines Tages bringen könnte, würden sicher auch nicht schaden.
Dass ich mit meiner Einschätzung nicht völlig danebenliege, zeigten mir enthusiastische Vertreter von HTC bei einer Präsentation des neuen HTC Vive XR Elite Headsets in Berlin. Zugegeben, das Gerät bringt noch immer ein ganzes Stück mehr Plastik auf die Waage als eine Sonnenbrille. Trotzdem lässt sich der Trend zu einer schlankeren und leichteren Hardware nicht leugnen.
Schon Ende letztes Jahr stellte Meta mit der Quest Pro ein ähnlich formschönes Modell vor, nur ist HTCs Ansatz noch schlanker. Währenddessen winkt am Horizont schon das Modell Beyond von Bigscreen, das zwar nur in Verbindung mit einem PC funktioniert, aber angeblich unter 200 Gramm Gewicht bleibt.
Vom Nerd-Spielzeug zum Tech-Gadget
HTCs neuestes Vive-Design soll beides sein: Sowohl ein autonomes VR-Vergnügen, das dank seines Qualcomm Snapdragon XR2 Chips allen modernen Standalone-Apps gewachsen ist, als auch ein PCVR-Headset, das verkabelt wie auch über W-Lan funktioniert. Nach 75 Minuten intensiven Ausprobierens komme ich zum Schluss, dass es trotz kleinerer Kritikpunkte in beiden Segmenten neue Maßstäbe setzen könnte.
Ausschlaggebend für diesen Eindruck ist allein seine Handlichkeit. Wenn man die Seitenblende abnimmt, wirkt Vive XR Elite nicht wie eines der bislang typisches VR-Headsets, deren Formfaktor einem Baustellenhelm gleichkommt, sondern eher wie eine etwas dickere Variante dieser albernen LED-Brillen, die manche Leute in Discos tragen. Auf der Nase ruht kein Nerd-Spielzeug, sondern ein modernes Tech-Gadget, dem höchstens noch ein gewisser Schliff im Style fehlt, um Straßentauglich zu sein.
Tatsächlich wirkt selbst der Akku, der ähnlich wie beim Pico 4 hinten am Kopfbandverschluss liegt, massiver als das eigentliche Gerät. Entfernt man den Energiespender – was nicht mehr als zwei Handgriffe am Gestell in Anspruch nimmt – rückt der Sonnenbrillen-Formfaktor in greifbare Nähe und das Gewicht auf dem Kopf schrumpft von 625 Gramm auf rund die Hälfte.
Zugegeben, ohne den großen Akku hält die Brille nicht lange durch. Eine kleine Übergangs-Batterie in der Front ermöglicht lediglich einen fliegenden Wechsel während des laufenden Betriebs. Es sei denn man schließt alternativ ein USB-Kabel an, das über eine externe Quelle mindestens 18 Watt liefert. Sicher nicht ideal, weil man in dem Fall Gewicht gegen begrenzte Reichweite eintauscht. Trotzdem geht HTC meiner Meinung nach in die richtige Richtung. Wenn es um Alltagstauglichkeit geht, kommen wir dem Film Ready Player One ein ganzes Stück näher.
Live und in Farbe
Wobei der Film nur die virtuelle Realität thematisiert. HTC Vive XR Elite soll dagegen auch für Mixed-Reality-Anwendungen attraktiv sein. Etwa durch seinen farbigen Passthrough-Modus. Der wirkte zwar nicht übermäßig scharf, aber tauglich genug für eine unangestrengte Orientierung im Raum.
Sogar so gut, dass ich im Mixed-Reality-Bullet-Hell-Ballerspiel Yuki eine kleine Spielfigur auf dem Controller durch gigantische Kugelhagel-Formationen dirigieren konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, irgendwo anzustoßen oder andere Anzeichen von Desorientierung zu zeigen.
Probleme gab es wenn überhaupt nur außerhalb dieses Spiels, denn seltsamerweise kämpfte der Passthrough-Modus zum Zeitpunkt meiner Pressevorführung noch mit Bildverzerrungen, wenn beide Controller in Sicht kamen. Auch das Hand-Tracking, das ich im Rahmen des Dirigenten-Spiels Maestro ausprobieren durfte, funktionierte nicht zu jedem Zeitpunkt reibungslos. Man versprach mir, das solle sich bis zur Veröffentlichung noch bessern.
Ein endgültiger Eindruck war sowieso noch nicht möglich, da der integrierte Tiefen-Sensor, der das Passthrough-Bild plastischer macht und das Erfassen der Steuerung erleichtert, noch nicht aktiv war. Er soll aus technischen Gründen erst im Zeitraum der Veröffentlichung Verwendung finden. So zumindest die offizielle Aussage seitens der Entwickler.
Viel Zeit zum Kanten schleifen bleibt nicht. Schon im März soll das Gerät in den Ladenregalen liegen. Da meine Erfahrungen mit den üblichen VR-Spielen, die ich ausprobieren konnte, anderweitig durchweg positiv und angenehm war, gehe ich davon aus, dass die Entwickler ihre Versprechen einhalten.
Der Preis der Privatsphäre
Besser wäre es angesichts des nicht gerade massenmarkttauglichen Preises von 1399 Euro, denn bei den zukunftsorientieren Features klaffen auch so noch einige Lücken.
Augen-Tracking? Fehlt, soll aber nachgerüstet werden können. Kontraststarke OLED-Bildschirme? Auch nicht vorhanden. Es bleibt bei LCD-Panels, die mit einer Auflösung von 1920 x 1920 Pixeln je Auge keineswegs an Pico 4 herankommen. Was nicht heißt, dass sie große Mängel zeigen würden. Sie sind allemal hoch genug aufgelöst, um einen Screen-Door-Effekt zu vermeiden.
Was ist ein Screen-Door-Effekt? Bei älteren Headsets mit niedriger Auflösung waren die Pixel des Bildschirms aufgrund der Nähe zu den Augen klar zu erkennen. Aber nicht nur die Pixel selbst, sondern auch die Lücken zwischen ihnen. Dadurch wirkte die Punktmatrix wie ein störendes Fliegengitter vor der virtuellen Realität. Dieser sogenannte Screen-Door-Effekt wird bei modernen Headsets durch eine höhere Auflösung und besonders geringe Pixelabstände vermieden. |
Man kann eben nicht alles haben. Irgendwo gibt es immer Einschnitte, und so erklärte man mir, dass das formschöne Gerät auf seinen Preis kommt, weil HTC keine Userdaten verwertet, so wie die Konkurrenten Meta und ByteDance es zu tun pflegen. Dementsprechend gäbe es keine Gegenfinanzierung durch die Hintertür.
Ist das lobenswert? Na klar! Kann man das potenziellen Kunden, die im Media Markt das Zwiebelleder ihres Portemonnaies quietschen hören, als Kaufargument vermitteln? Wohl kaum! Darum muss HTCs Technik in jeder Hinsicht wasserdichte Überzeugungsarbeit leisten. VR ist schließlich noch immer ein Nischenmarkt und sein Prosumer-Anteil sogar noch kleiner.
Eine Brille in der Brille
Immerhin: gewisse Fortschritte, die sowohl komfortabel als auch auf lange Sicht konstengünstig ausfallen, lassen sich nicht abstreiten. So kam mir die 3D-Ansicht beispielsweise ein wenig schärfer vor als bei Pico 4, weil HTC von vornherein Brillenträger ins Konzept einschließt. Vor den verbauten Pancake-Linsen liegen nämlich Drehregler für eine Linsenschärfung.
Eine stufenweise einrastende Sehhilfe bis zu -6 Dioptrien darf für jedes Auge einzeln eingestellt werden. Nicht, dass ich im Alltag eine Brille bräuchte, aber meine leichte Sehschwäche ließ sich damit wunderbar kompensieren. Mitsamt einem gut erreichbaren analogen Regler für den Augenabstand definiert HTC dadurch einen neuen Richtwert für Benutzerkomfort.
Ohne Übertreibung: Aufgrund der genannten Vorteile sitzt HTC Vive XR Elite so bequem wie bislang kein anderes VR-Headset und liefert sofortige Immersion ohne ein Gefühl von Anstrengung oder Belastung. Einzig beim Sichtfeld fühlte ich mich angesichts jüngster Erfahrungen mit den großzügigen Panels von Pico 4 ein wenig Eingeschränkt, denn während die Horizontale mit 110 Grad ein angenehm weites Panorama offerierte, wirkte die vertikale Sicht ein wenig eng. Ein altes Leid bei den HTC-Headsets, das auch dieses Modell nicht heilt. Ich bin schon gespannt, ob der anderweitig gute Eindruck beim Test der finalen Hardware so positiv bleibt.
Welche Hürde müssen VR-Headsets bei euch nehmen, um attraktiver zu werden? Und wäre euch ein solches Gerät mehr als 1000 Euro wert, wenn im Ausgleich dafür keine Nutzerdaten verwertet würden?
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